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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 11 (Mai 1910)
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [7]: Ueber die Musik
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Rubiner, Ludwig: Sollogub
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0088

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Kalypso:

So laß das Wühlen in Schwermut, mein kran-
ker Freund; Rätsellöserin, Rätselvergesserin singe
ich zu Dir, denn zuweilen heißt: Rätsel vergessen
— Rätsel lösen. Zusammenhang, Gleichmaß kennt
sie, Deine tiefsinnige Kunst, wie keine andere, und
lachen, jubeln und tanzen will sie im Gleichmaß,
wie auch in Schlaf versenken, bannen und
erschrecken. —

Musiker:

Es gibt kein Ziel. Es gibt keinen Tod. Ich bin
schon Tod. Unerschöpfbar steigen die Kräfte der
wachsenden Welt auf; aus dem Nichts steigen sie
auf. Wüchse die Welt nicht, so hätte sie ein Ende,
so würde sie nicht, — sie wäre und stände still.
Aber wie ein Baum gltiht sie auf, wächst und welkt
nicht. Erhielte sie sich bloß, so wäre sie schon da,
aber sie ist nicht und ist immer unvollendet. For-
men sind? Gibt es einen Schlaf? Du sprichst
schön. Was sie Formen heißen, heißt mir Be-
stimmtheit des Weltablaufs, Bestimmtheit des
Dinges; — das Ding erschöpft sich in seinen Be-
ziehungen, ist nichts hinter den Beziehungen, nichts
mehr. Und aus den Bestimmtheiten wächst die
Ursächlichkeit; und spricht das Eigentümliche der
Bestimmtheiten aus; so viele der Ursächlichkeiten
gibt es, wie es Dinge gibt. Wo liegt etwas still,
wie bringe ich Ruhe in das Flimmern? Es täuscht
die Ursächlichkeit, so wie das Ding täuscht, sie
verdoppeln, verdreifachen und helfen nicht. Sie
gehen herum um die Beziehlichkeit und die Be-
stimmtheit. Daß aber die Welt sich so bestimmt,
wie sie es tut, — dies darf mir nlcht zur Frage
werden; denn ich will ja in der Welt verbleiben
und sie tiberdenken. Kein Festes ist sie, wenn sie
sich bestimmt, nur geträumt Festes; sie schreitet
vor; fest ist nur die Vergangenheit. Nicht notwen-
dig ist sie, noch frei im Schritt, bestimmt und
sicher immer. Die Wiederkehr, Du sagst es zwar,
Iäßt im Schritt Gesetze und eherne Bindungen er-
blicken —. Ich weiß: es kehrt vieles wieder. Ich
frage nicht, warum kehrt dies wieder? Mir fällt
dies zu den fraglosen Bestimmtheiten des Ablaufs
der Welt. Du bist eine Hellenin, oh Kalypso,
blickst nur darauf, auf die Wiederkehr, das Gleich-
maß, und preisest den Kosmos. — Ich schüttle den
Kopf tiber die, welche gar ein gemeinsames Wur-
zeln aller Erscheinungen erhoffen, welche eine
Formel finden wollen ftir die Bestimmtheit der
Welt, — nicht, weil die Formel nicht gefunden wer-
den kann, — sondern weil sie nichts sagen könnte.
Was hilfts, daß man eine Bestimmtheit heraus-
greift! In die Tiefe, Höhe und Breite wächst die
Welt unermeßlich; wir können nur immer Neues
finden und suchen, Nahes und Näheres binden, mit
ihr wachsen. Ich erkenne Gleichmaß, Wiederkehr t
und Zusammenhang an; einen Sinn hat die Welt,
den ihr der Satz der Beziehlichkeit leiht, — weiter
aber kann ich nicht, o Kalypso, nur preisen Gleich-
maß und Beziehlichkeit und immer preisen den
Baum, von dem — mir kein Apfel herunterfällt.

Schluss des sechsten Oesprächs in Nummer 12

Sollogub

Von Ludwig Rubiner

Aus Dostojewskis Dichtwerk stiegen zum
erstenmal die runden Ttirme Rußlands auf, rot von
altem Gold und Blut, und eine Luft heiß von Ge-
schrei. Als der „Idiot“ erschien, hätte Europa den
Atem anhalten müssen: hier setzte die Zeit von
neuem ein. Die Kultur Europas war im Werke
Dostojewskis zerstört worden; denn sie war durch-
schaut, und die ererbte Hemmungslosigkeit selbst-
verständlicher Gesellschaftsformen war aufgelöst.
Aber im Roman vom Idioten schossen alle mit-
schwingenden Töne, die tiber dieser buntgefleck-
ten Wut der Auflösung bisher geheim schwebten,
zu einem neuen, hellen Lichtstrahl zusammen. Dies
war die erste Erkenntnis von der ungeheuerlichen
Abenteuerlichkeit in den täglichen Erlebnissen des
modernen Menschen. Die erste Schilderung von
dem Schlachtlärm seiner Entrtickungen auf den ver-
borgenen Wegen seiner maßlosen Vereinsamung.
Das Buch zeigte den Weg der neuen Jahrhunderte
an. Die furchtbare und in den Ietzten Fernen
tobende Entrücktheit Dostojewskis warf wie ein
harter, greller Scheinwerfer die geheimen Ahnun-
gen der neuen Zeit als Tatsachen von roher, primi-
tiver Nacktheit mit riesigen Dimensionen in den

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Raum. Dinge, an denen deutsche Romantiker nur
zärtlich versteckt unter den Kostümen ihrer Fabeln
zu tasten gewagt hatten. —

Seit dem Tode Dostojewskis war die russische
Literatur eine sehr private Angelegenheit Rußlands.
Man hat Europa ohne Grund und auch vergeblich
für die höchst nationalen Eigentümlichkeiten russi-
scher Dichter zu interessieren versucht. Aber es
geschah peinlicherweise, daß Nichtrussen sofort
jenen bekannten Ton analysierender Erzählung
überall wiederfanden, der (seit seiner ersten ur-
sprünglichen Schwingung in Dostojewskis Werken)
heute den fatalen Eindruck macht, als schreibe die
russische Literatur sich von selbst weiter.

Jener alte Dichter, der jetzt in Rußland durch
die Popularisierung selbstverständlicher Gefühls-
wandlungen der Zeit als Prophet lebt, wird für
Europa zum Dichter nur durch eine grenzenlose
Energie in der stärksten Konzentration negativer
Eigentümlichkeiten. Tolstojs Dichtung gibt nicht
das, was er sieht, sondern drängt zusammen, was
er nicht sehen will. Und man erinnert sich noch
sehr einer trübseligen Beschämung, die in den
letzten Jahren der Dichtung Rußlands schnell das
jäh erwachte Interesse Europas nahm, als man er-
kannte, daß einige, in kleinsten Formen feurige
Dichter zu Ruhm nur durch eine gewisse, exotisch
gelaunte Mode gekommen seien.

Unter den kleinen Feuerwerken psychologi-
scher Amüsements konnte kein Mensch im Westen
sehen, daß drüben in Rußland in Wahrheit etwas
sehr Wesentliches vorging. Plötzlich war — und
nie begreiflich für den Westeuropäer — das uralte
Byzanz aus der Erde gewachsen, und heilige
Kuppeln stehen auf einmal inmitten einer neuen
und rohen Zivilisation. Der traditionelle Huma-
nismus Europas wird wie selbstverständlich abge-
drängt — das ist das Testament Dostojewskis.
Dort drüben steht heute der Anfang einer Kultur
ohne italienische Renaissanceformen, eine Kirche
ohne die Traditionen des europäischen Christen-
tums, und das Rudiment einer Philosophie ohne
Hellenismus.

Dieses neue Rußland hat heute schon einen
Dichter.

Fjodor Sollogub schrieb in keinem seiner Werke
nur einen einzigen Satz, in dem mit bewußter Ab-
straktion von diesen viel verschlungenen Relatio-
nen Rußlands die Rede wäre. Aber alle Dichtungen
Sollogubs sind, wie die Werke eines großen Mu-
sikers, aus allen verborgen dahinlaufenden Kontra-
punkten gewebt, die plötzlich in einer überraschen-
den Stimmung ihre innere Bedeutung und ihren Ein-
klang offenbaren. In einem Gedicht:

„Ich erhebe die schlaflosen Blicke

Und hänge den Mond in die Himmel“-

solche Worte hat man aus Rußland noch nicht
gehört.

Dieser Mann wagt alles Neue, aus einem mäch-
tigen Gefühl jener wilden, neuen, doch schon so
ornamentaJ starrenden Kultur, die ihn zu ihrem
Dichter machte. Er wagt ein Drama zu schreiben,
in dem an verschiedenen Orten und unter verschie-
denen Menschen sich jedesmal dieselbe Handlung
abspielt. Noch ist sein Roman „Leichenzauber“
nicht übersetzt, in dem eine noch nie gestattete
Darstellung von unerhörten Unwirklichkeiten nur
durch Schilderung zu einer offenbar längst ge-
kannten und selbstverständlichen Wirklichkeit zu
werden scheint.

Sollogubs Roman „Der kleine Dämon“, sein
erstes größeres Werk, das deutsch erschien, leitet
erst langsam in diese neue Wirklichkeit der Orna-
mente des Denkens hinüber. Noch steht die Welt
der alten Realität. Hier kämpft das Alte, das Er-
lernte, Geübte, die Tradition des Ichs noch gegen
neue Instinkte. Aber das Schlachtfeld ist das Ich
selbst. Ich, der Leser, ftihle, wie um mich gefoch-
ten wird; aber die Kämpfer kommen aus meinem
eigenen Ich, und wer auch siegt, es geht um mich
— ich bin verloren!

Ich bin hier der Schulmeister Peredonow.

In diesem Buche erkenne ich, der Leser, auf
einmal mit großer Furcht, daß ich auch ein Schul-
meister bin. Ich weiß alles besser, ich bin voll
einer niederträchtigen Pedanterie, spreche in
langen Sätzen Dinge aus, die meine Mitmenschen
schon lange aus der Privatlektüre ihrer Fibeln
kennen, und ich möchte den andern, der mir, weiß
Gott, dasselbe sagt, nicht zu Wort kommen lassen.
Ich ahne, daß er mich durchschaut, und ich bin
mißtrauisch. Ich wittere natürlich Intrige oder

Betrug, und darum muß er mich betrflgen, wo ich
blind bin vor Eitelkeit oder Hoffnung. Ich wende
meine ganze Kraft aufs Mißtrauen, und darum habe
ich viel Zeit dazu; so bleibt keine Minute mehr zur
Besinnung, man hat nur noch Zeit, die anderen
ganz mißzuverstehen, ihnen unrecht zu geben, auf-
zupassen. Am folgenden Tage liegt die Zeit wie
ein grauer Schleier da, ich bin darum von Wut voll
auf die andern, beobachte scharf die Halluzinationen
meines verdorbenen Magens, ftihle mich ausspio-
niert und suche rasch, noch ehe der Tag zu Ende
geht, meine Eitelkeit zu stillen. Ich werde ein ver-
zerrter Schöpfer, mein Mißtrauen schafft aus den
Menschen geheimnisvoll lauernde Kampfwesen,
die feindlich bewegt sind nach den Plänen meines
eigenen Gehirns. Aus allen kleinen Dämonen mei-
ner verdorbenen Nerven baue ich mir ein ganzes
Leben der Welt. Aber dieses neue und eigne Leben
rächt sich für seine Erschaffung, es beginnt wirklich
zu sein. Es tritt heraus aus dem Zustande des bos-
haft Visionären, und die Menschen werden umhüllt
von den Trieben, die ich aus ihnen deutete. Jeder
tut das, was meine kleine Nebenbei-Schurken-
haftigkeit in ihm ahnte. Aber die Schachbrettpläne
meines Gehirns werden durchkreuzt von der neu-
erwachten Aktivität der andern, die ich doch erst
weckte, Ich! Wäre die schmerzhafte und betäu-
bende Wut nicht geringer, wenn sie mich nach mei-
nen eigenen Plänen betrögen? — Jetzt, hier reckt
sich das fremde Leben, das ich erst schuf, blitz-
schnell gegen mich. Es geht genau so, wie ich es
wußte, doch anders. Ich werde schamlos betro-
gen — hatte mein Mißtrauen nicht alles Recht? —
aber der Betrug ist schamloser, weil er in uner-
warteten Kreisen geht. Ich fürchtete natürlich In-
trigen, ich suchte vorzubeugen, doch nun kommen
die Intrigen, wo ich sie nie voraussa'n. Meine
Schöpfung, das Leben, das meine verstörte Phan-
tasie in die Wirklichkeit hinauswarf und zur Wirk-
lichkeit macht, biegt ab von meinen Plänen. Diese
Wirklichkeit lenkt heraus aus den abgefahrenen
Schienen meiner Vorstellung. Das Unerwartete
der fremden Lebensaktivität ist mein Feind. Diese
ungeahnte Ausbiegung der neuen Wirklichkeit be-
deutet Angriff. So stehen die notwendig und
ruhig ablaufenden Vorgänge der Realität, die von
mir erst ihren Weg getrieben wurden, gegen die
krampfhaften Ausschleuderungen meines Denkens.
Dies ist der Kampf, in dem mein Denken gegen
das Vordringen der Wirklichkeit immer mühsamer
und absonderlicher werden muß. In diesem
Schädel surrt das Treffen spitzklirrender Waffen,
das Summen wird ein großes, reines Getöse, und
die Welt wird grauer und schwimmend, mein
Blick ist gedunsen. Verruchtheit ist eine Gestalt
und auch Schurkerei ist eine Person; mein Denken
ist eine wieselkleine, fix hin und herschießende
blasse Pflanze. Es läuft unter die Türen, hinter die
Tapeten. Durchdringe ich die Dinge, fühle ich sie,
bin ich in ihnen? Es ist keine Zeit mehr, der
Kampf raste zu Ende. Hier siegte die Wirklich-
keit, der Körper ist zerstört, und die kleinen
Dämonen eines Nebenlebens, unbeachteter Neben-
gedanken schufen den großen Dämon eines neuen
toten Lebens, den Wahnsinn.

Der Schulmeister Peredonow, der in Wahn-
sinn an sich selbst endet, das ist Ich, der Leser. So
groß ist die Dichtkraft Sollogubs, daß man, in
diesem Falle scheinbar klinischer Besonderheiten,
nur s i c h findet. Man erkennt, ohne es zu ahnen,
entsetzt die Allgemeingültigkeit dieses Lebens der
kleinen Dämonen. Man sieht zum ersten Male, wie
aus Trieben, die versteckt und mißgeachtet ein
geheimes Schnörkelwesen lebten, sich allmählich
eine besondere und mächtig wirkende Figur des
Lebens formt.

Das ist eine ganz russische Form des Fühlens.
Rußland erscheint uns wie eine Erinnerung an
unglaubwürdige, phantasmagorische Träume. Man
blickt auf eine Bühne der Verwandlungen, erlebt,
ehe man noch daran glauben kann, ein Land, in
dem die nervösen Schmerzzuckungen der Wirklich-
keit in einen schattenhaften Urwald trübflatternder
Nebel verhuschen; wo die Abenteuer der Phanta-
sie zu einer erstaunlich selbstverständlichen Re-
alität werden. Hier hat alles ein zweites, verbor-
genes Leben. Mitten im Rußland der Wirklich-
keit herrscht — wer glaubt es? — das scheinbar
unwirkliche Reich der Dichter. Die Dichter sind
in diesem abenteuerlichen Lande, in dem die Duma
als ein spukhaftes Theorem erscheint, Volksführer
von fast utopischer Macht. Sie sprechen und
Sekten bilden sich nach ihrem Wort, verborgene
 
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