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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 55 (März 1911)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [15]: Ein Volksroman
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Lasker-Schüler, Else: Ein Brief meiner Base Schalôme
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Friedlaender, Salomo: Kants Vermächtnis, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0444

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LVII

Der betrunkene Bartmann

Als der Herr Bartmann nun auch von dem Tyrannen-
scherz in Ulaleipu vernahm da fuhr er mit einem
elektrischen Wagen in die Grottenschlucht, allwo die
Literatur-Zentrale in fieberhafter Tätigkeit an allen
möglichen ernsten und weniger ernsten Werken
arbeitete.

Und in der Grottenschlucht arrangierte der Herr
Bartmann ein „Auferstehungsfest des Volkes“.

Und auf diesem Feste erkannten seine Freunde
den Herrn Bartmann garnicht wieder — er trank furcht-
bar viel Bier und war bald schrecklich betrunken und
sagte immer wieder:

„Mein liebes Volkl Mein gutes Volk! Komm
wieder in meine Armel Ich habe Dir weh getanl
Verzeihl“

Alle hielten das für einen ausgezeichneten Witz
nur der Astronom Haberland, der auch das Fest mit-
machte, wurde tiefernst und brachte bald den Kaiser
fort und war sehr besorgt um ihn.

LVIII

Die bunte Krankheit

Doch mitten in all diesem Scherz kam plötzlich
ein furchtbarer Ernst hinein: an der Sturmküste er-
krankten plötzlich in einer Nacht über dreihundert
Personen.

Und diese Krankheit war unheimlich: der ganze
Körper wurde ganz bunt und fing an zu opalisieren.

Und mit blitzartiger Schnelligkeit verbreitete sich
die Krankheit iiber das ganze Reich; die Kranken
lagen reglos da mit lächelndem Gesicht, und dabei
spielte ihr Körper in tausend Farben, als wollte er zu
einem Irrlicht werden.

LIX

Die Ärzte

Die Ärzte erklärten sämtlich einstimmig, dass diese
Krankheit mit dem Meeressumpf und den Irrlichtern
zusammenhängen miisse.

Und das erschien Allen sehr natiirlich, da die
bunte Haut der Kranken sehr bald zu leuchten begann.

Die Kranken lächelten nur und erklärten immer
wieder, dass sie sich sehr wohl befänden, konnten
aber kein Glied bewegen und nahmen auch gar keine
Nahrung zu sich.

Die Festfreude verstummte plötzlich; Jeder sah
mit entsetzten Augen seinen Nächsten an und fiirchtete
immer, dass er bunt werden wiirde.

Die Ärzte isolierten die Kranken, aber sie erklärten
auch gleich: „Eigentlich hat das garkeinen Zweck.“

„Was kommt jetzt?“

Das fragten jetzt alle Utopianer täglich hundert

Mal.

LX

Das neue Delirium

Das Lächeln der Kranken machte nach einigen
Tagen einen furchtbaren Eindruck — es war so, als
erstarrte das Lächeln. Und dabei sprachen die Kranken
ganz ruhig von der Herrlichkeit des Sterbens.

Ein alter Botaniker sagte, während sein Gesicht
das erstarrte Lächeln zeigte und seine ganze Körper-
haut in blauen, roten und grünen Farben leuchtete und
flimmerte:

„Das hätte ich doch nie geglaubt. Ich fühle, dass
ich sterbe. Und ich fühle, dass ich so glücklich bin
— wie ichs noch niemals war. Es geht die ganze
Welt mit mir zusammen. Grosse Wolken schaukeln
mich und umhüllen mich. Ich versinke und sehe un-
endliche weiche Räume mit stillen Rauchstreifen, die
sich um meinen Hals winden. Das Sterben ist herr-
licher als alles Leben. Ich will sterben und mich auf-
lösen und fortschweben und vergehen. Es ist nicht
zu beschreiben. Aber es wird immer köstlicher. Alles
wird so weich und warm. Ich versinke. Es schwimmt
alles. Ich sehe nicht mehr. Ich fühle nur — so als
wenn die ganze Welt mich leise zusammendrückte.

Ein Duft von sterbenden Blüten! Und es geht in
meinen Hals, und ich schmecks mit meinem ganzen
Innern. Jetzt steige ich auf — wie Rauch zu den
Wolken. Und nun langsam fallend seitwärts in immer
wärmere Welten — die seh ich glühen und brennen
Ich verbrenne. Unbeschreiblich I Köstlich! Das
Sterben ist es wert, dass man gelebt hat! Ich
sterbe.“

Der Kranke starb aber noch nicht, dafür wieder-
holte er in ermüdender Eintönigkeit immerfort diese
Reden von der Herrlichkeit des Sterbens.

Und die anderen Kranken sprachen ein Aehn-
liches.

Und die Aerzte sagten kopfschüttelnd:

„Das ist das neue Delirium.“

Fortsetzung folgt

Ein Brief meiner Base
Schalöme

Liebe

Im Hafen von Konstantinopel liegen goldene Bote

— Sterne. Ich bin im Palaste meines Gross-

oheims; wir Basen aus Bagdad duften nach altem Ge-
mäuer, wir Prinzessinnen vom Tigris tanzen mit stummen
Gliedern. Und ich verstehe die Sprache der Frauen
des Harems nicht. Weiss nicht, was sie veranlasst,
sich zu freuen oder sich gegenseitig zu überwerfen.
Sie sprechen nicht ihre Sultanssprache: „Wir sprechen
parisisch“, erklärt mir die Kleinste; ihre Haare sind
rot, chik. Manchmal summt sie hüpfende Lieder, Ich
hungere, schwebe über die bunten Mosaikbilder der
Böden; ich fürchte mich vor den bösen Speisen und
Getränken, die heimlich in die Frauengemächer ge-
schafft werden. Verbotene Fleische essen sie und rote
und gelbe murmelnde Getränke trinken wir, unsere
Köpfe schaukeln immerzu. Auch schäme ich mich
vor dem Eunuchen, seine Augen stehen vornüber,
kranke Greise. Wenn ich an unsern Eunuchen denke

— runde Mannakuchen sind seine Backen und seine
Stimme dudelt lustig wie Gauklerflöten. Ich wollte, ich
wäre wieder in Bagdad. Hier sitzt auf dem schönsten
Kissen der Eunuche. Meine Tante und ihre Töchter
knieen um ihn, ein Kranz von bunten Farben, sie
tragen alle weite Hosen und meine älteste Tante eine
weite weite aus geblümtem Brokat. Mich langweilt
ihr Lachen und ihre entblössten Gebärden, ich möchte
ins Bad steigen, aber ich schäme mich vor der kriechen-
den Stimme des Eunuchen meinen Schleier vom
Antlitz zu heben. Meine älteste Tante in der über-
weiten Brokathose beginnt sich zu entkleiden; neu-
gierig folgen die anderen Frauen den Belehrungen des
Eunuchen. Ein grosses Buch mit grausamen Bildern
breitet er auf dem Teppich hin. Seine Stimme
schlängelt sich ein lüsterner Bach um die fiebernden
Sinne der Frauen. Hinter dem Vorhang unter der
Taube Mohammeds, die sanfte Behüterin des Harems,
stehen scharfe und zackige Gestelle, Peitschen und Pech-
fackeln. Meine Tanten und Basen haben mich heute
Abend ganz vergessen; ich weiss nur, dass sie so spitz wie
Dolchstiche durch meine Träume schreien wie Mütter,
deren tote Kinder ihre Leiber zerfleischen. Ich bebe,
der Eunuche ergreift eine der vielfältigen Peitschen;
in Bleikugeln endet jeder Riemen; er wetzt sie einige
Male wagerecht in der Luft, lässt sie dann langsam
herab auf den weiten überweiten allerwertesten Voll-
mond meiner ältesten Tante prallen, die ihn, ich
schwöre es bei Allah, nach allen Seiten hin ihm zuwendet,
mörderisch aufschreiend, kokett die Zähne zeigend.
Auf dem Divan sitzen ihre Töchter; neidisch ent-
blössen sie ihre Brüste, die blühen in gespren-
kelten Goldnelken. Der Eunuche entnimmt dem
Vorhang kleine spitze Nadeln. Ich schleiche leise auf
Vieren über den Teppich aus dem Frauengemach und
stehe hinter dem Fenster des Vorraums. Ich möchte
in eins der kleinen Sternbote steigen, auf dem Bos-
porus — der Himmel ist ein einziger grosser Stern.

Else Lasker-Schüler

Kants Vermächtnis

Von Dr. S. Friedlaender

Schluss

Schopenhauer verdankt das Beste seiner genialen
Natur. Aber fast wird man zur Wiedererweckung des
Glaubens an die Lehrbarkeit des Genies geneigt ge-
macht, wenn Kant das Beispiel gibt, dass es dem be-
harrlich angewandten Scharfsinn Iangsam gelingt, die
Stelle zu erreichen, wo der geniale Tiefsinn ihn plötz-
lich auf seine Fiügel nimmt. Kant arbeitet im
Schweisse seines Angesichts. Er trägt und schichtet
seine Gedanken aufeinander wie Steine zu einem Bau,
und es entsteht wirklich mehr eine Gedankenruhe als
ein eigentlicher Gedankengang. Wehe dem Schüler,
der nicht mit allen Gliedmassen zu Verfügung steht,
die weiten Umfänge, Trepptn, Stiegen, Säle, Kammern
und die geheimnisvolle Eingeschachteltheit dieses Ge-
dankenburgbaues selbst zu durchforschen. Nichts be-
müht sich zu ihm heran. Hingegen Schopenhauers
Denken ist ein reissender Adlerflug. Fast gerät man
ausser Atem, so schnell wird man davongetragen. Es
droht hier die Gefahr, bei Autor und Leser, dass sie
die Widerstandskraft gegen diese Windsbraut von Ge-
danken nicht gehörig aufbieten können, ja, sich aller
eigenen Bewegu'ng entübrig^ erachten. In diesem ge-
nialischen Automatismus der Gedanken kann die Be-
sonnenheit leicht lädiert werden. Eine gewisse furiose
Blindheit macht sich denn auch im Verfahren Schopen-
hauers bemerkbar. — Auf Grellste in die Augen sticht
der Unterschied der Charaktere bei einer vergleichen-
den Lektüre der Korrespondenzen Ein urbaner Ton,
eine feine, leise Heiterkeit, eine gewisse konziliante
Festigkeit, ein mild abgemessenes Wohlwollen sind für
Kant bezeichnend. Schopenhauers Briefe strotzen von
prachtvollen Menschlichkeiten. Man bewiese einen be-
denklichen Mangel an Takt und Humor, wenn man es
übersich gewänne, diese naturalia turpia zu finden;
und man beraubte sich des köstlichen Schauspiels, mit
allen Arten und Unarten die Kindlichkeit eines grossen
Mannes aus nächster Nähe zu beobachten.

In beiden Denkern schätzen wir metaphysische
Kräfte ersten Ranges. Beide muten uns an wie
Extreme derselben Tendenz, wie Pole derselben Kraft.
Wir sehen Kant, der Metaphysik Einhalt gebietend, sie
ernüchternd, erstickend, fast ertötend — und doch
unter der Hand zur Hoffnung ermutigend mit erhabenen
Postulaten: sehen Schopenhauer, sie bis zur Glut
ihrer Sehnsucht entflammend, beinahe das Zeitalter der
Magie, der Experimentalmetaphysik heraufführend —
und aber zuletzt desto gründlicher von Welt und Wissen
abgekehrt.

Seit Kant ist die Metaphysik nur scheintot: wie
hätte er zweifeln können, nachdem er ihr die falschen
Flügel ausgerissen hatte, dass ihr durch eine unausrott-
bare Sehnsucht natürliche nachwachsen würdenl

Also einerseits sehen wir das metaphysische Be-
dürfnis auf das knappste Mass der Befriedigung ein-
geschränkt, gerade um es zu stärken; andererseils zur
masslosesten Sättigung gereizt, um es schliesslich
Hungers sterben zu lassen.

So sind es denn gleichsam die Hemisphären der
Philosophie, die einander zu deren runder Vollendung
entgegenstreben.

Als eine noch unüberwundene Krisis zwar ist die
„Kritik der reinen Vernunft“ über den metaphysischen
Trieb verhängt: aber wer die Entscheidung hier her-
beiführen möchte, der müsste die vorhandene, aber
gleichsam illegitime Abstammung Schopenhauers von
Kant nachträglich strikte so zu legitimieren verstehen,
dass uns kein von Kant ins Nirwana gescheuchter, sondern
ein hienieden gebändigter Schopenhauer erstände.

Hier steht man lange schon zaudernd an der
Stelle, wo sich endlich das Geschick der Meta
physik entscheidet. Der Widerstreit beider Charaktere
erheischt eine höhere Ausgleichung. In welcher Richtung
sollen wir sie suchen?

Man muss sich davon entwöhnen, die Person
und das Werk eines Meisters als vollendete Tatsache
anzusehen; denn gerade darin besteht seine unsterb-
liche Meisterschaft, dass er nicht aufhört zu leben,
sich ins reifere immerfort zu verwandeln, immer
höherer Vollendung fähig zu werden. Kants Werk, so
wie es vor uns liegt, endgültig hingenommen, würde
sich der Verehrung nicht mehr gewachsen zeigen. Eben
diese Kraft, die in ihm liegt, sich selbst hinter sich
zu lassen, der zwingende Antrieb zur eigenen Neuer

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