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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 24 (August 1910)
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Hiller, Kurt: Über Kultur
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Stoessl, Otto: Ludwig Speidel
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0192

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sdieint tnir „subjektive Kultur" zu bedeuten. Aller-
dings wird dann der Begriff „Kultur“ wesentlich
enger gefaßt, ats bei Simmel. Unter den Er-
gebnissen differenzierender und vervollkommender
Menschenarbeit werden alle die aus der Umfangs-
linie dieses Begriffes heraustreten müssen, die für
daS spezifisCh-geistige Leben ohne Erheblichkeit
sind: also insbesondere Erhöhungen der Bequem-
lichkeit und der Sicherheit des Verkehrs, Errungen-
schaften der Technik und der rechtlichen Ordnung;
all das, was Siege repräsentiert iiber ungeschlachte
Urtümlichkeit, Bändigungen von Naturkräften oder
rohen Menscheninstinkten, kurz: alle die Ver-
feinerungen, für die unsere Sprache ja ein be-
sonderes Wort bereitstehen hat: „Zivilisation“.

So bfeibt unS denn „Kultur“, dieser so oft und
arg mißbrauchte Ausdruck, als nichts anderes übrig,
denn alS die Bezeichnung für einen logisch kaum
faßbaren, aber gefühlSmäßig doch recht bestimmten
Verfeinerungsgrad der Bewegungen und Funktionen
einer Seel'e; und zwar möglichst vieler dieser Be-
wegungen und Funktionen: die ideale Persönlich-
keit unter dieser Kuftur-Perspektive wird die sein,
deren NerVen zum Genießen zartester und selt-
samster artistischter Sensationen organisiert sind,
deren Intellekt sich in die tiefsten Tiefen und in die
spitzesten Spitzen der Problematik dehnt, deren
Lebensführung voll Adel ist und im Verkehr mit
anderen oberste Stufen des Taktes, des Esprits und
der subtilen Anniut erreicht.

Erfüllt sich so die Idee des „kultivierten“
MensChen mit der neben dem blößen Ethos der
Verfeinerung bestehenden Forderung, daß diese
Verfeinerung Eigentümiichkeit a 11 e s Erlebens und
Betätigens werde, daß sie in den Charakter ein-
gehe, sich nicht mehr auf das Denken allein oder
da9 Empfinden allein oder das soziologische Ver-
halten allein oder auf sonst ein besonderes Ver-
mögen erstrecke, sondern universaf sei —: so
verwandelt sich damit die Formel „Kultur“ in eine
Bezeichnung für das höchste Lob, das wir, außer
dem Lobe der schöpferischen Kraft, einem Menschen
spenden können.

Eine Lobesformel; und zugleich so etwas wie
ein Programm, ein leitender Stern, eine Idee, ein
regulatives Prinzip für Erziehüng und Selbst-
erziehüng. Und zwar eines, das vielleicht identisch
ist mit dem Kulturideal, das vor hundert Jahren in
den erlauchtesten Gemütern lebte. Jene „Bildung“
nämlich, welche die Herder und Goethe, die Schiller
und Humboldt, die Novalis und Schlegel in ihren
ethjschen und psychagogischen Apergus anpriesen
und verlangten, ist doch wohl nichts anderes als die
Verieinertheit aller individuellen Anlagen; ein rein
qualitativer Begriff; — daß nun das Wort
„Bifdung“ im Laufe des Jahrhunderts seinen quali-
tativen Begriff immer mehr verlör, bis es sich
schließlich vorbehältlos einem duröhäus q u a n t i -
t a t i v e n attachierte, das ist ein Symptom und ein
Symbof für den erörterten rückschrittlichen Prozeß,
den die subjektive Kultur in diesem Zeitraum
durchgemacht hat.

Fortsetzung^folgt

Ludwifl Speidel

Von Otto Stoessl

Seine Bedeutung als schöpferischer Geist, als
Bewahrer großer künstleri9cher Heimatswerte in
einer Zeit vieffach zerstörender Triebe, wird ihm
in der ganzen deutschen Weft, nicht bloß in Wien
bestatigt und gedankt werden, nachdem jetzt die
vielen einzefnen Blätter zu einem Ganzen vereinigt
sind, deren Sammlung er bei Lebzeiten sich spröd
entzogen hat.

' Ludwig SpCidef war und bleibt einer der Schrift-
steller von erstem Range; auf ihn mag insbesondere
die Geschichte unserer Sprache als Beispiel hin-
weisen, wie isie in der abhändelnden Prosa Körper-
lichkeit, blühendes Licht und Farbe, Wohlklang und
Zartheit, männliche Führung und anmutigste Bewe-
gung, kurz alle Reize der Poesie selbst entwickeln
könne. In eine unwürdige Tagespresse verirrt, war
Speidef vielleicht der Letzte, der sie zu ertragen,
ja eben dadurch 1 zu erheben wußte und ihr reichlich
zurückgab, was er ihr verdankte; denn seine Stel-
lung war von einer Macht begleitet, die, an seine
Persönlichkeit gebunden, in Zukunft kaum Wieder

einem unabhängigen Geiste in solChem Umfange zu-
geätanden werden wird.

Der Journalist übt ein Metier, der Schriftsteller
hät einen Beruf. Im Wesen deS Schriftstellers liegt
es, aus: seiner Natur und Bildung zu völlig in ihm
besChfosscnen, nicht wahllos von außen aufge-
nötigten Fragen ein besonderes’ Verhältnis zu ge-
winnen und darzustellen, wodurch er wieder andere
in seine Lebensrichtung zu führen vermag. Da-
gegen bestimmt der Journalist gar nichts, sondern
macht als willenloser Zeiger des wechselnden Ge-
schehens nur die Gebärden der Aktion, während
die Naturkraft der Ereignislse sich aüf seine Worte
überträgt und sie wie Windmühfenflügel in Be-
wegung setzt. Für die Zeitung alls! solche ist cfer
Schriftstefler nichts äls ein eitler Dekor ihres öko-
nomisChen, mechanisch-präzisen Geschäftes, sie
sucht ihn in seinen "besten Kräften auszunutzen,
aber zugleich seiner Sefbstbestimmung zu entziehen,
indem sie ihm die Gegenstände seiner Arbeit auf-
nötigt und ihn zu einer GberffäChenbehändlung
zwlngt, die ihr gemaß ist, aber sein elgenstes Wesen
geradezu auflöst. Aus dem Kampf, der Vereinigung,
dem gegenseitigen NaChgeben, Bedingen und Be-
härren dieser zwei unversöhnlichen, intimsten
Feinde: Zeitung und Schriftsteller ist denn auch —
namentlich in Wien und durch Speidels besöndere
Begabung — eine Art von eigener Kunstgattung
und -übung hervorgegangen: das Feuilleton. Der
Geist, die Auffassung und Technik dieser kostbaren
Geringfügigkeit — der Unsterblichkeit eines Tages,
wie Speidef sie nannte — sind in Wien so allge-
mein geworden, daß man ruhig sagen kann, dje
Zeitung habe hier wie so viele andere Güter, auCh
die Poesie, das Feuifleton häbe die Literatur ver-
schlungen. Abgesehen von Speidels Arbeiten, ist
aber an äll der gepriesenen GefallSamkeit nur mehr
ein Schein von Kunst und tieferer Betrachtung;
in Wahrheit ist der SChriftsteller aus diesem Gebiete
fast ganz hinausgeschoben worden vöm Journa-
listen. Das schlechte Geld verdrängt das bessere.

Daß aber diese Form — ausgereifte Improvi-
sation, durchdachte Augenbficksreagenz — in ihrer
paradoxen Verlockung für einen Sdhriftsteller, wie
der Journalismus selbst, ebensoviel Anziehendes wie
Abstoßendes häben mag, gerade genug sie zu
suchen und wieder zu veraChten, begreift sich gern.
Die Natur Speidels zumal hatte etwas 1 Impulsives,
ihr sChöpferisCher Trieb entfaltete sich und welkte
bald nach dem wirkenden Augenblick. Seine Frucht-
barkeit bestand nur vermöge der Fülle der Ein-
drücke, die ihm der Tag brachte, und des journa-
listischen Zwanges, s'ich mit ihnen vor dem Publi-
kum auseinanderzusetzen. FreiliCh hatte dieser
formschöpferische Geist, dieser gefühlige Dialek-
tiker eine solche Ehrfurcht vor 'dem Unwiderruf-
lichen des niedergeschriebenen Wortes, daß er
jedesmal den ganzen Widerstand der Sprache
gegen die Leichtigkeit und Eile ihres täglichen Ge-
brauches empfand; aber, indem er ihn besiegte
durch eine verfiefte, zögernde, doCh in der ent-
sChlossenen Wahl sichere Weise des Ausdrucks,
gewann er eben eine bildnerische Dauerhaftigkeit
über Anlaß und Moment hinaus und setzte seinen
ßeruf gegen das Metier durch.

Diese härmonisChe Plästik der Prosa Ludwigs
Speidels, diese Monumentalität im Kleinen, derweite
Horizont, der hinter allen den gefaßten und knappen
Gebilden sich öffnet, werden erst jetzt ganz er-
kannt werden, da seine Schriften aus der trüben
Umgebung einer fragwürdigen Institution endlich
dauernd herausgestellt, sich selbst zurückgegeben
sind. Freilich wird man dann äuch die geistigen
Gefühls- und Urteilswidersprüche und die Grenzen
seiner Eindrucksfähigkeit und Bewegung deutlicher
erkennen, äber auCh zu würdigen wissen, was inan
ihm bisher blöß anzusChulden liebte: nur der un-
heilvolle Mißbrauch, den die Zeitung in jedem Mei-
nungsstreite dadurch mit ihrem Urteil’ treiben darf,
daß sie, RiChter in eigener SaChe, ohne Wider-
spruch mit Außerachtlassung der Gegner spricht
und immer nur sich selber hören will, ließ die mäch-
tige Subjektivität eines selbständigen Geistes als
gefährliche Willkür erscheinen. Der Schriftsteller,
der die Zeitung für sich hat, findet eine überlaute
Resonanz, und er entbehrt jeder Gegenrede, durch
die sein Für und Wider enfc zum Ganzen in Har-
monie gesetzt würde. So konnte etwa in dem toben-
den Streit um Wagner das SpeidelsChe Wort von
der „Affenschände“ der Wagnerschen Popularität
eine mißfiche Unsterblichkeit erhalten, oder der

innere WiderspruCh gegen die neu aufsteigende Weft
von Kunstwerken und Lebensmeinungen den An-
sChein eines’ willkürlichen Preßpabsttums annehmen.
Eben indern Speidel seine Selbstbestimmung und
seinen WiderspruCh als GrundreCht wahrte, nahm
er SChaden, weif er an die Stelle gefesselt war, die
über alles zu entsCheiden die Anmaßung und in
nichts Recht zu behalten jdas Schicksal hät.

'Aber sefbst dort, wö er der aufgewaChsenen
Uebermacht des Neuen nfit der ganzen Gegen-
gewiChtigkeit seiner Natur sich zu einem von vorn-
herein aussichtslösen Kampf stellt, bewahrt er die
volle Schönheit eines reinen, unverdorbenen Emp-
findens und ist gleichsam unverwundbar durch eine
entzückende Dialektik des Gefühls.

Und es war ein ergreifendeS SChäusp’iel — wie
immer, wenn ein Mann in der vollen Kraft seiner
EntsChlüsse, durch die höhere Gewalt der Zeit und
der MensChheit aus sdinem Selbst und darüber hin-
aus zu einem GeSamtgefühl geführt wird —, äls
die Genialität neuer Werke, ihre Natur selbst,
was in Speidel Elementarempfinden war, zu sich
zwäng, bis er in der großen bleibenden Einheit der
Kunst wie in einer vorzeitigen Ewigkeit, beruhigt
und befreit, ohne Zagen und innerlich versöhnt ein-
ging, länge ehe er starb.

Speidef wär ein Schwabe und wahrte die ganze
kraftvölle Gesundheit dieses Volksschlages, dessen
Gabe und GrenzC in seinem Werke sö gut und
lauter beschlossen ist, wie in den besten seiner
Landesgenossen. Was den Dichter ausmacht: die
ganze Hingabe an die Erscheinung, an die dingliche
Kraft und Würze des Wortes, bezeichnet auch ihn in
seiner Wohlbeschaffenheit. In der geistig werten-
den, diatektisCh siCh auseinandersetzenden Aeuße-
rung, in seinem kritisChen Bedürfnis, wird er ebenso
durch die sChwäbisChe Schule bestimmt, durch die
„Schüle“ freilich in engerem'Sinne, worunter eine
germanistisch-philölogisChe, (der innersten Anlage
gernäße Form der Bifdung zu verstehen sein möchte,
die das dichterische Sprachgefühf durch ein horchen-
des 1 Sprachdenken und ein spürendes Sprachwissen
vertiefte.

Für Schvvaben ist eine besöndere Methode
geistiger ZuCht typisch, die etwä ganz hewüßt und
deutlich ausgebildet erscheint im Erziehungsgange
der alten „Stiftler“. Diese sollen eigentlich Thco-
logen werden, einerlei aus welChem Wollen, Fühlen,
aus welcher kindlichen und elterlichen Lebens-
s'timmung sie hCrkommen. Sie lernen zu der an-
gestammten Derbheit und Frische den Schliff der
klassisChen Tradition, das gesunde Holz wird sozu-
sagen gehöbelt, geglättet, wodurch erst seine sChöne
Maserung, sein Kern hCrVortritt. Ihre zugreifende
Impulsivität, mit allen Salben geistlicher und geisti-
ger Dialektik gesalbt, darf sich nun statt zur Ver-
teidigung der heiligen Güter gera'de zum un-
heifigsten Angriff gesChmeidig fühlen. So werden
sie mündig, sChalten mit ihren Notwendigkeiten als
mit lauter Freiheiten, ihre Sprache, durch welche
die LandsChäft der heimatlichen Mundart, die Ge-
fühls- und Denkweise einer wohlerhaltenen Rasse
sChimmert, gewinnt zur angeborenen Kraft eine ge-
wisse vornehtne Haltung, sie blitzt von morgend-
ficher Schärfe und schwingt gespannt und elastisch
in lebendiger Latinität; die Rede der Alten wird in
ihrem Deutsch wieder geboren.

'Diese Saiten sind auch bei Speidef rein gestimmt
und klingen mit allem Wohllaut einfacher Harmoni-
sierung und volkstümlicher Melodik, mit einer an-
muligen MaCht und Füfle, die man nicht vermissen
möchte, wenn wjr auch oft tieferen, verschlunge-
neren, sChwjerigeren Stimmen lauschen wollen, und
wenn auch ( herbere, strengere, geistig mannig-
fachere, weniger bedingte und dringender bedin-
gende, weniger abgesChfosSene, aber feuriger auf-
leuchtende, weniger in sich ruhende, als ruhelos
süChende und findende Naturen jeder Zeit, also auch
der unserigen, ihren eigensten Ausdruck geben. So
wär Speidef — wie fast alle seine Landsleute irt
der GesChichte unserer Literatur — ein vornehm
konservativer, naiv anschäuficher Geist, ein kontem-
pläüver Idylliker, der siCh' in den unendlichen, er-
habenen Bedingheiten 'der Voflendeten, niCht in deti
Revolutionen 'und Elementartrieben der vverden-
den Weft und Kunst wohl fühlte und das reinste
seelisChe Behagen, den Genuß einer unerschütterter)
Gesundheit und Zuversicht des gegebenen Daseins
mitteilte.

Im unverwirrten, unmittelbar einleuchtendeU
Walten der Natur und in dem klar ausgewirkteH

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