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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 12 (Mai 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [3]: Roman
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Dreyfus, Albert: Drei Reiher
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [8]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0096

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wieder zu ihm hinzog. Und heute waren von
draußen, von der Gasse, die halben Worte und
war ein kleiner, wollüstiger Reiz, der sie immer
Stimmen des Märztages in ihren Salon gekommen,
geheimnisvoll und wie ein ferner, im Winde zer-
flatterter Schrei. Sie war unruhig und trotzig, und
dann hob sie langsam ihre müden Pupillen von
seinen nervösen Füßen zu seinem Gesicht und
starrte ihn an wie eine Lampe.

Erzählen Sie mir doch von Valeska, Daniel,
sagte die Gräfin — bitte, bitte, nicht wahr, Baron,
er soll erzählen.

Sterben hatte soeben von einem jungen, blonden
Walde geträumt.

Drin standen die Bäume hoch und schlank, und
ein weißer, toll gewordner Schimmel lief durch den
Wald, ohne Sattel und Bänder mit schäumenden
Nüstern, der Frühling. Und droben hing der Himmel
auf die jungen Bäume herab, gelb und voll Sonne wie
bernsteingoldnes Mädchenhaar. Er ging weiter.
Da kam er zu einer Birke, von der die Rinde in
Stücken herabhing, und rotes, schauerndes Blut rann
aus dem Stamme, und daran war mit Riemen und
Ketten ein Kind gebunden, ein silberweißer, ge-
quälter, nackter Leib. Und er erschrak und lief
weiter, aus dem Walde hinaus, dort wo die Lichtung
war und das Feld, und da sah er der Gräfin Regina
ins Gesicht und sagte:

Ja, Gräfin, Ja.

Daniel Jesus schlug seine langen Arme um die
Knie und begann:

Valeska war noch sehr jung, als ich sie ver-
führte — ich glaube, kaum ein Jahr älter als
Marta Bianka. Sie war die Tochter eines Beamten
aus meiner Fabrik. Zuerst kam sie heimlich, und als
der Vater es erfuhr, schlug er sie eine Stunde lang
so mit einem schweren Stock, daß er ihr dabei den
linken Arm zerbrach. Seit dieser Zeit blieb sie ganz
bei mir. Die Leute wollten mich damals dem Ge-
richt anzeigen, weil ich ein unerwachsnes Kind ver-
fflhrt hätte. Aber sie haben es später doch nicht ge-
wagt und Valeska blieb in meinem Hause. Tch
kann nicht sagen, daß sie mich liebte. aber sie
fiirchtete mich, und ihre Angst war die Sklavin, die
mir die Liebe gab statt ihrer. Sie fürchtete in mir
den Menschen, der in ihre Seele und in ihr Blut als
erster die Flamme gebracht hatte, die sie mit ihren

noch .kasni. -ysr?tanö-iwdjdje ihr

schon das Glück und ein großes, weites Stück ihres
Lebens und das schöne Lächeln des Schlafes und
den lauschenden Frieden des Herzens vernichtet
hatte. Sie liebte mich nicht, aber sie gab sich mir
hin mit einem Taumel und einem Weinen, in dem
nichts von Reue lag. aber auch nicht das kleinste
Stiickchen von Kraft für Zukünftiges. Fernes. Sie
hatte vergessen, daß sie in elner Welt war. in der
vielleicht noch tausend Tage und tausend Wochen
vor ihr standen und ihre Worte erwarteten. Sie
wußte dem Leben nichts zu sagen. und in der Ein-
samkeit und hilflosen Not ihres Herzens wurde sie
krank. Thre Seele verdarb in der Dunkelheit, und
vergebens suchte sie nach der Liebe. Was sollte sie
an mir auch lieben? Tch war bucklig und roh. Und
einen andern kannte sie nicht. So ging ihre Seele
zugrunde. und ihr Herz erfror. Zuerst fing sie an,
Silberzeug und Oeld in meinem Hause zu stehlen.
obschon ich ihr alles gab. was sie mochte. AIs ich
das erfuhr, schlug ich sie unbarmherzig. wie es ein-
mal ihr Vater getan hatte. Ich war roh und ließ sie
ohnmächtig liegen. Seit dieser Zeit ward sie noch
störrischer und schlimmer und sprach ganze Tage
lane zu mir kein Wort.

Einmal erwachte ich in einer hellen singenden
Nacht. Der Mond war durch das offne Sommer-
fenster in mein Zimmer gefallen, als hätte
ich ihn ganz allein neben mir und draußen
wäre er ganz verschwunden. So blendend licht
und deutlich sah ich alles um mich her. Auf dem
Fußboden lag die Schublade meines Schreibtisches
aus dem Nebenzimmer, ganz ausgeleert und neben
meinem Bette — gerade daß ichs noch sehn konnte,
wenn ich hinüberschielte — ein großes Paket Bank-
noten, daß ich darin verborgen hatte. Vor mir
stand Valeska im Hemde, es war ihr an der Achsel
herabgeglitten, so daß ich die Brustwarzen sehn
konnte, die blutig rot schienen in dem weißen Licht
wie zwei Wunden. Mit der linken Hand hatte sie
meinen Hals umkrallt, und über meine Haut lief
schon das warme Blut, das ihre Nägel aus meinen
Adern gruben. In der rechten Hand hielt sie mei-
nen Dolch, haarscharf und wunderschön, mit einem
großen, dunkeln Rubin am Griffe, der daran klebte
wie eine blutige Träne. Sie wollte mich töten, und
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wäre ich eine Sekunde später erwacht, sie hätte
mein Herz zerschnitten. Ich schrie auf und trat sie
mit dem Fuße in den Leib, daß sie zu Boden tau-
melte.

Dann stand ich auf und kleidete mich an. Sie
lag noch immer vor meinem Bett, und der Schweiß
trat auf ihre Haut.

Warum wolltest du das tun? fragte ich endlich.

Sie hob den Kopf und sah mich aus Nacht-
augen glanzlos an:

Ich haßte dich und wollte dich töten. Ich stahl
dir dein Geld und wollte fliehn — tu, was du willst.

Daniel Jesus schwieg. Er sah in die seltsamen
langen Linien des Teppichs wie in einen Traum,
und seine Finger schlossen sich wie über verlorne
Stunden, die man mit einer Gebärde in den Tod be-
gleitet.

Und was taten Sie? fragte die Gräfin.

Es war die kostbarste Nacht meines Lebens. In
den Augen Valeskas hab ich damals alles gesehn,
was jemals ein Mensch mir sagte und sagen wird
in allen Jahren. Ich habe mich selber erkannt in
diesen Augen und das Weib und das Schicksal und
die Liebe. Und den Weg zum Glück und zum Frie-
den hab ich zwischen Dornen und Trauer in diesen
Augen gefunden. Ich nahm sie in die Arme und
küßte sie. Ich küßte ihre Stirn und ihre Hände und
ihren Mund.

Da war es, als ob ein Wunder mit Valeska ge-
schähe. Alles Spröde und Grobe und Stumpfe ging
von ihr weg wie ein Nebel und wurde Glanz und
Güte und schmerzliche Andacht in dieser Sommer-
nacht. Ich nahm das Geld von der Erde auf und
gab es ihr.

Ich will dir ein Haus baun mit hohen Fenstern
und köstlichen Stuben, und es soll dein sein, und
du sollst darin wohnen, Valeska.

Langsam und mühsam kam ihr das Weinen.
Es kam wie ein Frühling in ihre verdorrte Seele,
und ihr Herz wurde rot und bliihend in dieser
Stunde wie eine Rose.

Nein, nein, sagte sie und ging hinaus. Tn dieser
Stunde hat sie mich geliebt, und es hat uns doch
nicht geholfen.

Tch habe sie nicht mehr gesehn. An der Tür
ihres Vaters hat sie sich den Kopf zerschmettert.

Eine Iange halbe Stunde ging die Uhr durch
den Salon wie ein Träumer durch eine schlafende
Gasse. Keiuer sprac'h ein "Wort. Ünd Daniel Jesus
sah zum Fenster hinaus. hinter dem der März mit
halber Stimme sehnsüchtige Dirnenlieder sang.
Marta Bianka war leise wieder hereingekommen
und setzte sich lautlos zum Klavier. Dann soielte
sie irgend etwas, eine lange und gefahrvolle Melo-
die. zwischen der ihr bernsteingelbes Haar wie eine
Flamme flog.

Keiner von den Männern in dem Zimmer hatte
ein Herz ffir Musik. Aber sie alle packte der große
Zauber dieser Stunde. in der die Bangnis der
Gräfin und die Sehnsucht Valentins, die Träume
des Barons und die Geschichte der toten Valeska
mit dem wilden, drohenden Takte dieses Liedes zu-
sammentrafen wie in einem dunkeln, vieldeutigen
Bilde.

Drei Reiher

Von Albert Dreyfus

Drei Reiher fliegen
wohl über den Wald,
so weiß wie mein Leib,
so rot wie mein Blut.

Drei Reiher fliegen
wohin, wohin?
so weiß wie mein Leib,
so rot wie mein Blut.

0 flögen sie hin
zu Einem, der fragt:
drei Reiher, o sagt,
wo flieget ihr her?

O schösse ein Jäger
drei Reiher zur Ruh,
so weiß wie mein Leib,
so rot wie mein Blut.

Drei Reiher fliegen
wohl über den Wald,
so weiß wie mein Leib,
so rot wie mein Blut.

Gespräche mit Kalypso \

Ueber die Musik \

Von Alfred Döblin £

Sechstes Gespräch: Hohn und Schwermut der s
Verliebten / Von der Rhythmik Schiuss j

Kalypso: 1

Suchst Du nicht heimlich doch die — Formel? I
Genug von ihr und Deiner Welt, mein Freund. !
Ein Apfel wächst auf diesem Baume — er fällt und i
fiel auch Dir in den Schoß: die Zeit. Sie preist Du
mit jedem Worte und jedem Liede. Die Welt ist i
unvollendet, erweist sich erst im Ablauf. Und i

Deine Kunst ist die Kunst der Zeit. Ja höre mich ’

an. Wahrer ist sie noch als die Wirklichkeit, die
Musik, da sie an einem Stoffe, der wie ein Nichts
ist, sich ergeht, ganz sich auswirkt im Gleichmaß,
in der Wiederkehr, der Grundform des Zusammen-
hanges; sie gibt das Schema unseres Lebens.

— Sonderbar wie dies geschieht, wie die Zeit-
kunst sich erfüllen muß an solchem Stoff, der
rund und glatt und fertig ist, jeder Entwickiung
noch Ablaufs spottet; an den Tönen, die weder
Wurzeln noch Blüten haben. Eine widersinnige,
sehr künstliche Kunst scheint sie. Aber ins Fratzen-
hafte verzerrt spiegelt sie da die menschliche Fehl-
auffassung von der Welt, von den fertigen runden
Dingen, die zu der Zeitlichkeit kommen, sie wissen
selbst nicht wie. Kunst, Satzung freilich wird die |
Musik mehr sein, als eine andre Kunst, sofern sie j
die Tonhöhen meistert; mit der Länge und Kürze
der Töne aber, wälzt sich die ganze unwider- j
sprüchliche Wirklichkeit in der Musik; hier tritt die
Form des Geschehens, die Zeit selbst, als ureigene
Bestimmung einer Kunst auf, als ihre eigentümliche
Betätigungsweise, den Weisen, die das Werden j
lieben, ein Ergötzen und fruchtbares Gleichnis.
Musiker:

Eine Baukunst kennen wir; sie fiihlte die Wand
als tote Last, fügte Strebebauten, die alles nicht
Tragende, Untätige, Flächenhafte mieden. und in j
einem einzigen Schlupfen, Kriechen, Klettern sich |
fast in die Luft verflüchtigen. Die Lust am Zeit- [
lichen kämpft noch mit dem Stein, wenngleich
solche Kirchen schon ein Gelächter und Hohn über
Stein und Sein und alles Ewige sind, — da schwebt j
die Musik hervor mit der Krone der Gottlosigkeit. ;
preisend das Irdische, Zeitliche, und daß die Welt
unvollendet ist. So ist sie nicht eigenherrlich, die
Musik als Zeitkunst; nicht prunkt sie mit einern j
Besitz, der nur ihr gehört; aber keine mißt sich mit
ihr und ist ihr überlegen darin.

Kalypso:

Eine seltsame tiefe Kunst. Nun bist Du schon ge-
tröstet, mein Lehrer, und so bin ich froh. Lock
ich Dich ganz auf leichte, tragende Wellen: belehre
mich auch Du, wie das Gleichmaß der Zeit sich
der Töne bedient, wie die Zeitkunst sich ver-
schwistert der Kunst des Tönens.

Musiker:

Wo find ich Trost? Was wäre ich ohne die
Kunst?! Ich antworte Dir, o Kalvnso; mag
die Kunst leichte lockende Wellen schlagen, oder
mich verschlingen, gebe ich mich ihr hin, sie, die j
mir Mutter sein muß und Schwester und Geliebte
und Kind. — Es ist das Gleichmaß ein Einheitsmaß,
ein Vergleichsmaß, an dem sich alle Längen der j
Töne messen. Nicht bestimmt das Gleichmaß dic
Länge der einzelnen abfolgenden Töne. Von dem 1
einzelnen zeitlichen Zusammenhang der Töne gilt. |
was von ihrem Tonlichen; folgen dort unter der j
Herrschaft der Tonleiter Töne in einer Reihe auf-
einander, so heißt musikalisch an ihr die Möglich- i
keit zur Aufstellung eines Tonmittelpunktes und
einer Wertformel; und so wird hier ein Zeitmittel-
punkt gegeben. Und damit beginnt und erschönft j
sich die Aufgabe der allgemeinen Gesetzgebung.

Kalypso:

Eine sanfte Herrscherin mit gütigen Augen scheint
mir deine Kunst; dem Freundwilligen gibt sie ein
freies Feld; milde ist sie, und locker läßt sie die
Zügel.

Musiker:

Wohl. Alle andere zeitliche Bestimmtheit der
Töne, die Rythmik heißt, ist eigenwertig, wetin-
gleich sie ihre üppige Laune eben unter die Herr-
schaft des Vergleichsmaßes beugt. An dieser Rhyth-
mik und in ihr allein erweist sich dieses eben; dies
ist der König, jenes sein Volk. Besser noch: dies
ist das Gesetz. Das Gleichenmaß ist ja nur wirklich
und wirksam als Vergleichsmaß; es gewährt die
 
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