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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 51 (Februar 1911)
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Döblin, Alfred: Musik nebst Schimpfworten
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Adler, Joseph: Vom Tage
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Lichtenstein, Alfred: Siegfried Simon
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0414

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in Musik. Dann am Mittwoch das Böhmische Streich-
quartett. Die vertrieben mich mit dem unent-
wegten oben genannten Klassiker. In alle Poren drang
mir die Süsse ihres Tones, der in einem unaufhörlichen
Gesang aus ihren Instrumenten brach. Aber wenn
ich die unbeschreibliche Stimme fragte: „Was willst
Du?“, dann wandten sich mir zwei leere Blauaugen zu.

Alfred Döblin

Vom Tage

Repräsentanten der Menschheit

Einmal hat die Tagespresse Roda-Roda sehr ernst
genommen. Damals, ais er sich einen in das Gewand
der Wahrheit gekleideten Fastnachtsscherz mit ihr er-
laubte. Er zeigte ihr an, dass er sich mit einer
adeligen Dame in freier Ehe verbunden habe. Die Presse
nahm diese Anzeige mit Staunen auf und gab sie, der
allgemein gelittenen Gesellschaftsmoral zum Trotz, vor-
behaltlos wieder von sich. Doch das Schwert des
Mutigen schlenkerte um der Lüge Beine nicht Iänger,
als sie kurz waren Nur das Berliner Tageblatt
glaubt noch fest an jene Rodasche Tat. In einer
feuilletonistischen Anregung (aber durchaus keinem an-
regendem Feuilleton) zur Verbesserung unserer Familien-
nachrichten, würdigt man sie in einer Weise, die ihm
nicht vergessen werden soll.

„Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Wenn erst ein ministerieller Ukas die An-
kiindigung dieser Dinge (aller Familiennach-
richten) zur Pflicht macht, dann werden die
Leute nicht mehr Je Nase rümpfen über eine
Anzeige, in der zwei Menschen kund und zu
wissen tun, dass sie sich in „freier Ehe ver-
bunden“ haben. Der Schriftsteller, der vor
Iängerer Zeit diese Anzeige veröffentlichte,
erntete damals viel Spott und Hohn. Der
einzelne vermag eben nichts. Gegen den
Strom kann man nicht schwimmen. Was
nicht Sitte ist, das wird verachtet. Die
Menschen wünschen nicht, dass jemand etwas
anderes macht, als sie selber. Von Galilei
und Wagner bis zu jenem Verkünder der
freien Liebe ist noch jeder kühne Neuerer
von der Geseilschaft zunächst einmal verachtet
worden.“

Bade, Schüler, unverdrossen die ird’sche Brust im
ersten Morgenrot der Familiennachrichtenrenaissance.

Ein seltsamer Fall

Die „Schmetterlingsschlacht“ ist ein schlechtes Stück.
Es wird nur noch von Bühnen aufgeführt, die das
Volk, erziehen und bilden wollen, dessen unstill-
barer Hunger nach Kunst in raffinierter
Weise grossgepäppelt wird.

Und doch soll die „Scnmetterlingsschiacht“ noch
besser sein als manches neue Theaterstück, das gestern
oder vorgestern erstmalig aufgeführt, den vollen Beifall
der Kritik und des Publikums fand.

„Vieles in der Komödie zeigt noch ganz
frische Farbe. Der famose Berliner Handlungs-
reisende Kessler ist mit seinem schnoddrigen
Ton eine vorzügliche Figur, die vielen Pointen
des Dialogs schlagen stets richtig ins Publikum
ein, und man mag glauben, dass die Komödie
bei einer wirklich flotten und temperament-
vollen Darstellung den grössten Teil der
heutigen Konkurrenz mit Leichtig-
keit aus dem Felde schlagen würde.“

Ist hier für Ullstein ein Kommis an der Arbeit --
oder ein enfant terrible?

Grosse Reklame eines „Kleinen Theaters“

Direktor Barnowsky wird als nächste
Novität die Komödie „Der Leibgardist“ heraus-
bringen, ein Werk von Franz Molnar, dem
ungarischen Schriftsteller, der in letzter Zeit
durch seine Liebes- und Duellaffären viel von
sich reden machte. Die weibliche Haupt-
rolle in diesem Stück wird Frau Claire
Wallentin-Gräfin Wolff-Metternich spielen, die
durch einen „Selbstmordversuch“ anlässlich der
Verhaftung ihres Gemahls, grosses Aufsehen
zu erregen wusste

Trotzdem wird der „Leibgardist“ seinen Mann nicht
stellen. Vielleicht rehabilitiert ihn ein anderer Franz,
der auch aus Ungarn stammt. Auf Wiedersehn bei
Palfy.

J. A.

Siegfried Simon

Neun Aerzte behaupten, dass ich an Wahnvor-
stellungen leide. Ich füge mich

Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt.
Man ist freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen,
was ich will. Wenn es warm ist, gehe ich im Garten
und horche, wie die Stunden sterben Wenn es kalt
ist, sitze ich am Fenster und sinne in den Himmel.
Oft schaue ich den Leuten zu, wenn sie rufen oder
arbeiten oder traurig sind. Ich entbehre nicht das
Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir nichts tut
und nichts von mir will. Ich beneide nicht die Menschen.

Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau
Blumen. Mein Sohn Siegfried kommt niemais. Zu-
letzt habe ich ihn gesehen, als ich begraben wurde.
An meinem neunundvierzigsten Geburtstag.
lch lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr
mich auf einem wagenartigen Gestell. Neben mir
schritten neun schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir
der Pastor Leopold Lehmann, an seiner Seite meine
Frau Frieda und mein neunzehnjähriger Sohn Siegfried.
Wenige Verwandte folgten, die waren stillvergnügt und
unterhielten sich, wenn ich recht gehört habe, von der
Raupenplage im Tiergarten.

Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann
und wann. Er krabbelte über den Kies und kitzelte
die Frauen um Brüste und Waden. Wir hielten vor
dem aufgeschütteten Grab. Der Sarg wurde hinunter-

gelassen, einige Formalitäten und Gebete waren schnell
erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold Lehmann an,
auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau, eine Ge-
dächtnisrede zu halten. Er sagte:

Liebe Schwestern und Brüderl Wieder hat
ein gütiges Geschick uns ein teures Menschen-
leben geraubt. Trauernd stehen wir am Grab
des Dahingeschiedenen und gedenken seiner in
Wehmut.

Mein Sohn Siegfried biss sich auf die Lippen.
Der Pastor sagte:

Die Erde, die den Körper ausgesondert hat,
dass er kurze Zeit ein beseeltes Eigenleben führe,
hat ihn wieder aufgenommen in den Mutter-
schoss. Ein eeiler Mensch ist heimgegangen —

Mein Sohn Siegfried bekam einen Lachanfall. Das
Gesicht wurde rot und ernst. . Er lachte, bis er
röchelte.

Meine Frau schrie

Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich
für meinen Sohn Siegfried. Einige Frauen weinten in
echte Spitzentücher.

Ich war still.

Der Pastor sagte:

Wenn einer nicht weiss, wie er sich zu be-
nehmen hat, soll er nicht kommen, wenn einer
beerdigt wird Amen.

Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor.
Leopold Lehmann.

Mein Sohn Siegfried reinigte sich die Fingernägel.

Alfred Lichtenstein

Beachtenswerte Bücher

Ausfiihrliche Besprechung vorbehalten

Rücksendung findet in keinem Falle statt

KARL VOLLMOELLER

Wieland / Märchen in drei Akten

Inselverlag Leipzig

HERMANN ESSIG

Mariä Heimsuchung / Tragödie
Die Weiber von Weinsberg / Lustspiei
Die Glückskuh / Lustspiel
Verlag Paul Cassirer / Berlin

KARL KRAUS

Die chinesische Mauer
Sprüche und Widersprüche
Heine und die Folgen

Verlag Albert Langen / München

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HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
V. I.: Oskar Kokoschka


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