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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 23 (August 1910)
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Blümner, Rudolf: L'amour à l'allemande
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Lantz, Adolf: Der Freud
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0184

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,Was hat man in Deutschl'and davon, daß man
sexuell normal zur Welt gebracht wurde? Es ist
bei uns wlrklich zum Homosexuellwerden. Dieses
kinderreichste, aber zur Liebe talentloseste Land
erkennt offiziell die Existenz der GesChlechter nicht
an. Alle Kräfte dieses Landes haben sich vereinigt,
den natürlichen Grad der erotischen Hemmungen
zu steigern, bis das gepeinigte Individuum per-
ver’tiert. In diesem Lande ist die verfolgte
Perversität ein Produkt der erotisChen Talentlosig-
keit.

Deutschland, DeutsChland über alles: Ein Land,
dessen Gesetzgebung jeden außerehelichen Ge-
schlechtsverkehr mit dem pfäffisch gemeinen Wort
Unzucht brandmarkt. Ein Land, dessen oberster
GeriChtshof die im höchsten Sinne sittliche Ehe,
die sogenannte wilde Ehe, fiir unsIttliCh erklärt. Ein
Land, das zwar sö weriig wie irgerid eines den
Segen der „Prostitution“ entbehren kann, die
„Prostituierten“ aber nicht als Wohltäter der
Menschheit anerkennt, sondern von Haus zu
Haus jagt. Ein Land, in dem ein Mädchen,
das ein Verhältnis ’hat, mit gesellsChaftliCher
Verachtung bestraft, und ein Mädchen, das ein
Kind bekommt, verstoßen wird. Ein Land,
in dem Kirche und Polizei, Gesetzgeber und
Richter, ja sogar die Schauspieler, vertreten durch
ihre Genossenschaft und ihr Rechtsschutzbureau,
mit der Leidenschaft geistiger „Voyeurs“ und der
GehäsSigkeit der Vagina-Neider Jagd auf den aüßer-
ehelichen Beischlaf machen. Ein Land, dessen
Hoteliers, Portiers,, Haus- und Zimmervermieter die
Geschlechtslosigkeit aller unVerheirateten Personen
anordnen. Ein Land, dessen Männer siCh für be-
rechtigt halten, die Mädchen, mit denen sie sich zu
Bette legen, für geringer als Ihresgleichen zu
aChten. Ein Land, in dem durch jede erdenkliche
erzieherische und gesellschaftliche Entfremdung
zwischen Männern und Frauen zur Onanie erzogen
wird. Ein Land, das durch Gesetze und gesell-
sChaftliche Brutalität seine Mädchen so ängstigt,
daß neunzig Prozent (hauptsächlich in den soge-
nannten besseren und höheren Kreisen) einer oft
durch die Ehe kaum zu beseitigenden Onanie ver-
failen sind. Ein Land, in dem jedeS Kind als ver-
diente Strafe für sündigen GesChiechtsVerkehr wjllig
hingenommen urid die Abtreibung barbarisch be-
droht, verfolgt und bestraft wird. Ein Land, in
welchem Eltern, die ihre Tochter oder ihren Sohn
mit ihrem Verlöbten schlafen lassen, zu Kupplern
werden. Ein Land, in dem die SinnliChkeit der
Frauen für Hysterie urid Geistesgestörtheit erkiärt
wird. Ein Land, das durch die Größe seiner sexu-
ellen Lügnerei und Heuchelei Mädchen und Frauen
zu jener erkaltenden Rüeksichtslosigkeit und Un-
liebenswürdigkeit gegen die Männer zwingt, die vön
der Ricsenschar unserer beliebten FamiliensChrift-
steller und Afterpoeten als „zarte KeusChheit“ ge-
lobt und besungen wird — — — das ist jenes
offiziell-antierotische DeutsChland, das im Kinder-
kriegen an der Spitze der Völker marschiert, wo
es aber doCh keine Lust ist, zu lieben. Um die bei
unserem Volke offenbar mehr als ; irgendwo ge-
fährdete Sittlichkeit zu schützen, verfolgt man die
«üßereheliche Liebe und züchtet, unterstützt von den
deutschen Frauen, le vice allemand, das deutsche
Laster. Es ist wirklich zum homosexuell werden.

Or, on se trompe un peu ä Paris. Mais, quand
meme, c’est une chose bien triste que Famour en
Allemagne.

Der Freund

Von Adolf Lantz

Langsam durchwanderte Amelius 1 die altertüm-
lichen verschwiegenen Gassen. Äls er nun hinaus-
trat in den Anblick des nachttrunkenen Platzes, aus
dessen Schatten und ungewissen Lichtern die alte
Kirche der Minoriten dumpf und feierlich zum Him-
mel empordunkelte, stand er betroffen, gebändigt
durch eine innere Beziehung zu dem, was ihn um-
gab. Im Flackerlicht einer Sekunde erlebte er eine
Erkenntnis, die ihn bezwang. Weit mehr als je
auf Gräbern, spürte er hier im tiefsten Wesen den
Inbegriff des Vergleitens. Aus wirkenden Formen
der Vergangenheit bebte deren Seele; er fühlte,
wie er sie empfing. Eine Sekunde lang. Dann
wars vorbej, in ihtti verglitten, ein zuCkender

Funken am nachtdunklen Horizont, der aufleuch-
tend verlösch. Alle Denkkraft Ueß nicht zur
Gegenwart werden, was er gesehen hatte. Ver-
gangenes tauchte auf alis Bild und Zukünftiges,
die ganze Regelmäßigkeit der Erscheinungen,
aber alle Gegenwart jener ErkCnntnis blieb ent-
schwunden.

Eine bange Leere, das Gefühl einer einzigen
Einsamkeit überwältigte ihn. Niemand gab es mehr
in dieser Stadt, der ihm nahe vVar, kein Wesen besaß
er, von dem ein Teil jener Kräfte auf ihn über-
strömen konnte, die beruhigen und wärmen, und die
Wucht der Lebensgeißel, einSam zu sein unter Ein-
samen, für Stunden und Tage hinwegtäuschen oder
mildern.

Irgendwo weit draußen enteilte der Zug, mit
jedem Atom von Zeit ferner und ferner, unerreich-
bar seiner Stimme, seinen Augen. Der Einzige und
Letzte, an dem er gehangen, mit dem er gemeinsam
die Ereignisse seines Daseins erlebt und genossen
hatte, der war nun fort. Dies war alles' aus; nicht
mehr werden sie zusammen die altertümlichen
Gassen der Stadt nächtlicher Weile durchschlen-
dern, nicht mehr wird eine sanfte, seltsam be-
wegte Stimme neue Dinge künden und kluge Worte
sagen, eine prunkvolle Phantasie tausend Farben in
die Welt zaubern, eine tolle, kraftvolle Laune
Funkengarben entzünden, die Feste des' Lebens zu
beleuchten und alles, was jenseits liegt dem regel-
mäßigen Pulsschlag. In einer anderen Zeit lebt nun
jener, denn et ist zu einem anderen Volk, in einer
anderen Stadt, zu anderen, grundversChiedenen Mög-
lichkeiten von Ereignissen. Und das muß sie am
meisten trennen, diese Art der Daseinsführung,
die niCht mehr die gleiche sein kann, die sich nicht
mehr in den gleichen Formen abspielt. Sie sind tot
für einander: das heißt Entferntsein. Was sind
geschriebene Worte, wenn die Stimme nicht tönt,
und aus ihr der Klang und der Rhythmus der Seele,
wenn die Augen nicht alle Abgründe und Tiefen
deuten? Nicht für die Gedariken, doch für das
lebendige Leben, das über jede einzelne Sekünde
hinwegkommen muß, ob mühsam und sChleppend
oder tanzend und fliegend, war jener von nun
an tot, urid Amelius tot auch' jenem.

Der aber wird es nicht sönderlich fühlen. Die
neue Umgebung wird Besitz ergreifen von ihm,
ein Taumel wird ihri erfassen. NiCht einsam wird
er sich morgen dünken, niemals einer bangen Leere
wehrlose Beute sein tagaus, tagein, fort und fort.
Denn jenem wechselt Lust und Leid, da er die
Kraft hat, sich selbst Fröhlichkeit zu erwecken und
sie zu verbreiten.

Amelius aber wird warten.

Er kam sich plötzlich ohne Zusämmenhang vor
mit der Welt, ohrie jede richtige Beziehung zum
Leben. Eine Leere gähnte in ihm, er wußte nicht,
jyqs sie bedeutete, er empfand nur, daß sie sich
auftat, als der Zug aus der Halle fuhr, und sich
immer tiefer in ihn hinabgewühlt hätte, am Wege
durch die leeren GasSen. Als wäre jener seine
Lebensfreude gewesen, seine Möglichkeit zu ge-
nießen, sein körperlicher Anteil am Dasein! Dunkel
und verhüllt tauChten mit einem Mal die Hinter-
gründe auf am Bild seiner FreundsChaft. Ein Schäu-
der überlief ihn vor dumpfen ErsCheinungen, die
er sah.

Von der Turmuhr schlug es zwölf. Düster
dunkelte die alte Kirche der Minoriten zum wolken-
finsteren Himmel empor. Müde Ruhe umhüllte
dichter die verborgenen Wunder versunkener Jahr-
hunderte. An mächtigen, künstvollen Portalen,
ihren versteinten Gestalten, vielverschnörkelten Zier-
raten und Gebilden, den hoChgewölbten verschlosse-
nen Eingängen menschenleerer Paläste, an schla-
fenden, verträumten GasSen und Giebeln vorbei,
glitten Erinnerungen. Eine schwelgende Stille, als
hielten alle Geräusche des Lebens den Atem an,
geheime Zwiesprache zu erlausChen von tiefgründi-
gen Wassern, in marmornen Brunnen gefangen,
mit verwittertem Gestein, gebeterfüllten Lüften, ver-
rosteten Kreuzen und zeitzerfressenen heiligen Zei-
chen. Das Schweigen erhöhend, umschwebte das
dunkle Gemäuer ein Rauschen, als suchten ins Un-
endliche entflohene Orgelakkorde sich wiederzufin-
den, durch hohe Spitzbogenfenster, Mauerritzen und
Turmluken ins Innere des Doms zu dringen. Die
Luft trug die Schwere der Stimmung, leichte Schauer
verströmten in ihr. Aus unheimlichem Winkelwerk
verwitterter Steinquadern löste es sich 1 ab, ein un-
förmiger Klumpen, lautlos und langsam, bewegte
sich auf Amelius zu, stand nun nahe vor ihm.

„Sie kennen mich. — Tobias Bols. — Sie er-
innern sich: vorgestern auf dem Ball.“

Amelius sieht den kleinen Raum an der Seite
des Saales. Weiche, sammetüberzogene Fauteuils,
zierliche, vergoldete Rokokotischchen. Darauf hohe
Champagnergläser. Auf schlankem dreifüßigen Ge-
stell Eiskübel, die goldenen Hälse der Flaschen
leuchten. Durch portierenumsäumten, schmalen
Eingang Bl'iCk in den lärmenden Saal: Strahlende
Lichter blenden, Paare gleiten vorüber, der Duft
feiner Parfüms strömt herein. SChwelgende Klänge
schweben gedämpfter, verstecken sich in den Falten
der Portiere, ertrinken in Champagnerperlen. Heiß
weht der Atem des Festes. Ein unendlicher Rhyth-
mus von Leben und Fröhlichkeit, Spiel und Flam-
men, Neigungen und Leidenschaften. Die Seele fließt
hinüber in den Reigen, sclnvingt jubelnd mit. Nach
Lust und Verzückung verlangt der Körper. —
Ruhig, ruhig! — Die Augen schließen, sich zurück-
tehrien! Hinab mit der Seele, hinab mit den Wün-
schen! — Amelius kann nicht tanzen. Sein Körper
ist zu feig, oder zu gelassen und träge.

Gegenüber in der ECke hockt ein ver-
wachsener, höckeriger Mensch. Sein Gesicht ist ab-
stoßend, eine Grimasse ohrie Inhält. Seine Augen
stieren in das Licht draußen, als wollten sie es
trinken. Ein junger Mann eilt herein, erhitzt, ein
seidenes Taschentuch in der Hand. Schwer hängen
weiche, dunkle Locken in eine offene Stirn. Schlank
und kraftvoll ist die Gestalt, der Mund herb, die
Züge stark und entschieden. Der Krijppel füllt rasch
und dienstfertig ein Glas und reicht es jenem, der
es hastig leert, wieder in den Saal stürzt; oft
gleitet sein Schätten draußen vorbei, versChlungen
im Tanz mit schönen Frauen.

Jetzt sind sie wieder allein, Amelius und der
Krüppel. Irgendeine Beobachtung bringt den
drüben zum Spreehen. Ein Gespräch entsteht. Sie
werden bekannt. — Tobias Bols. — Amelius. —
Beide warten. Jeder auf seinen Freund. Von Zeit
zu Zeit in den Pausen kommt Besuch. Am Arm
begehrender Frauen, erhitzt und dem Rausch des
Festes hingegeben, der Freund des Krüppels. Er
komrnt nur, um Champagner zu kredenzen und
selbst zu trinken. Eine Flasche nach der andern
wird leer. — Amelius freut sich beim Anblick jenes
Menschen. Er neidet ihm den Reichtum der Natur,
das Sieghafte seines Wesens. Ein körperlicher
Schmerz erfaßt ihn vor dem Krüppel. Wie ein
schartiges Messer reißt seine krächzende Stimme
Wunden in die Seele.

Merkwürdig, wie? — Zwölf Uhr, Minoriten-
platz. Unvermutet, das Zusammentreffen. Herr-
lich hier, wie? Absolutes Mittelalter. Stehe schon
länge da, länger als Sie. Ebenfalls Liebhäber dieser
Stimmung. Aber allein. Sie haben mich gestört,
ich will es nicht leugnen. Peinlich, sehr peinlich.
Wollte warten, bis Sie weiter gehen. Verlor die
Geduld, trat näher, erkannte Sie sofort. — Es ist
kält, finden Sie nicht? Zu mindest kühl. Ich friere,
Sie nicht, wie?“

Kratzend und abstoßend klingt es, fieberhaft
und erregt. Amelius spürt ein unheimliChes Schau-
dern. Sein Kopf schriierzt, eine bange Unsicherheit
befällt ihn:

„Ganz geheimnisvoll ist dieser Platz,“ sagte
er. „Wie ein Traum, dem Antwort wird.“

„Zu Zeiten, Herr, zu Zeiten. — Es kommt
darauf an, wie Sie gestimmt s|ind. Ich kenne das:
Einbildung, zitternde Feigheit oder perverse Brunst
der Phäntasie. Da irgendwo in einem Winkel habe
ich’ einmal betruriken gelegen. Eine Entweihung,
wie? Unsinn! Aber ein widerlicher Zustand für
andere. Man ist ohne Zusammenhäng mit so einem,
als wärs ein Geisteskranker. Und doch, die leichte
Trunkenheit ist zu wünschen. Ein vortreffliches
Gefühl, sage ich. Man wächst, man vergißt, man
dünkt sich. Mehr Fähigkeiten waChCn auf. Bettlern
klimpern die letzten Kupfermünzen wie Gold, sie
wollen vergeuden! Mißgestaltete Körper, klap-
pernde Gerippe wollen sich verschwenden. Man
muß siCh verschwenden von Zeit zu Zeit, wenn
man teilhaftig werden will des großen Lebens ! Ver-
stehen Sie? Bestürmen muß man den Genuß, bis er
niederschlägt. Bestürmen, nicht bekriechen! Zu-
sammenbrechen unter Jauchzen, in die Kniee vor der
Gewalt der Genüsse! Dann hat man gelebt! Haben
Sie gelebt, Herr, wie? Sie haben es nicht! Ich
fühl’ das! Warum schweigen Sie? Beliebt es
Ihnen, über mich zu lächeln? Weil ich verwachsen
bin, eine mißlungene Kreatur und Ihnen vom Leben

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