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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 31 (September 1910)
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Döblin, Alfred: Astralia
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Weinringer, Otto: Sucher und Priester
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Pudor, Heinrich: Frühling in Finnland
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0251

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bereit sein Werk zu vollenden, jn den Wolken,
welthes seine eigenen Worte sind.

Sie trinken Most. Sie öffnen der Neumond-
nacht die kleine Tür der Schenke.

Auf einmal verstummen alle.

Einer steht mit wirren Worten auf.

Sie erschrecken..

Es gesChehen heim üche Dinge. —

Am nächsten Morgen schurrt etwas Verhutzeltes
mit dünnen Beinen aus der Tür der Schenke.

Erst taumelt es, und die Hände suchen, greifen
naCh jedem Festen, Pfahi, Baum, Oartenzaun. Dann
geht esj gerade und fest. Den Kopf auf die iinke
Schulter gefallen; geblähte Nüstern; wässrige, starre
halboffne 'Augen. Es geht halbnackt; in bloßen
Hemdärmeln ohne Stiefel und Hut. Es wirft die
Beine bei jedem Schritt weit nach vorn, preßt die
Arme vor die Brust aneinander. AIs die Menschen
oben auf der Uhnenallee stehen bleiben — ein
kleines Mildimädchen mit ihrer Blechkanne und
zwei Straßenkehrer, verschläfene weiße Oesichter,
fährt das Verhutzelte zusammen.

Man Sieht es an. Es muß gerade gehen, jawohi,
gerade gehen.

Es singt vor sich hin_

Es geht langsam seines Wegs fürbaß, so selig,
feidvoll, getragen von einer schweren dunklen
Wolke. In den Wolken steht es, in den Wolken,
welches seine eigenen Worte sind. —

Ein heißer Schauer fährt piötzlich über das
Männlein. Wenn es geschehen wäre, das Unglaub-
liche, die Verwandlung, heut über Nacht!

Die beiden Straßenkehrer hatten es angestarrt.
Es reckt sich und hebt den Kopf, iäßt ihn wieder
fallen. Es war die heilige Neumondnacht. Und
von ihm ginge etwas aus, eine Scheu, ein Schein,
von seiner Stirne, von seinen Haaren. BesteChe,
bezwinge die Menschen. Es konnte ja nicht mög-
Üch sein.

Summend, mit stillem Singen und Träumen geht
es weiter.

In den engen Straßen unten stoßen sich die
Barbiere, die Rolijungen, die Bäcker an; sie treten
zusammen und zischein. Ein offenes gemeines
Lachen hört Herr Qötting plötzlich, wie er es nie
gehört. Und nun entsetzt er siCh tief und in glück-
licliem Graus: es ist geschehen, das Wunder hat
sich voflzogen, der Herr hat es vollzogen. Laß,
laß sie fluchen und speien! Und fester Boden liegt
unter seinen Füßen, er träumt niCht, atmet die kühle
Morgenluft. Mit beiden Sohlen steht er auf der
Erde.

Während er in die Hauptstraße einbiegt, in der
eben die OesChäfte geöffnet werden, läufen ihm
die Schuljungen in Rotten nach, stoßen sich an,
gröhfen laut oder springen ängstlich beiseite.

Das Leid aller Jahre ist vergessen; oh, Dank-
barkeit dem, der alles lenkt. Hosianah Dir, Herr!

Das Männlein steigt die Treppen zu seiner
Wohnung hinauf, AlbreChtstraße 15. Im Hausflur
verstummen die Menschen wie mit einem Schlage,
als sein Blick sie trifft. Dann hebt ein langes
Geraune hinter seinem RüCken an und tönt noch
als die Glocke gezogen wird. Mit Lächeln geht das
Männlein über die SChwelle. Das: seltsame sieht
dem schwermütigen dicken Geschöpf in die Augen,
das in das Zimmer husc'ht, wo das Verhutzefte steht,
den Kopf auf die linke Schulter gefallen, die Arme
gegen die Brust gepreßt, und Liebe um den Mund
und die wäsSrigen, verkniffenen Augen. Seine
beiden Hände strecken sich nach ihr aus. Ueber-
strömt von Süße und Ernst sagt es mit weicher
Stimme:

„Siehst du — siehst du; ph, ich wußte es,
Elfriede. Nun bin ich wieder gekommen.“

Sie hält sich am Fensterbrett fest, sieht auf das
Männlein, schreit auf: „Adolf!“

„Ja, Elfriede. Ich habe mich in allen Nöten
für ihn bereit gehalten, ich habe so lange geharrt.
So bitteres drum erduldet. Aber freut euch, die
mit mir gewartet haben!“

„Bist du so gegangen, Adolf? Den ganzen
Weg, sag, Adolf, bist du so gegangen? Du hast
ja gar keine Jacke an und gar keine Stiefel und gar
keinen Hut.“

Die Augen ihr gegenüber halten still; ein Ge-
sicht erkaltet, eine Stimme antwortet ihr, die sich
jäh zu Erz erhärtet hat:

„Du, ich sagte es schon, bist auch du von der
Rotte Korah? Heb dich von mir, auf daß ich
nicht unrein an dir werde.“

Das gelle unflätige Gelächter aus dem Hausflur
und von der Treppe sChaHt ins Zimmer.

„Adolf, was ist geschehen? Wo hast du deine
Sachen gelassen ?“

Das Männlein sieht starr auf seine Füße, die
Hände fläckern auf der Brust, der Kopf fällt langsam
nach vorn über.

„Die Stiefef. Die Rotte Korah. Ja, was meint
dass Weib damit? Was will das Weib in diesem
Zimmer darnit gesagt haben?“

Und dann brüllt es ! mit eherner Stimme, hervor-
queflenden Augen gegen die Tür:

„Nicht läChen, nicht lachen! Hier gibt es nichts
zu lächen!“

Und glüht mit einmal auf, läuft an das Bett,
versteckt den Kopf unter die Decke, stammelt: „Oh,
niCht lachen ... Bitte, bitte, nicht lachen. Oh, ich
bitte euch, iCh flehe, ich fle—he —“

Da hat sie nun das zitternde halbnackte Männ-
l'ein zu halten.

Suoher und Priester

Von Otto Weininger

Man kann die Mensöhen einteilen in Sucher
und in Pries ter, und wird durch diese Einteilung
viel gewinnen. Der SuCher siucht ,der Priester teilt
mit. Der Sucher sücht vor allem siCh, der Priester
teilt vor allem andern sich mit. Der Sucher sucht
. sein Leben lang siCh selbst, seine eigene Seele;
dem Priester ist sein Idh von vornherein afe Vor-
aussetzung alles anderem gegeben. Den Sucher
begleitet stets das -Gefühl der UnVoIlkommenheit;
der Priester ist vom Dasein der Vollkommenheit
überzeugt.

Der UntersChied, den ich meine, wird so viel-
feicht am klarsten. Nur Sucher sind eitel
(und empfindlich). Denn die Eitelkeit ent-
springt aus dem Bedürfnis nach dem Finden und
dem Gefühl, noCh nicht — sich noch nicht — ge-
funden zu haben. Der Priester ist niCht eitel, er
fühlt sich nicht leicht getroffen, und ist ohne Be-
dürfnis nach der Anerkennung von außen, weil er
diese Unterstützung nicht notwendig hat. Dagegen
hat er BedürfniS naCh dem Ruhme; Voraussetzung
des Ruhmbedürfnisses ist innerliche Ueberzeugung
von sich; sein Wesen, dieses ICh den anderen
möglichst vollkommen darzubringen und sich ihnen
sO zu Verbinden. Der Ruhm wird hierdurch dem
Opfer verwandt.

Ich wili nun je vier Beispiele von Suchern und
Von Priestern anführen, bevor ich in der Anafyse
fortfahre.

Sucher waren: Hebbel, Fichte, Brahms, Dürer;
(Fichte war Prediger. Man verwechsle das
nicht mit Priester.) Priester: Shelley, Fechner,
Haendef, Böcklin. Den Suchern gemeinsäm ist, wie
män Sieht, die Linie ohne Farb'e; den Prie-
stern gemeinsam die Farbe ohne Linie.

Die Farbe ist hier als Symbol der Sinnlichkeit
gedacht; zur Sinnlichkeit nämlich steigt der Priester
herunter, indes der SuCher von ihr zur Geistigkeit
hinauf will. Darum hat der Priester das eigentlich
starke, große Verhältnis zur Natur; denn der,Priester
kommt Vom Geiste, und suCht die Welt zur Deckung
mit sich zu bringen; alies soll hell erstrahlen wie
daS Feuer in ihm selber. Der SuCher hingegen hat
vor dem PrieSter voraus das Verhältnis zur Ge-
sellsChaft: denn sozial wird der Mensch, weil
er siCh selbst im andern sucht. Zur Kultur, zu
ReCht und Staat und Sitte tritt so nur der Sucher
in ein tiefes Verhältnis; in der Natur hat er
höChStens für ein Phänomen großen Sinn: für den
Wald, afe das Symbol des Geheimnisses.

Denn der Priester hat die Offenbarung hinter
siCh, und Tag ist in ihtn; der SuCher strebt zu ihr
empor, aber er ist noch blind. Der Priester steht
bereits im Bunde mit der Gottheit; nur er kennt
die mystischen Erlebnisse (extreme Sucher wie Kant
oder noch besäer Fichte kennen solche nicht). Das
AbSbfute, die Gottheit ist dem Priester als Voraus-
setzung, afe Schatz gegeben, oder als Pfand des
HöChsten; dem Sucher afe Wert, als Ziel. Der
Priester bringt sich der Welt dar, trägt ihr den
Bund an; der Sucher entflieht der Welt, weil er
noch keine Weihen empfangen hat. Jeder Suchende
ist naturgemäß ein Fluchender; der Priester ist
das Gegenteil des Blinden, ein Sehender und ein

Segnender. Der Segen ist dem SuCher hingegen
ewig unverständlich.

Man hält oft den Priester für den eigentliChen
Künätler, und erklärt Männer wie Ibsen, der
dem Sucher sehr nahe, und Hebbel, der ihm noch
viel' näher steht, für keine echten Künstler. Ganz
mit UnreCht; man ist hier getäusCht durch einen
falSChen Begriff Von Sinnlichkeit in der Kunst.
Shakespeare war gewiß ausschließlich Künstler und
doCh Viel inehr SuCher als! Priester. Im übrigen
sind SuCher und Priester Extreme; die größten Men-
schen sind beides, am öftesten zuerst Sucher, um
sich dann in Priester zu verwandeln: wenn Sie
den Quell gefunden, siich selbst erlebt häben. So
Goethe, So Wagner. Goethe ist SuCher im Urfaust,
Priester in der Iphigenie; Wagner ist Sucher im
Holländer, im Tannhäuser (der Pilgerchor gibt eine
wunderbare Vorstellung von dem, was Suchen heißt)
aber auCh im Tristan, besonders im zweiten Akt
— denn der SuCher ist erotisch; der Priester sexuell,
ohne besonders von dem GesChleChtstrieb diffe-
renzierte Liebe. Priester ist Wagner sChon im
Lohengrin (der Sinn für das Fest, für Feier ist durCh-
aus priesterlich); vor allem aber im dritten Akte
des Siegfried, wo der Sinn für das Gefundenhaben,
der Triumph der Erfüllung so ungeheuer groß ist.
Denn der Priester muß kein friedliCher idyllischer
MensCh Isein; aber er hat als Kämpfer nur Simn
für den Sieg, nidht für die Anstrengung des
RingenS, nic'ht für das Bangen vor der Niederläge.

Nietzsche war lange Sucher; erst als Zarathustra
tat er den Priestermantel um, und da stiegen nun
jene Reden vom Berge herunter, die bezeugen, wie-
viel SiCherheit er durch die Verwandlung gewonnen
hat. Des Priesters (afe des Sehers!) Erlebnisse
sind intensiver afe die des Suchers; und darum ist
er überzeugter Von sich, er fühlt sfch als erkorenen
Sendboten von Sonne, Mond und Sternen, und
hbrcht pur, !um deren Sprache Sb ganz zu Ver-
stehen, wie er es afe eine PfliCht fühlt.

Sucher waren noch Rousseau, wie es scheint,
Calderon, iSophokles, Mozart; ein beinahe voll-
kommener Priester scheint P i n d a r. Beethoven ist
SuCher im Fidelio, Priester in der Waldstein-Sonate,
deren letzter Satz der höchäte Gipfel der apollini
sChen Kunst ist.

Der psychophysische Parallelismus scheint eim-
priesterliChe Vorstellung zu sein (denn der Priester
kommt vom Geiäte und will die Natur aufnehmer»,
er fühlt SiCh mehr vor der Natur, der Sucher mehr
vor dem Gciste sChufdig); er ist darum auc'r
Determinist, weil ihm Freiheit und Gesetzlichkeit vo-
Vornherein eins sind. Der Sucher ist Indeterminis;
und VerffuCher des Leibes. Der Sucher ist schwei^-
sam, VersChlbssen (nicht zu verwechseln mit dem
Verschlossenen, das ihcißt unaufrichtigen und ,un-
soziafen VerbreCher); der Priester offen, sich dar
bietend (niCht zu verwechäeln mit Schamlosigkeit),
weil er niCht sucht, sondern die Vollendung schor
enthält und nur ganz zu verstehen, auszudrücker.
strebt.

Aus den Nachlass. Auf die Werke Otto Weiningers: Ge
schlecht und Charakter und Ueber die letz-
t e n D i n g e , verlegt von Wilhelm Braumüller in Wien, sei
nochmals hingewiesen.

Frfihling in Finnland

Von Heinrich Pudor

Wie ein Wunder schien es. Nordischer Winter —
und nun brachten heiße Winde Liebe, Hoffnungen,
Freuden, WünsChe und Tröstungen. Sie schrniegten
sich an die Wangen und kosten mit dem Fleisch
und liefen wie Sonnenblicke über die Augen. Süß
sang dieser Wind. Wie man diesen warmen Luft-
wellen sich entgegenneigte, die lauen Winde mit
Haar und Wangen spielen ließ! Die Sonne schien
nicht; aber hin und wieder sah man den bläuen
Himmel durch Wolken wie Erinnerungen.

Von den DäChern tropfte der getaute SChnee,
Von den Bäumen rann es nieder — alles will sich
in Hingebung und Liebe auflÖsen. Die Bäumc
atmen wieder: es wurde etwas in der Welt! Wie
weiches Frauenflbisch schmiegt sich die Luft an den
Körper; sie ist gut und will für allen Winterfrost
entschädigen. „Mein Geliebter, mein Heißgeliebter,
iCh will dein Herz öffnen, es wärmen, die Liebe
hat die Erde nicht Verlässen. Gestern wehte ich
über Ollvenwälder, heute bin iCh bei dir in Fin-

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