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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 34 (Oktober 1910)
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [2]
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Rittner, Tadeusz: Moral der Lotterie
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0274

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Moral der Lotterie

Von Thaddäus Rittner

Die meisten sind dagegen (aus moral'ischen
Oründen). Ich bin dafür (aus den glieichen Grün-
den). Man dürfe das Wort Qlück (im Sinne „gün-
stiger Zufalll“) gar nidht in seinem Vokabularium
haben (sagen die meisten). Man müsse allles auf
die eigene Arbeit setzen. Der Gedanke an das
Giück verderbe gute Sitten. Das ist Uebertreibung.
Und mit Rüdksidht auf das aflgemeine Ueberhand-
nehmen der Arbeit sogar gefährfidh. Es ist hödhst
unsittKdh, alles auf den trivialen Nexus von Lei-
stung und Lohn zu gründen. Ohne die Vorstellung
„es gibt noch etwas darüber“ ist eine würdige
Existenz schwer denkbür.

Gebt uns „etvvas darüber“ in besserer Qualität
und wir nehmen es an. Wenn nur der Gfaube da
wäre. Aber die Mehrzahll ist in dieser Hinsicht
impotent. (Man kommt dafür nicht in die Hölie;
es ist eine Frage der Konstitution.) Und selbst
die potentesten Bauern und Droschkenkutscher
braudhen da Stimul'antia. Die Sonntagspredigt wirkt
imtner sdhwächer. Und daran ist nicht der Seelcn-
hirt, sondern die Gewohnheit sChuld. Es sei meinet-
halben in schlechterer Qualität, aber — „praktisch“.

Die Sonntagspredigt kann niCht ziehen, denn
sie ist |nur Zercmonie. Vielleidht war sie einst
mehr, aber sie hat sic’h in punkto Aktuafität ver-
nachlässigt. Oeffentliche Reden und Zeitungs-
artikef müssen — so gemein es ist — aktuell blei-
ben, sonst gähnt die zuhörende Gemeinheit.

Die Lotterie ist aktuell: denn sie nimmt Be-
dadht auf meine Schneiderschulden von gestern und
auf meinen leeren Magen von heute. Sie berück-
siChtigt liebevoll Öen Plan meines leichtsinnigen
und geldlosen Bruders, sich ein Palais aüf der
Ringstraße zu bauen. Sie wurzeft im Leben, wie
der „New York Herald“ und wäChst trotzdem hoch
„darüber“ wie der Kölner Dom.

Die Lotterie ist deshalb über dem Alltag
(obwohl sie ihn berüCksiChtigt), weil sie sich um
seine Logik nicht kümmert. Sie triumphiert über
den Satz vom zureichenden Grunde. Sie ist un-
berechenbar wie alles Göttliche. Ein Ungerechter
ist ihr oft l'ieber als zehntausend Gerechte. Sie
verspricht dem fetzten, er werde am Tage der
Ziehung der Erste sein. Und er gfaubt ihr mehr
ate dem Sonntagsprediger. Ja, er glaubt ihr sogar
nach dem Tage der Ziehüng. Und nach fünf-
hundert weiteren Ziehungstagen. Er glaubt. Er
blic'kt zum Himmel hinauf, anstatt mit Neid auf
den reichen Nächsten zu bficken. Die Hoffnung
auf den Treffer führt direkt zum lieben Gott. Sie
besänftigt die brutal'sten Appetite und erhellt die
finstersten Diebsgesichter. Sie hypnotisiert wie
„das bessere Jenseits“.

Nirgends ist der l'iebe Gott populärer als in
Neapel, wo alles Nummern träumt. Dort ist das
Lotto ebenso eine religiöse Angelegenheit wie das
Blut des S. Gennario. Es sind keineswegs zwei
Konkurrenzgeschäfte; es ist geradezu ein Unter-
nehmen in zwei Formen. Die beiden moralischen
Anstalten unterstützen einander und repräsentieren
eine Idee. Man setzt auf das Ffießen des Blutes
oder auf die Nummer 37; auf jeden Fall plaziert
man seine Hoffnung hübsCh hoch, in den Wolken.
Und üarauf kommt es an. Nur Individuen, die
ihre Hoffnung niedrig plazieren, sind hoffnungslos
niedrig.

Deshalb bin ich gegen die Abschaffung des
Lottos. Und iCh freue mich, djesmal den Staat
auf meiner Seite zu vvissen. Der ist ja ebenfalls
dagegen (wenn auch l'eider . . . n i c h t aus morali-
sChen Gründen).

Das Mysteriuin Jesu

Von Peter Hi'le

Aus dem Nachlass

Heimkehr

Nun war die Zeit vorbei, das Geräusch der
Beendigung kränzte die lehrende Stille, die Gottes-
erörterer gingen auseinander, und freundllich, aber
als sei niChts gesChehen, ging Jesus auf seine Eltern
zu. Diese SiCherheit und das Fremde, das Anders-
artige, dem der fast noCh kindliche Sohn so un-

heimlich selbstbeschlossen sich gewidmet hätte, er-
bitterte die natürliche Mutter, die menschliche
Maria.

„Mein Sohn, wie konntest du uns das antun?
Siehe, dein Vater und iCh haben dich mit Schtnerzen
gesucht ... drei Tage! O mein Sohn Aber

auCh die Bestimmtheit des Sohnes, des Gottes-
sohnes, niCht des Menschenkindes nimmt herbe
Färbung an. Schon früh scheiden die Wege sich
zwisChen Göttlichem und Menschlichem, dem All-
gereChten und dem Verhältnisbefangenen, dem
Seefentiefsten und dem nur HäusliChen. Da sah
auCh Johannes tnit frohverkllärtem gefährtenstolzem
Anteilantlitz aus den ZusChauern hervor zu seinen
Verwandten.

Dessen Eltern waren nicht mitgekommen, hätten
Maria und Josef die SaChe überlässen; wußten sie
nicht schon, daß, wo Jesus sich befand, da auch
Johannes zu finden war.

„Warum habt ihr mic'h gesucht — wußtet ihr
niCht, daß ich in dem sein mußte, was meines
Vaters ist?“ Indes, der Ton, dieser harte Ton
bl'ieb niclit stehn, und sofort erklärte der Knabe
sich bereit, mit seinen Eltern den Heimweg an-
zutreten. Und drinnen in Nazareth, in der Zim-
mermannshütte, war er der gehorsame, sanfte hilfs-
anstellige Sohn des Handwerkers in schlichter froher
Arbeit. !Nur der Rost der Arbeit, Rauheit der
Gebärden, des Wortes und Tones, Unzufriedenheit,
Murren und häßliches Begehren blieben diesem
Hause fremd, diesem Muster erlesener Höhe auCh
in Niedrigkeit.

Und stark, in sich gekehrt blieb beflissen Jo-
hannes. Meist war er mit Jesus, doch oft suchte
er auch die Einsamkeit.

Dle Stimme des Rufenden in der Wü c.te

Bald hörte man von einem jugendstarken
Mahner in der Wüste, der sei von erschütternder
Macht und Wucht der Rede, sein Körper sei über-
aus sehnig, stark und ringend, er gürte sich in
Felle, lang wehe ihm Bart und Haar, und nur die
herbe Gabe der kargen Wüste: Honig und Heu-
schreCken nehme er zur Nahrung.

Noc'h stand das Morgenrot am Himmel, da
trat Jesus gerüstet und mit Sandalän an den Füßen
Vor seine Eltern, die ehebevor sie das täglidhe Werk
begannen, den Preis Jehovas sangen und seine
Gnade auch über diesen Tag herabriefen. AIs sie
damit geendet hatten und nun sich zum Frühmal
setzten, MilCh und Brot, um sich zur Arbeit, zu
all der Mühseligkeit des Tages zu stärken, trat der
Gottessohn auf sie zu und sprac'h: „Meine Stunde
ist gekommen! Es ist Zeit nun, daß ich hinaus-
gehe, um das Reich meines Vaters seinem Volk
zu verkünden. Idh muß euch verlässen, doch mein
himmlisCher Vater wird euch trösten und euch bei-
stehen, und mein Gebet wird um eudh sein immer-
dar. Aber es ruft die Stunde, und idh darf keine
Zeit mehr mit euc'h verbringen. Wie du ausgießest
ein Gefäß und das Wasser zog in die Erde, und
tränkte die Blümen des Feldes, so soll auch das
Leben des Menschen seine Bestimmung erfüllen.“

Maria stand auf und ltegte ihr Haupt an seine
IBrust, der pflichtfeste Sohn ließ sie eine Weile
dort ruhn, da nahm er sanft Ihre Hände: „Du
wirst midh wiedersehn, Mutter, und Trost haben bis
an dein Ende!“

Josef, dem greisen, an den sdhion das After
rüttelte und ihn zittern machte, ward der Bissen
schwer und schrammend: „Und wann sehe ich dic’h
wieder?“ und sah ängstlidh auf.

Jesus aber wies nach oben, und trat hinaus
und ging durdh den Ort mit starkem, gleichen
Schritt, ohne sich umzusehen. Das Mahl aber blieb
unangerührt.

Um den Verweisenden in der Wüste standen
reiche, vörnehme, weichliche Würdenträger, die
Neugier hinaustrieb, die stehend sidh erschüttern
ließen, gehend überlegten, nach Hause gekommen
witeder anlegten das Gewohnheitsgewand.

Er überragte sie alle mit seinem ganzen Haupt,
seine kräftige gereifelte, dunkelrötliche Manneslippe
zittert vom Schwung der Kraft seiner Rede. Seine
schwarzen Augen äugen sittlich kühn in die Ferne,
und der starken Brauen schwarze Bogen sind warm
und reich von kräftiger Seelengröße, und ausgiebig
frohter Wiffenswudht, Willenswucht, die auch dann
nicht schlief, wenn leise die Sprache war. „Ihr
kommt hinaus, weil ihr übersättigt seid mit Sdhön-
geschwätz, weil ihr stumpf seid, daß meine Rede
euCh angenehm errege. So rede idh euch nur tiefer

hinein ins Verderben, da ich doch zu eurem Heil
rede.“

Nun sdhob er alle beiseite, trat mit mächtigem
edlem Sehritt durch die Schar, und beugte sich vor
ihm, der einst sein göttlicher Gespiele gewesen war.
Dann spraCh er zu der Schar, der bunten von
Weibes- und Würden-Gewand: „Entfernt euch, der
Heiländ ist gekommen, dem idh nicht würdig bin,
die Schuhriemen zu lösen — und ihr seid seiner
noch nicht wert“.

Und Jesus sah' zu dem Bräunlichstarken, dessen
wüstenheiße Seeltenglut und Siedlerkraft ihn de-
mütig anblickte, freundlich mitteilend hinauf: „Ich
möchte von dir getauft werden!“

„Du von mir?“ entsetzte er sidh. Gfeidhwohl
gehorchte er. Eine goldene Schale aber war das
sonnige Jordantal. Dann sChieden sich Beider
Wege. Jesus nahm das friedlich stille Land, darin
zu Itehren. Johannes aber zog in die purpurtosende
Hauptstadt, um dort inmitten pfauenäugig schif-
Iternden Stolzes und prächtiger Zusetzung das ernste
Wort des rauhen Heils zu künden. Umwundert,
umspottet zog dies rauhe Wort der Wüste die
Straßen hinan bis VOr die Hofburg. Auch hier
sprangen vor ihm auf die mildgoldenen Pforten
und bald brach sich seine herrliche Stärke an der
glätten Härte des Marmors und noch härterem
Fürstenherzen.

Die Versuchung

Früher suchte man die Thebaide auf. Nun trägt
man sie in sich. Oft rnehr als lieb'. Die Wüste
war Unmittelbarkeit des Seelenlebens. Grauen vor
dem gebetbuchsatten Philistertum der Pharisäer.
Gewiß ist das gänzliche Ablassen von der Erde nur
eine Insel des Göttlichen im Leben, aber eine selige
Insel: wo nic'hts Menschliches lebt, da ist alles
göttl'ich.

„Reißt du sie aber zu früh mir wieder auf,
Satan, die Tür des Ffeisches, winke ich selbst meinen
Leib wieder herbei, dann ist viel Wachstum des
Geistes verloren.“

Wie eine Krone zadkt sicli die Stadt. Auf der
Zinne des Tempels steht Jesus und sieht hinab.

„Stürz dich liinab, greif mit magischer Macht
diese Krone.“ Ihm zur Seite wiegen sich die I'istig
sdhlängelnden Mienen des Versuchers, der anmutig
ist und schön in seiner läuernden Schmeichelgestalt.
Jesus begegnet ihm ohne Sc'hwäche und ohne
Hochmut. Nur seine Seelengeradheit stellt er ihm
entgegen. Ein Blick seines gottnüchternen Lebens
ltegt dem Versucher all den Aberwitz seines Be-
ginnens wieder vor die Füße. „Magische Eitelkeit
zersCheit.“ Des Torensinnes (der Schlauheit, an
göttlich Weltdurchdringende auch nur heranzu-
rollen. Und doCh ist Jesus dankbar. Versuchung ,
übt. Blöde Unsdhuld erträgt schon der vorwärts
dringende Mensch nicht. Heran muß die Fehle auch
an den ins Leben tretenden Gottessohn, nur hinein
zieht sie jhn nidht.

Im Sündenfall bereits liegt dieser Sinn. Aus der
Starrheit des alten zur Gewandtheit des neuen Glau-
bens. Das Unversuchte yviderspricht dem Gott-
mensdhlichen. Der Gipfel ruft, das freudeglänzende
Tal kommt näher. Wie Worte, MaChtschlüssel des
eigenen Lebens, jden MensChen suchende Pforte.
„Sieh, das sind deine Sklaven.“ „Nur wer die
Teilte flieht, oder recht sie zusammenlegt — der hat
das Ganze. Nein, sie sollen sie selbst sein. Dann
sind sie meines Vaters ,der im Himmel ist, und
mein, der sie lliebt wie ihr Leben.“

Auch Schatten und Mängel sind zur Vollkom-
menheit notwendig, die Welt erheischt sie zu ihrem
höheren Sinn, um über sich hinauszudeuten. Nun
verfieß den reinen [Sohn der Höhe der Geist der
Finsternis, das LiCht kam und umharrte seine
Befehle.

Acker und Ackerer

Der ltetzte (Genuß, den ein MensCh oder Volk
noch sidh zu bereiten vermag, ist die Schulmeisterei,
die selbstgefällige jStrenge äußerliCh leerer Regel.
Dann bringt |man sein Wesen aufs Kleid. Unter
lauter Geboten verliert siCh das Gesetz. Zu unter-
weisen findet rnan nichts, es fehlt die Frische auf-
merkender Schülter, und w,äre sie vorhanden, man
vvürde sie nicht (erkennen, ihren Drang und ihr
ReCht nicht verstehen. Zu echter Lehre gehört Fülle
des eigenen Empfindens, e.in Jünglingstum der
eigenen Seelte, und straffe, männlidhe Meisterschaft
saftreiCher, wohlVorbereiteter Oeistesgaben.

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