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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 1 (März 1910)
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Kurtz, Rudolf: Programmatisches
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Mittel, die Kräfte des Lebens zutn voliendetsten
Ausdrtick zu bringen, von der allgemeinen Banalität
gespeist, zu einer selbständigen Qestaltung sich
auswächst und endlich dem Leben seine Kräfte ent-
zieht, um seine nutzlosen, an sich leeren Dogmen
zu erhalten.

Wir gedenken nicht, meine Herren, dieser arm-
seligen Komödie nur als Zuschauer beizuwohnen.

Durch dicscn Beitrag werden nicht Meinung und Absicht der Mit-
arbeiter charakteristert. Diese Sätze treffen nur mich und die
wenigen mlr persöniich nahestehenden Freunde. R. K.

Glossen

Liberale Rebeilen

Politische Ideale bedeuten Qestaltungen des Welt-
markts, in der die Mitglieder einer Partei die'
besten Qeschäfte machen zu können hoffen. Un-
fer dieser Voraussetzung ist der deutsche Libera-
lismus das denkbar aussichtsloseste Qechäft. Füh-
rcr, die bald nach oben, bald nach unten revo-
luzzen müssen, Anhänger, die ihre Weltanschau-
ung je nach Lage ihrer geschäftlichen Interessen
bald nach rechts, bald nach links korrigieren
miissen: wie soll in dieser ewig aufgeregten Be-
geisterung sich ein solides Qeschäftsinteresse
durchsetzen. Der Liberalismus ist die Partei der
Ueberzeugungslosen, die immer erst den Augen-
blick abwarten müssen, um zu wissen, was sie
glauben — um liberal zu sein, geniigt es. politisch
und kulturel! uninteressiert zu sein. Es ist das
beriihmte politische Neutrum. In den Ostmarken
hat sich die allgemeine Haltlosigkeit der Liberalen -
in einem ergötzlichen Fall gezeigt. Nationallibe-
rale haben die fiir das Deutschtum, das ja zu ihren
Programmartikeln gehört, gefährlichste Torheit
begangen, in einem von großpolnischer Agitation
aufgestachelten Lande die deutschen Stimmen
durch Aufstellung nationalliberaler Kandidaten zu
zerstiickein. Statt sich im parlamentarischen Kuh-
handel — der iibrigens das Symbol der liberalen
Qesinnung ist — auf e i n e n Kandidaten zu eini-
gen, wiinschen sie ihren politische Individualität zu
bewahren: eine Borniertheit, die wiederum nur in
das Programm der radikalen Parteien gehört. Ein
■-^§ejiuibcjspie' ds§.-,baüjßsen Jfjiiturf’Uattantis.mijs, _
das Haus mit der Nuancierung der Fronten ru be-
ginnen. Die Behörden haben die zwei gesinnungs-
treuen Professoren „gemaßregelt*! — eine Tor-
heit, die den politisehen Dilettantismus mit der
Märtyrergloriole verklärt. Warum versetzt man
die Herren nicht stillschweigend in Landstriche,
wo sie ohne Schaden Politik treiben können?
Aber ich will mich nicht um das ergötzliche Schau-
spiel bringen. wie deutsche Professoren in ihrer
mannhaften Gesichtlosigkeit zur Destruierung
dessen beitragen, was sie dem Schüler mit begei-
sterter Beredsamkeit für lange verekeln: den
deutschen Furor, der aus gauz anderen Quellen
kommen muß, um erträgiich zu sein. Als prakti-
sche Verwüster dieses peinlichsten Ent'nusiasmus
— als Lobrede eines Systems von mittelmäßiger
Klugheit und formloser Verwirrung sollen uns
auch die nationalliberalen P rofessoren willkom-
men sein: zumal mich die angenehme Vorstellung
lockt, wie sie gesträubten Haares und gerungener
Hände gegen solches Ansinnen protestieren wer-
den. - i

Schtnock Triumphator

Hie Raffinements der gefährlichsten Giftmischer
verblassen vor der dämonischen Sicherheit
5chmocks, der den Zeitgenossen mit einer höclist
differenzierten Technik eine Mischung von Syrup,
Vanille und Lebertran in die Adern spritzt. Mit
«nheimlicher Schnelligkeit lagern sicH die Qehirn-
moleküle des Befallenen um. der Blutkreislauf
schleicht träge, in den höheren Stadien umgibt ihn
eine Atmosphäre, die mit Vanille, Syrup und Leber-
tran auf drei Meter tötlich wirkt. Alle Gefahren
des Morphiums entlarven sich lächeind als harm-
ios beglückende Befreiung von dieser fragwürdigen
Erdoberfläche, und wenigstens gewährt das Mor-
Phium reelle Qeniisse, um die diese Seuche ihre
^klaven auch noch bctrfigt. Wie eine fressende
Pestilenz senkt sich der Kultus des Schmocks auf
oas besiedelte Europa. In der Schweiz verläßt
cine iunge Frau unter Mitnahme ihres Geliebten
das Leben. Dafür bleibt ein Tagebuch, das
' Chmock als „romantisch“ seinen Lesern eiligst
serviert. Niemand sieht das grauenvoll Sympto-
’yiatische der Angelegenheit. Eine Dame, die end-
Hch Qelegenheit hat, sich unter Ausschaltung lästi-

ger Beteiligter ihren Wünschen überlassen zu dür-
fen, notiert die Kurven ihrer Leidenschaft in einem
Tagebuch, verzeichnet die spirituellen Qipfel ihres
Qlücks. Nicht einmal die Freuden ersehnter Nächte
verhelfen der Dame zu einem reflexionslosen
Gliick, ihr geniigt die Tatsache eines mühevoll er-
rungenen Hotelzimmers keineswegs: sie wünscht
dem allen durch Zusatz von Vanille, Syrup und
Lebertran einen stechenderen Geruch zu geben.
In diese peinliche Unsicherheit der Qefühle bringt
Schmock die Menschheit. Die begehrtesten Um-
armungen befriedigen nicht mehr: man wünscht
dieser Tatsache schriftlichen Ausdruck zu geben.
Das Wesentliche erotischer Beziehungen gipfelt
nicht mehr im Schlafzimmer, sondern in einem ge-
fühlvoilen Briefwechsel, in dem der Beischiaf als
anregendes Motiv Verwendung findet. Und nie
war diese Frau durch Druckerschwärze gereizt
worden — wer hätte nicht das Qünstigste von ihr
geglaubt, nachdem die Qattin ihres Qeliebten nur
von ihr zu sagen wußte, daß sie eine wahre Sirene
gewesen sei (und Sirene bedeutet im Munde der
gekränkten Ehefrau ein dämonisches Etwas, das
jeden Mann zu den verwegensten Träumen be-
rechtigt). — Die Versetzung der Weltgeschichte
mit Lebertran ist in Permanenz getreten. Ueber
die Erde, der ein fader Dunst von Syrup entsteigt,
reckt sich die gigantisch gegen den Horizont ge-
neigte Gestalt Schmocks, der geschäftig und un-
aufhaltsam bedrucktes Papier in das dunkle Qe-
wimmel schleudert.

Insektenpulver! Insektenpulveri

Seit Monaten wird mein Qehirn nur noch von die-
ser Frage verwüstet: wird Björnson auch diesmal
den längst beendeten Nekrologen widerstehen?
Die neue Matratzengruft in Paris ist die Wall-
faihrtsstätte aller Reporter, die das Absterben
jedes Prominenten mit lyrischer Wehmut zu um-
wölken wiinschen. Befliigelte Federn weben an
einer Aureole, die im Augenblicke des Todes sich
gleißend über sein Haupt erheben wird. Recken-
hafte Lebensfreude wird, was der wütende Opti-
mismus eines in eine größere Breite gestellten
idyllischen Pfarrerslebens war, urvölkische Be-
geisterung, was ungestörte Lungenkraft dem In-
halt seiner Werke voraus hatte. Und die liebens-
i'ür Schieks&i •'<?- bercit*

willig gesorgt hatfe: der friedliche Abend des
Qreises, an dem der junge Wein blüht. Ah! Wie
mußte der Alte die Vorfreude dieser Begeisterung
spüren! Zentimeterweise schlachteten ihn die all-
zu impressionistischen Schmöcke ab. Jede Ver-
dauungsstörung wird ihnen Anlaß zu einem seeli-
schen Intdrieur. Man spürt die quälende Sehn-
sucht, uns mitzuteiien, wie sich der große Nor-
weger mit gewissen körperlichen Verrichtungen
abfindet: und nur Schmocks empfindliche Scham
bleibt bei dieser wehmütigen Feststellung stehen:
„Besondere Schwierigkeiten macht jede Verände-
rung der Körperlage“. Ein Heer von Zecken hat
sich an ihm festgesaugt, gegen die jede Salbe ver-
sagt. Si'e observieren ihn mit der gleichen Nach-
drücklichkeit, die wir bei fürstlichen Beilagern ge-
wohnt sind: wo Schmock sich in jedes Insekt ver-
wandein würde, um sich nur keinen Moment des
interessanten Nachspiels im Schlafzimmer entgehen
zu lassen. Das Verlöschen eines immerhin groß
gedachten Lebens wird von einer Herde von Re-
portern fiir den Familientisch hergerichtet; um das
Seelenleben des Bürgers von seinen Verdauungs-
schwierigkeiten abzulenken, wird er mit tränen-
durchzitterter Stimme über das stufenweise Ab-
leben des Qreises unterrichtet. Wo etwas Unter-
haitsames herauszuschinden ist, lüftet Schmock die
Bettvorhänge und zeigt die Agonien des Halbge-
lähmten einem schaulüsternen Parterre. Die
Anekdote ergreift Besitz von dem geistigen Leben
des alten Europa. Mit feinem Lächeln iiherwindet
sie den Tod. „Eine Wärterin des Hotels, eine re-
soiute Wienerin, verstand es bisher noch am
ehesten, ihn zum Essen zu bewegen. Wenn sie
mit den Worten zu ihm kam ,Nun, Herr Professor,
wie geht es uns denn heut? Ein weng papperin?'
Dann iächeite der Kranke und ließ sich ein Kaviar-
brötchen oder anderes aufschwatzen. Jetztweist
er auch diese Frau ab.“ Der Gestank der Wan-
zen verpestet die Totenzimmer. Keiner hat den
Mut, zurn Insektenpuiver zu greifen. Wir kom-
men um. Wir werden mit iauwarmem Seifen-
schaum erstickt. Die Wände unseres Hause's
werden durchsichtig, wir leben hinfort vor den
Blicken des zeitunglesenden Europas. Unzählige
Kiefern zerschroten unser Qehirn zu Drucker-
schwärze. Insektenpuiver! Insektenpuiver!

Der Unfux des Redens

Die Volksvertreter hatten ihre wohleinstudierten
Leitartikel mit zündender Beredsamkeit improvi-
siert, da kam die Rede an einen, der wirklich von
der Situation gereizt war und nicht einfach seine
Meinung an dem Vorredner vorbeizünden lassen
wollte. Die unbegreifliche Anteilnahme des Herrn
von Oldenburg rächte sich schwer. Der unerfah-
rene Parlamentarier hatte die Situation ernst ge-
nommen und auf einige mit respektvolier Kühn-
heit geäußerte Bedenken der Herren grob gesagt:
daß sife letzten Endes Qäste des Kaisers seien und
der Hausherr gegebenenfalls von seinem Haus-
recht Gebrauch machen könnte. „Der König von
Preußen muß jeden Augenblick imstande sein, zu
einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann
und schließen Sie den Reichstag“. Rücksichtslos
an dieser wohlgemeinten Warnung ist nur das
Mißtrauensvotum, das mit zehn Mann die gesunde
Volkskraft der linken Parteien kompromittiert.
Aber warum dieser hitzig versetzten Ohrfeige an-
dere Sensationen entlocken? Warum der Wort-
schwall einer Versammlung, deren Getöse durch
einen Federstrich gedämpft werden kann? Aber
man Iieß sich die Qelegenheit nicht entgehen, das
gereizte Verantwortlichkeitsgefühi im Schein völ-
kischer Empörung strahlen zu lassen. Ein Toben
bricht aus, der Präsident verliert die Haltung, aus
dem Schwall zischt es: ist denn kein Tierarzt da?
Mit tiefgekränkter Miene naht der Protestchorus
der Voiksvertreter und über das Haupt des ver-
dutzten Bundesbruders reichen sich mittlere und
linke Parteien ernst die Hände. Feierlich taucht
der alte Singer mit der Geschäftsordnung aus der
Versenkung auf — und verbeugt sich tief vor
einem plötzlich angeflogenen Qefühl von Kom-
ment, daß den Volkstribunen nur sein ernstes
Posterieur zu bewundern übrig bleibt. Erschüt-
tert blickt der Herr von Oldenburg in den Kampf
der Qeister, er weiß nicht, ob er schweigen oder
grob werden soll. Aber er vermag sich dem sug-
gestiven Einfluß der Tribünen nicht zu entziehen
— und redet. Er stiehlt seiner gesunden Brutali-
tät die Pointe. Hier galt es für ihn, breit lachend
die empörte Loyalität sich aussprudeln zu lassen
und mit aller Selbstbeherrschung dem brennenden
Drang auszuweichen, dessen Komik er selbst mit
so angenehmer Faßlichkeit formuliert hatte: dem
Oi ang'Zti recfeii, raieff; i'evaüi'f. — ■ - ••■’■

Federvieh-Menuett

Die arg zerschundene Sprachkunst Alfred Holz-
bocks ist frisch aufgefärbt. Das ergiebige Schmalz
seiner schwärmerischen Verliebtheit — der Holz-
bock muß in alles verliebt sein, was ihm sein Mei-
ster aufzusuchen heißt — füeßt zärtlich um die
Arrangeure des Pressebailes, deren gemütvoile
Koilegialität heute alle Qesinnungsdifferenzen
iiberbrückt. Vorsichtig begleiten wir ihn in der,
Saal, wo junge L’eutnants in der anmutigen weib-
Iichcn Jugend freudige Partnerinnen finden, und
steilen befriedigt fest, daß es wiederum manche
kostbaren Toiletten gibt, die den luxuriösen Cha-
rakter, sowie schlichte, die den gediegenen Cha-
rakter des Balles offenbaren. In respektvoiler
Entfernung blicken wir verstohlen auf die Galerie
der Prominenten, denen unser salbenstrahlender
Führer vertrauüch die Hände schüttelt, aber ach,
die Armen! sie müssen schon von zehn Ulir an
geistreiche Einfäüe zum besten geben, und zwar
auf den kleinen Autographenfächern, die den
Damen überreicht werden. Und wenn sein schil-
lernder Stift uns noch an den exotischen Reizen
des Festes teilnehmen läßt, ah, dann wissen wir,
er war wieder von geseüschaftlicher Vornehm-
heit, der Presseball von gestern, aber diese Vor-
nehmheit beeinträchtigte nicht die Entwickelung
einer Frohstimmung, und daß dieses Fest distin-
guiert und fröhlich ist, das gibt ihm in all unse-
ren Gesellschaftskreisen seinen Reiz und Wert.
Holdrio.

Aber der distinguierte Qeist dieser vornehmen At-
mosphäre findet seinen Nicderschlag erst in dem
„Musenalmanach 1910“, der als Erinnerung ge-
spendet wurde. Blättern wir ein wenig in dem
eleganten Büchlein. Hier entledigt sich selner
Lyrik, wer sie sonst nur in Kursberichten und Qe-
sellschaftsskizzen als zarten Unterton anküngen
Iassen darf. Und natürüch fehleti nicht die Ver-
klärer des deutschen Heims, die zeitungsfähigen
Dichter und Denker. Ludwig Fuldas Esprit spitzt
sich zu jener kaum wahrnehmbaren Feinheit, die
mich an diesem raffinierten Qeist. immer gereizt
hat: „Ich schrieb ein Stück in des Frühlings Mit-
ten, Und als es über die Biihne geschritten, Da
 
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