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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 23 (August 1910)
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Lantz, Adolf: Der Freud
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Lasker-Schüler, Else: Versöhnung
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Scheerbart, Paul: Der Todesrausch: Eine Mückenphantasie
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0185

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erzähle, wie? Ich kann Sie belehren, es reizt mich,
Sie zu belehren, eben weil Sie giauben, daß mein
verfluchtes, absCheuliches Skelett, die gelbe, blatter-
narbige Haut über der verknöcherten Fratze mich
verhindert hat, zu genießen, was nur immer
menschenmöglich ist.

Geschwelgt habe ich! In allen Zärtlichkeiten
der Frauen geschwelgt. Kennen Sie die Lusthäuser
dieser Stadt? Sie finden sie herrlich, wie? Kata-
komben sind sie! Moderdumpfe, finstere Kata-
komben, gegen jene voll Pracht und Prunk, durch
die ich mich gewälzt habe. Lernen Sie die erst
kennen! Halten Sie mich nicht für betrunken! Ich
habe nichts in mir als zwei Flaschen Sekt. Das
bringt in Laune, nichts weiter. Aber Sie dauern
mich in Ihrer Jugend. Ich bedauere Sie von ganzem
Herzen. Was suchen Sie um diese Zeit auf der
Straße? Es ist die Zeit des Genusses. Warum ver-
schleppen Sie ihre Zeit? Auf dem Balle habe ich
Sie beobachtet. Was Sie für Augen haben! Zum
Teufel! Gierige, nie gesättigte, mutlose Augen!
Sie sind nicht blind, diese Augen. Sie sehen, daß
die Welt in Flammen steht. Sie selbst \vjssen es,
daß alles herumrast im heißen Brand! Warum be-
halten Sie denn Ihre Kleider an, wie —“

Amelius steht wie betäubt, wortlos. Als sähe
er nichts mehr außer dem schwarzen Punkt vor
sich, aus dem es mit krächzenden, harten Lauten
aufkreischt.

„Warum sind Sie verstummt? Peitscht Sie die
Wucht meiner Worte, wie? Schreit Ihnen das Leben
seine Anklage zu, weil Sie es' erbärmlich 1 ver-
schleppen ? Was ist das für eine Art, sich an einen
Freund zu hängen und zuzusehen, wie er tanzt,
in einer Ecke zu sitzen und schluchzend zu lauern?
Warum gehen Sie auf Feste, wenn Sie nicht tanzen
können? Andere Orte gibts für solche, dort jst
Sättigung für gleiches Geld, und gleiche Zeit, Sätti-
gung aller Wünsche. Kaskaden der Lust, die hin-
abreißen in die Tiefen! Man muß sich 1 verschwen-
den! Der Wille dazu liegt in uns! Der belügt
sich, wer sich’s leugnet! Wo ist er denn jetzt,
Ihr Freund? Welche Orgien feiert er, von denen Sie
nichts ahnen? Es geht mich 1 nichts an! Ich häbe
nicht zu fragen, wie? Es ist eine Frechheit, sich
so zu benehmen! Zum Teufel, ich habe Lust, so
zu sein! Hindern Sie mich, verbieten Sie, werden
Sie grob! Ich frage doch! Denn es paßt mir.
Nichts wird mich in meiner Rede unterbrechen. Zer-
knirscht will ich Sie sehen, kläglich überwiesen,
das Leben zu schwänzen, Sie, der Sie zu lächeln be-
lieben über mich! Ist er krank, Ihr Freund? Zu
Bett gegangen, müde von der Arbeit, der Aermste?
Oder gestorben, wie?“

„Er ist tot,“ hauchte Amelius'. Es schien ihm,
als hätte er es unhörbar gesagt, ganz leise, als
hätten sich die Laute über die Lippen gestohlen.
Dem krächzenden Menschen wollte er keine Ant-
wort geben, loskommen wollte er, fort aus seiner
Nähe, fort von diesem Platz.

„Wie — tot?“ — ächzte es zu ihm auf. Ein
stöhnender Laut glitt wie aus einem zerrissenen In-
nern. Auch Ihr Freund starb ? Zwang mich das zu
reden? Verzeihen Sie! Ich bereue, Herr! Eine
teuflische Lust sitzt in mir, Erkenntnisse zu ver-
drehen. Nicht alles war vorhin mir Ernst. Nur
Manches. Ich möchte gut machen, was ich tat.
Wir stehen anders zu einander, als ich dachte. LaSsen
Sie sich erklären! Gehen Sie noch nicht fort!
Bleiben Sie! Ein paar Worte. Vjelleicht auch mehr.
Ihr Freund ist tot. Ein Gemeinsiames verbindet
uns. Das allein berechtigt, daß ich zu Ihnen rede,
mich offenbare — wie keinem sonst: denn auch
mein Freund ist gestorben.“

„Ist er verreist?“ fragte Amelius leise und selt-
sam berührt. „Ist er in einer anderen Zeit, zu einem
anderen Volk, in anderen Ländern?“

„Nicht so,“ entgegnete es fast keuchend,. „Er
ist gestorben. Schon beginnt der Körper zu ver-
vvesen, der so viel geliebt wurde. Die Leiche sieht
erbärmlich aus. Verzerrt sind die Züge, die Augen
giäsern und ohne Inhalt.“

„Wer ist tot?“ fragt Amelius tonlos und sieht
wieder den kleinen Raum von vorgestern an der
Seite des Saales. Ein junger Mann eilt herein, er-
hitzt, ein seidenes Taschentuch in der Hand. Schwer
hängen weiche, dunkle Locken in eine offene Stirn.
Schlank und kraftvoll ist die Gestalt, der Mund
herb, die Züge stark und entsChieden. Er trinkt,
cilt wieder in den Glanz des Festes. Oft fliegt

sein Schatten draußen vorbei, verschlungen im Tanz
mit schönen Frauen.

„Mein Freund ist tot,“ krächzt der Krüppel ein-
dringlich und langsam. „Der Ihnen so sehr ge-
fallen hät, den Sie beneidet haben um die Macht
seiner Persönlichkeit.“

„Wie, der?“ Amelius ist entsetzt, aufgewühlt,
fassüngslös. „Es ist unmöglich ! Der starb
nicht!“

„Doch!“ tönt es mit schneidender Stimme zu-
rück. „So sicher tot, wie ich vor einer Stunde
die letzten Flasehen Champagner getrunken habe
für dieses Leben! Denn ich gedenke nicht mehr
zu trinken, auch nicht mehr auf Feste zu gehen.
Vorbei!“

„Woran starb er?“

„Er starb sehr plötzlich. Gestern abends, nach
dem Nachtmahl, in meiner Wohnung. Ich war da-
bei, ich ganz allein. Ein Kampf weniger Sekunden.
Dann lag er da; starr, in sich verkrümmt, die Augen
verdreht. Ich ging fort, schloß die Wohnung ab.
Vielleicht wollte ich einen Arzt holen oder die An-
zeige machen. Ich weiß es nicht mehr.“

Ein großes Mitleid quoll in Amelius 1 auf. Sanft
und wie tröstend sagte er: „Ich' begreife ganz
Ihren Schtnerz. Ich beklage Sie tief —“

„Gar nichts begreifen Sie!“ sChrie jener auf.
„Sie glauben am Ende, daß ich' vorhin wahr sprach,
meine Ueberzeugung, meine Erkenntnis des Lebens!
Daß ich so erbärmliche Dinge genoß! So werden
sie nicht errungen, die herrlichen GenüsSe dieses
herrlichen Daseins. Nicht in Bordellen sind sie
zu häben. Dort ist Betrug, der ärgste Betrug!
Den Kern des Lebens verhüllt man uns mit selbst-
bezahltem Betrug! Ehrenbeleidigungen, die nie zu
sühnen sind: und wir käufen sie! Vorspiegelung
der Echtheit, blasse, farblose Visionen einer mög-
lichen Wirklichkeit mit jäher Ernüchterung und Ver-
zweiflüng. Die Paradiese des' Daseins sind nicht die
kösttichen OaSen in jeder Wüste: nur Fata Morgana,
in deren Anblick man verdurstet. Mit dem Blut
meiner Seele häbe ich erkännt. Zerknirscht lag ich
in meiner Erbärmlichkeit. Ich ahnte die Wunder
des Lebens, seine Trunkenheiten und Rasereien,
die Verzückungen der Liebe, die Qualen der Eifer-
sucht, jede Freude, jedes Leid, die großen Aeuße-
rungen des Daseins. Alles habe ich mir verschafft.
Versunkenheit in tiefsten Leidenschaften und
Schvvelgen in ihrer Ueberwindung. Was begreifen
Sie davon? Gar nichts! Was wissen Sie denn?
Habe ich Ihnen erzählt, häbe ich irgend jemandem,
Sfümper oder Genie, Dilettant oder MeiSter, geoffen-
bart, was jener mir war, der gestern starb ? Ahnen
Sie auch 1 nur, was wir gemeinsam geschäut, wie
wir Schicksale gelenkt, ihren Lauf revolutioniert
haben, wir, wahre Napolbone des Lebens !

Diese wundervollen Tage und Nächte am Meer
mit der Fürstin! — Alle Pracht hätte sie ver-
lassen, alles aufgegeben. Namen und Ehre, Gatten
und Kinder, nur um uns zu folgen, ihm, den s-ie
liebte. Unter tausend Qualen starb ! sie: denn sie
mußte sehen, wie das Meer die Frauen vor seine
Füße spülte, wie er s'ie lächblnd nahm und dann
wieder fallen ließ, zurück in die Flut. Denn wo
nur Schätze sich boten, griff er zu.

Alles habe ich miterlebt, mitgenossen. Arm
war er, als ich ihn fand, hilflos, ein Verhungernder.
Ich machte ihn reich. So viel er brauChte, erhielt
er von mir. Nichts forderte ich als Dank, nur daß
er erzähle! Alles hät er mir sägen müssen. Wie
kein Dichter verstand er zu schjldern, was er er-
lebte, was ihn durchwühlte, stachelte, berausChte.
Die Schäuer der Ereignisse fühl'te iCh am eigenen
Leib, gepackt, überwältigt, mitgerissen, nicht mehr
ich: ganz er, ganz er!“

Und jenes Höchste, in dem wir geschwelgt
haben, jen-e göttliChen Tage, als seitie LeidensChaft
in gleichem Verlangen entbrannt war zu zweien, die
sich ihm gaben. Jede voll Angst, ihn zu verlieren,
eine unwissend der andern. Diese herrliche Lust
von Hast und Aufregung, FurCht vor Entdeckung,
Verschwendung der Kräfte bis zur Erschöpfung.
Wir wurden krank und entflohen der Stadt. Nach
wenigen Tagen war er gesünder denn zuvor. Ich
selbst erholte mich langsam. Meine Nerven zuckten
im Krampf, meine Sinne wären verworren. Alles
tanzte, Bäume und Berge atmeten sChWer. Wie
fühlte ich, daß ich gelebt batte, wie sah ich in
die Welt, die ich mir tanzen gemacht hätte, wie
fwar sie mein, diese Wel't, wie häbe ich sie ge-
nossen — durCb ihn! — Begreifen Sie jetzt ? Können

Sie Verstehbn ? Hineingefressen, hineingeSögen häbe
ich mich in seine Seele und in seinen Körper, den
Körper e'ines Herrn über alte Lüste, eines Herr-
schers, dem sich das Leben beugt!“

Amelius stand entgeistert. Träumte er oder war
es Wirklichkeit, was er Vernahm ? Dann mußte sie
sich' greifen lassen, diese Wirklichkeit. Er streckte
seine Hand aus nach der Gestalt.

Die aber wiCh zurück, als fließe sie mit den
Schätten des Platzes zusammen: „Berühren Sie
mich nicht! Es könnte eine Kraft von Ihnen über-
strömen, die meine Entschlüsse störte. Vielleicht
sind Sie nicht der, für den ich Sie halte, vielleicht
einer, der selbst zu leben imstande ist, nicht nur
durch einen andern, an den er sich verliert. Würde
aber meine Zunge die Worte finden, mich Ihnen zu
offenbaren, wenn wir nicht tiefinnere Beziehüngen
zu einander hätten? Würden sich sonst diese
Lippen öffnen, Ihnen zu beiChten? D-enn es ist
eine BeiChte. Als letzten Genuß nehme ich sie hin.
Noch einmal häbe ich gespürt, daßi ich' lebte. Ich
bin wieder ruhig. Ich spreche ganz gelasSen, ohne
Erregung, wie ? Ich fühle nichts mehr, es ist wieder
kalt in mir. Als wärs eine fremde Angelegenheit.
Oder eine Selbstverständlichkeit. Mein Vermögen
häben wir verbraucht, das lCtzte verschlang vor-
gestern das Fest. Ein paar Münzen blieben. Ich
habe sie vorhin vertrunken. Vernünftig, wie? Wir
vvären also beide arm, bettelarm, hätten nichts mehr
zu erwarten. Ich hatte Millionen vorgetäuscht.
Unerschöpflich mußte er mich wähnen. Vom ersten
Tag an habe ich jedes Bedenken über Geld abge-
sChnitten, den Schein zu wahren. Er ahnte nichts:
der letzte Rest zerfloß.

Gestern habe ich ihn vergiftet. Esl war ein
rascher Tod, ein paar Sekunden. Er Sänk wortlos
zusammen, im Krampf, ohne Besinnung. Ich allein
war dabei. Sicher ein leichter Tod. Ich habe mich
davon überzeugt, daß es ein leichter Tod ist, durch
dieses Gift zu sterben. Gehen Sie endliCh schlafen!
Gute Nacht!“

Amelius schrak auf. Ein Frösteln lief über
die Haut. Sein Inneres fror. Wie abgestorb'en
schien ihm sein Körper.

Leer lag der Platz und düster. Im Dunkel
verwitterter Mauern schwand es wie ein Schätten.

Versöbnung

Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen ...
Wir wol'len waChen die Nacht,

In den Sprachen beten

Die wie Harfen eingeschnitten sind.

Wir wöllen uns versöhnen die NaCht —

So viel' Gott strömt über.

Kinder sind unsere Herzen,

Die möchten ruhen müdesüß.

Und unsere Lippen wöl'Ien Sich ! küsSen,

Was zagst du?

Grenzt niCht mein Herz an deins —

Immer färbt dein Blüt meine Wangen rot.

Wir wol'len uns versölinen die NaCht,

Wenn wir uns herzen, sterben wir nicht.

Es wird ein großer Stern in meinen Schöß fallen.

Else Laeker-SChüler

Der Todesrausch

Eine Mückenphantasie

Von Paul Seheerbart

„Komm an die Lampe!“ schrie selig die kleine
Zippa. Ihre Flügel flatterten, und zweihundert
Mücken vernahmen den Ruf und folgten der kleinen
Zippa — selig — ohne Besinnen.

Bei der Lampe, die von einem grünseidenen
LampensChirm umhüllt war, saß ein alter Mann
und aß sein Abendbrot.

Da kam die kleine Zippa mit den zweihündert
Mücken — und der Zippa ward ganz toil zu Mut.

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