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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 50 (Februar 1911)
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Kind, Alfred: Lüge, Ehe und Wahrheit
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Ziller, Franziska: Aus dem musikalischen Notizbuch für Berlin
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Adler, Joseph: Arbeit der Presse
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0405

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Lüge, Ehe und Wahrheit

Von Alfred Kind

Ueber die Hebung der sexuellen Moral wird seit
Ewigkeiten gepredigt, bald mit der klingenden Schelle
Abraham a Santa Claras, bald mit dem tönenden Erz
lutherischer Tischreden. Und die Aussenseiter der
Christenheit heulen in allen Tonarten. Der ver-
sammelten Mitwelt Vorschriften zu machen, erzeugt
das leberbefreiende Gefühl eigener Untadelhaftigkeit.
Auch geht der tatenschwangere Jüngling vielleicht hin
und handelt nach des Meisters Drommetenstoss, bis
die Sonne einmal ins Meer gesunken ist. Aber darnach
ist die Dumpfheit und die lästige Grimmasse des öden
Zwangs. Und man nickt künftig ein schläfriges Ja
der Verstellung und schleicht durch die lichtscheuen
Gassen der Lüge.

Denn alle Ethik kann sich nur von innen heraus
gebären, wenn sich die Schlacken schleifen im Daseins-
gedränge und das Gehäuse der felsenfesten Ueber-
zeugungen aus den Fugen bröckelt. Da steht der
ratlos Nackte und duckt den Straussenkopf in das
Sandhäufchen der Beschämung Aber der Blitz fuhr
in ihn, dass wir alle nackt sind, dass ein jeder Blössen
behängte und der eigene Balken im Auge der aller-
mühseligste war. Erkenne dich selbstl — ein läppischer
Klingklang, ein Redebliimchen aus dem Soffitenhimmel
der Tempelkunst, gesagt zum Weitersagen. Nur das
Tun und das Wachsen im Werden der Zeit bringt den
Klimmer zur fernsichtigen Höhe, und du erkennst, dass
alle Berge Kuppen sind.

Sagtest du nicht, du wärst tolerant? und du kannst
doch die Nacktheit des Wahren nicht ertragen, wenn
du dich selber noch in Kleidern weisst. Du fliehst
mit dem Weib deiner Wahl in die schweigenden Wälder
der Lust; durch rote Abendbuchten plätschert dein
Kahn selige Furchen. Und ihr seid treu wie Gold.
Treu wie der reine Goldreif an eurem Finger, und
zerreibbar wie er. Ihr achtet nicht, dass jeder Hände-
druck des Glücks seine Spur von ihm mindert. Und
wenn sein Schwinden bemerkbar wird, beginnt ihr, ihn
mit der Falschheit zu legieren Ihr spielt mit hartem
Tombak, und ihr weist ihn triumphierend auf vor
einander.

Und doch sehnt ihr euch schon nach neuer Echt-
heit, da die eure sicn unter euch vernutzte. Du er-
wachst des Morgens und das süsse Traumbild der
Geliebten hängt nicht mehr sichtbar in der Luft zu
deinen Häupten Die Raubgeister der Vorvergangenen '
haschen wieder nach deiner Liebesseele; die schweigenden
Wälder blauen dahinten irgendwo in den Flitterwochen.

Es war ein Rausch; und du bemäntelst die Blösse
deines Selbstgeständnisses mit den Trauertüchern des
Vorwurfs gegen deine Genossin. Sie hat sich geändert.

In ihren Armen zuckst du mit dem Gedanken an eine,
die dir heute in zufälliger Schönheit voriiberwandelte.
Du Erznarr! wähnst du, deine Gattin könnte dir noch
mit allen Teilchen zufliegen wie der Stahl dem Magneten;
Abgenutzt, verbraucht, Liige.

Fragt euch doch einander, was ihr über Tage fühlt
und euch nächtens vorgaukeltl Euer Mund wird
flüstern: Du bist’s und in euren unsichern Augen wird
ein Besserwissen glimmen. Es sprach einer das Wort:
Ich aber sage. euch, ihr habt schon die Ehe gebrochen
in euerm Herzen. Ein fluchbeladenes Wort, ein Wort,
sich das Fleisch vom Leibe zu reissen, wenn es ernst-
haft zu Gemüte dringt. Aber ihr lächelt und liigt, und
euer Wunsch flattert nach dem Winde, und ihr werdet
miirrisch und verdrossen, und der Zank hebt sein ver-
steinerndes ’Schlangenhaupt. Was habt ihr euch noch
zu sagen? was bleibt ihr beieinander in Unfeinheit.

Es geht eben nicht anders. Die Welt dreht sich,
und die Jahreszeiten wechseln, und die Quelle ersäuft
im Meer. Sehnsiichte verblassen, und eure Arme ver-
stricken sich träger. Wollt ihr wider die verrammelten
Tore der Unmöglichkeit mit euren Stirnen Sturm laufen?
Nur euch wird die Wunde klaffen!

Begreift doch, dass ihr hier auf diesem Boden
wurzelt, dass ihr nur aus dieser Wirklichkeit zu Halm
und Frucht gedeiht. Jene Wolkenwand da oben ist
ein triigerisch Gebilde, ein Gebirg aus Wasserdampf,
Mauerkronen aus weissem Gischt. Kniet nieder vor-
einander und beichtet; bis in die violetten Tiefen
leuchtet euch hinab ohne Bangnis Und ihr werdet
aufstehen als freie Menschen, in Wahrheit freie, und
in eure Arme stiirzen, nicht als Mitschuldige, sondern

als ehrliche Ringer und Bekenner, dessen, was ist und
nicht ist.

Reden ist leicht, und auch meine Worte sind
Klingklang. Eine Fastenpredigt Narreteien iiber blutigen
Ernst. Denn wer das Gliick in der Wahrheit sucht,
wird ohne Zuruf den Weg finden.

Aus dem musikaüschen
Notizbuch für Berlin

Adam ist auch im Musiklexikon der erste Mensch.
Heute nur noch für die Sommeroper zu verwenden,
was er der Zeit des Automobils auch nicht weiter ver-
übeln darf, die mit einem „Postillon“ schlechterdings
nichts mehr anzufangen weiss.

BACH war friiher nur bekannt als Mitarbeiter
Gounods, zu dessen wundervollem Ave-Maria er eine
sehr geschickte Begleitung setzte. In neuerer Zeit hat
die eifrige Musikforschung herausgefunden, dass er
selber Melodien, sogar fiir Gesang zu erfinden verstand.
Sein „Wohltemperiertes Klavier“ ist gefiirchtet, weil
jeder Debutant mit einer Nummer daraus sein Konzert
eröffnet; aber auch altberühmte Künstler wollen von
dieser Vorübung nicht abgehen. Man bewundere dann
immer die erhabene Einfalt der Präludien und die un-
ergründliche Tiefe der Fugen wie ja auch schon Beet-
hoven gesagt hat: Nicht Bach, Meer sollte er heissen.
Seine Hmoli-Messe, früher nur Musikgelehrten bekannt,
wird augenblicklich sehr hoch bewertet; man muss sie
für den Gaurisankar im Himalaya der grossen Kunst
halten. Mit seinen Kantaten, von denen immer vier
auf einen Abend gehen, hat er seinen Ruf in den
weitesten Kreisen des gebildeten Publikums, das natür-
lich a priori musikalisch ist, festigen können. Dabei
ist er so bescheiden, den Löwenanteil an dem Erfolg
den ausgezeichneten Solisten zu überlassen. Von seinen
Söhnen haben sich nur durch ihre aparte Kunst Philipp
Emanuel und selbst der gänzlich verbummelte Wilhelm
Friedemann wieder in die musikalische gute Gesell-
schaft einführen können.

BERLIOZ, der Komponist eines grossartigen
Requiems für Chor, Tenorsolo, Haupt- und vier Neben-
orchester. In Berlin hätten acht Nebenorchester noch
mehr für seinen Ruhm tun Können. Sein Vornahme
Hektor verleitete ihn zur Komposition der „Trojaner“.
erster und zweiter Teil; in Berlin unbekannt.

BEETHOVEN, der Komponist der „Letzten Quar-
tette“, die man verstehen muss, um diesen Meister
überhaupt verstehen zu können.

GOUNOD, von dem schon oben die Rede war,
noch immer sehr beliebter französischer Komponist, was
man aber nicht eingestehen darf, um seinen Kunst-
kredit nicht zu schädigen

HAENDEL wurde früher stets mit Bach zusammen-
genannt, was jetzt bei Strafe der Lächerlichkeit ver-
boten ist. Sehr vernachlässigt; dürfte indessen mit zu-
nehmender Verengländerung Berlins wieder ari Boden
gewinnen.

MENDELSSOHN, gänzlich abgetaner Komponist.
Einige Klavierstücke von ihm, zum Beispiel sein einst
berühmtes Spinnerlied werden noch als Etuden in der
Klavierstunde gespielt.

MOZART war lange Zeit weit ins Hintertreffen
gekommen. Jetzt muss man ihm gegenüber Partei
ergreifen: entweder man geht gänzlich über ihn hin-
weg — was man tun darf, ohne irgendwie Gefahr zu
laufen. Oder man stellt ihn als eine Spitze unserer
musikalischen Kultur hin: besonders beliebt bei Wag-
nerianern und Modernsten als temperierende Mischung.
Dann macht es nichts, wenn man ihn nicht kennt.

RICHARD STRAUSS. Es ist jetzt nicht mehr ge-
stattet, ihn für ein Mitglied der lustigen Wiener Familie
zu halten oder ihn mit dem Schöpfer der Fledermaus
zu verwechseln. Seine Musik findet man, wenn man
sonst nichts zu sagen weiss, immer ungeheuer inter-
essant; auf diese Weise riskiert man nichts Man muss
die Salome und die Elektra mehrmals gesehen haben,
hat sich aber noch immer kein abschliessendes Urteil
über ihre Stellung zur Musikgeschichte und in der
Entwicklung des Musikdramas bilden können. Von
seinen vielen Liedern sei man entzückt. Einen ent-
schieden gegnerischen Standpunkt einzunehmen, ver-
bietet nicht nur die gesellschaftliche Höflichkeit, sondern

auch die drohende Gefahr, als musikalisch verknöchert
angesehen zu werden.

WEBER, KARL MARIA. Komponist für Kinder.
Seine Jubelouvertüre, arramnert für Klavier zu vier
Händen, war eine der entsetzlichsten Plagen des Klavier-
unterrichts, seinen Freischütz hat man einst in sehr
jungen Jahren gehört. Abgetane Sache.

HUGO WOLF. Man nennt immer den Vornamen
mit, obgleich die Musik nicht viele Wölfe aufzuweisen
hat. Bei Nennung dieses Namens mache man ein
sehr schlaues Gesicht.

KONTRAPUNKT kann man jetzt alles nennen, was
man im Grunde seiner Seele für scheusslich hält.
Wenn vom Kontrapunkt der alten Meister gesprochen
wird, so mache man wieder ein sehr schlaues Gesicht.
(Aber etwas anders als bei Hugo Wolf.)

SINGAKADEMIE, gefürchteter Konzertsaal in Berlin,
ohne Restaurant, ohne Buffet, selbst ohne Automat.

Franz Ziller

Arbeit der Presse

Das bedrohte Asien

Eine Kaiserdepesche weckte einmal in Deutschland
das Interesse für einen fremdländischen Schriftsteller
um so viel Jahre früher, als an gleicher Zahl Jahr-
zehnte über den Versuch vergehen müssen, einer
ganzen Welt den Namen eines Mannes zu entreissen,
der sich den Beifall der Presse und der Intellektuellen
einer einzigen Stadt zu erbluffen gewusst hat.

Eine Kaiserdepesche brachte den Namen Kipling
in den Mund von abertausenden deutschen Zeitungs-
lesern. Wie viele sind seinem Klange nachgegangen?

Aber so wie jene Depesche des Kaisers an den
grössten Erzähler Indiens angesichts der Indienreise
des Kronprinzen zu einer vollständig antiquierten
Reminiszenz hinabsinkt, so triumphiert heute der
Journalist Ewers über den Dichter Kipling. Mag Ewers
Indien auch nur gelegentlich „mitgenommen“ haben,
die Kenntnis der Literaturoffiziellen von Kipl ng wird
zu einem flackernden, verlöschenden Lichtlein. Aber
es ist auch das Indien der „Feuerflamme“, des
Sahibs Ewers, das der Kronprinz bereist. Er lernt das
Indien kennen, von dessen kultureller und merkantiler
Bedeutung der Leitartikelschreiber mit Hilfe des
Konversationslexikons dem Leser, der sich bekanntlich
für alles interessiert, gründliche Kenntnis vermittelt.
Über das der Feuilletonist, der es mit eigenen Augea
sah, in der Note der Lustigen Blätter sich „auslässt“.

Die Freundschaft eines Maharadscha, mit der Ewers
so lieblich flunkert, in allen Ehren, aber sie wird von
der Bedeutung der Gefolgschaft, die ein Bericht-
erstatter dem Kronprinzen leistet, zu einem Amüsement
herabgedrückt, das jedem Spassvogel zuteil werden
kann. Maharadschas gibt es in Indien genug, aber
Deutschland hat nur einen Kronprinzen und nur eine
Norddeutsche AllgemJne. Der Mann, der für sie den
hohen Reisenden bis auf die gefahrvollen Panther-
jagden verfolgt, ist schon wert, hier angeschossen zu
werden.

Nach seiner untertänigen Meinung muss jeder, der
Rom besucht hat, die Peterskirche gesehen haben, urid
wer in Indien reist, muss auf Tiger und Panther jagen.
Er muss. Und überdies wäre es mehr als seltsam,
wollte man dem Kronprinzen wegen seiner Jagdaus-
flüge Vorwürfe machen; er ist doch Schritt für Schritt
in der Lage, „sich über jede sich ihm aufdrängende
Frage so zu informieren, dass er über Probleme, zu
deren Studium ein anderer Reisender
Wochen, ja Monate brauchen würde
(Ewers auch ?), in kürzester Zeit Aufklärung verschaffen
kann“. Diese wundersame Möglichkeit gleicht den
Fakirkunststücken des Journalismus, der hier mit allen
seinen stabilen Begieiterscheinungen eine Prinzen-
vergnügungsreise in das Geleisenetz der weltgeschicht-
lichen Ereignisse verwickelt.

Mit der Uhr in der Hand beobachtet der Indien-
reporter die programmgemässe Abwicklung der Panther- ,
jagd. „Gegen neun Uhr sprengte ein eingeborener
Reiter heran, der die Ankunft des Kronprinzen meldet.“
Die Soldaten stellten sich in Ordnung, die bärtigen
Offiziere zogen ihre rostigen Säbel, das Auto des
Kronprinzen brauste heran, die Jagd begann und der
Berichterstatter nahm den hohen Jäger, „dessen

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