Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911
Cite this page
Please cite this page by using the following URL/DOI:
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0041
DOI issue:
Nr. 5 (März 1910)
DOI article:Ehrenstein, Albert: Die Parasiten der Parasiten
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0041
^hantasien kühnster Mythologen übertrafen. Denn
a' e Qegenstücke vielleibiger Riesen, Phorkyaden
^' e Qorgaden, begnügten sich, manchen Tieren
°^er Staaten ähnelnd, mit zusammen einem Zahn
nnd Auge. Laut der Mitteilung eines ziemlich apo-
^JTphen alexandrinischen Qrammatikers sollen
a‘ ese Kommunistinnen auch allerhand andere Kör-
Perteile in einem gemeinsamen Exemplar besessen,
pnd wie ein womöglich noch apokrypherer gelehr-
J® r» aber mit der klassischen Walpurgisnacht un-
Pekannter Kommentator des fabelhaften Alexan-
eriners versichert, damit auch ausgekommen sein.
'* a nicht einmal für dies Pflichtexemplar Verwen-
«ung gefunden haben. Meine Kollegen schlugen
^ en Rekord dieser antiken Freaks noch um ein be-
trächtliches, denn ihrer zwanzig hatten zusammen
,llcht annähernd ein einziges Qehirn . . . Der Hof-
rat trat ein. Der Bronchialkatarh des Gewaltigen
jj'ußte sich seit dem letzten Male bedeutend ge-
j essert haben, denn der Professor war, wie ich so-
|? rt freudig konstatierte, bei weitem nicht so „gran-
'S“ wie damals. Der unbewölkte Zeus lachte zwar
n°ch lange nicht, im Gegenteil, es setzte ein Don-
nerwetter, aber es entlud sich nicht über mich. Die
erste, den wirklichen Seminarmitgliedern reser-
^'erte Tischreihe war wieder einmal leer, der
^'bliothekar allein repräsentierte die Blüte der zu-
"jjnftigen österreichischen Qeschichtsforschung.
ü' e anderen schwarzrotgoldenen Bänder waren —
ycrmutlich aus Antipathie gegen den altliberalen
•lerrn — knapp vor viertel sechs in irgend eines
jj er so bequem bei der Universität gelegenen Cafe-
aäuser ausgerückt, allwo sie, wie es sich in Oester-
re'ch für teutschvölkische Studenten geziemet,
skatspielfend an ihren Stammtischen saßen. Wobei
es öfters vorgekommen sein soll, daß die Herren
aufbrechend ohne treudeutschen Heilgruß vonein-
auder Abschied nahmen, weil, ganz abgesehen von
jj eui Kassastand der Verlierenden, die meist ohne-
Uju nur ein paar Heller betragenden Spielschulden
Ufchtsdestoweniger von manchem unter ihnen prin-
^'Piell nicht beglichen wurden, mit den Worten:
”Man zahlt nur, wenn man gewinnt!“ . . . Etwas
J' erschnupft über die abermalige Absenz dieser
‘jerrschaften zog der Hofrat sein ebenso putziges
a,s gefürchtetes Notizbüchlein hervor. Auf die
schüchterne Einwendung des Bibliothekars hin, dic
Uieisten der fehlenden Seminaristen befänden sich
pgenwärtig im Stadium der Lehramtsprüfung, er-
tjundigte er sich teilnahmsvoll nach dem Lose der
"hrigen. Daß diese Herren an heftigen Hals-
Schmerzen litten oder gar an Influenza erkrankt
JJj aren, schien ihn aufrichtig zu betrüben, doch be-
Uiclt er trotz seiner innigen Trauer hinreichend
assung zu bemerken, er verzeichne die Namen
? er Bedauernswerten nur, um festzustellen, ob in
‘Urer Abwesenheit nicht System liege, eine gewisse
Ujcsetzmäßigkeit, deren Walten in den Geschichte
JUuchenden Kräften auch sonst nicht zu verkennen
e‘! ... „Kommen Sie mir um Qotteswillen nicht
dem Chaos des Qeschehens,“ fuhr er den armen
ö'bliothekar an, dem vor Schreck das Doktorat
uUd sozusagen auch der Schnurrbart abfiel. „Die
IJräentlichen Mitglieder setzen sich einfach über die
eünahme an den Seminarübungen mit Hilfe einer
s°ust raren Art von Arbeitsteilung hinweg, indem
U' e Herren abwechselnd sich in einem überaus aku-
eu Stadium der Lehramtsprüfungen zu befinden
P'schützen, aus dem sie übrigens kurioserweise
Uj e herauskommen, abwechselnd werden sie von
,,'cht genug zu beklagenden Erschütterungen ihrer
^ esundheit heimgesucht . . . Für ihre mit dem
p ausalitätsprinzip schwer vereinbare, mehr fata-
'stische Geschichtsauffassung, Herr Bibliothekar,
^ eibt noch immer genug Raum. Denn wenn die
etreffenden Herren dereinst zur Prüfung erschei-
eu sollten, ich gebe es zu: nichts anderes als eine
Us Wunderbare grenzende Häufung widriger Zu-
»N* ,e wird an gewissen Ergebnissen Schuld tragen.“
^ er Bibliothekar sank irgendwo unter den Tisch.
jUnn fragte der Hofrat, wie immer vor Beginn des
jj eierates, ob nicht endlich doch eines der von ihm
r^stellten Themen Qegenliebe gefunden habe. Das
e. ar nun absolut nicht der Fall: der Professor war
‘u Qreuel in den Augen meiner biederen Qerma-
s eu. Er war etwas zu rigoros. Namentlich liebten
' e *hn nicht, weil der Bösewicht soviel Aufhebens
achte, wenn ein armer Teufel von Student einen
0jjä den anderen Qeschichtsschreiber aus Versehen
^upe Anführungszeichen zitierte. Verstimmter er-
Undigtg sich der Hofrat bei den wenigen Damen
nd Herren, die es mit ihm gewagt hatten, wie weit
sie
*n den übernommenen Arbeiten gekommen
seien. Und als das Qräßliche zutage kam, daß eine
Dame, die kurz zuvor noch anscheinend außer-
ordentlich lustige Dinge ihrer Nachbarin zugezwit-
schert hatte, frevelhafterweise noch kein einziges
der für ihr Elaborat nötigen Bücher gelesen hatte
und dabei noch lachte, da erklärte der Wüterich
dezidiert, es sei fern von ihm, auf ihrer weiteren
Anwesenheit zu bestehen. Hierauf lud er mich mit
den verbindlichsten Worten ein, meinen interessan-
fen Vortrag fortzusetzen. Ob solcher Umschwung
in der Behandlung meiner Wenigkeit bloß Beloh-
nung des mir in diesem Momente wie auch bei
der Zusammenstellung der Arbeit entströmten
Schweißes sei, oder gar einer Art Reue entstamme,
mich früher ein klein wenig „gehunzt“ zu haben,
darüber grübelte ich noch, als ich schon zu meiner
eigenen Ueberraschung mitteilte, diesmal alle übri-
gen Punkte erschöpfen und nur die Schilderung der
religiösen Streitigkeiten mir auf die nächste Stunde
aufsparen zu wollen. Mit Müh und Not verhinderte
ich meine schnell üppig gewordene Zunge hinzuzu-
fügen, daß ich infolge einiger persönlicher Erleb-
nisse außerstande sei, die in derlei Dingen unum-
gänglich nötige Objektivität aufzubringen. Ja, ich
gewann es sogar über mich, den prachtvollen Rat
der Jesuiten: „Ungarn ist zuerst elend, dann katho-
sich, schließlich deutsch zu machen“ zu erwähnen,
ohne didse von dem damaligen Landesvater, Leo-
pold I., im dritten Punkte nicht befolgte Taktik
etwa gehässig zu kritisieren, weil der Held einer
meiner Skizzen von einem Vehikel, in dem ein
Jesuit saß, über und über mit Kot bedeckt worden
war. . . Das waren die „persönlichen Erlebnisse“!
Meine anfängliche Bestürzung über diese selten,
sonst aber gleich gründlich in Erscheinung tretende
Unbeherrschtheit, vielleicht Unabhängigkeit meiner
Sprechwerkzeuge legte sich, ich stotterte zwar
einige Zeit noch beim Vorlesen, doch das liatte eher
in jenem gewissen wissenschaftlichen Stil seinen
Qrund, den nicht imitiert zu haben ich sonst mein
Lebtag bedauert hätte. Uebrigens: hätte ich mich
in meiner durch ihre Länge ausgezeichneten Arbeit
nicht ihr kongenialer Satzungetüme bedient, son-
dern mich eines mehr mitreißenden Stiles beflissen,
wäre mir sicherlich „Journalismus“ zum Vorwurf
gemacht worden. Dabei jedoch, mitten unter
Schachtelsätzen, in einem Deutsch aneinander-
gekoppelt, so schlecht, wie ich es nie gehofft hatte,
waren, nur utn so wirkungsvoller, da und dort
Rosinen eingesprengt, Atemstationen fiir mich,
kurze, meist nur scheinbare Witzworte, in denen
auf vieldeutig unverfängliche Art meine ketzeri-
schen Ansichten geborgen waren. An einer Stelle,
wo ich mir die aber schon mehr eindeutige, harm-
lose Bemerkung gestattete, jeglicher Systemwech-
sel, jeder Wechsel republikanischer Regierungs-
formen mit aristokratischen sei belanglos, irrele-
vant, da ja das, worauf es einzig ankomme, die
Technik des Regierens, wohl infolge des sich gleich
gebliebenen Materials, seit der Zeit der Pharaonen
sich nicht verändert habe — an dieser Stelle unter-
brach mich Seine Majestät mit einem erstaunten
„diese Ansicht ist originell“, worauf die geräusch-
lose Flucht um ihren Qenuß gekommener Kollegen
einsetzte. Von Salmiakzeltchen war keine Rede
mehr — eher war es möglich, daß ich die Kragen-
fasson des Professors akzeptierte, schon weil heut-
zutage kein Mensch mehr Vatermörder trug, und
mir außerdem einen so geistreichen Spitzbart
wachsen ließ, wie der Hofrat einen sein Eigen
nannte. Und da der Qelehrte, nun darauf aufmerk-
sam geworden, daß ihm hier keine gewöhnliche
Kompilation vorlag, sondern auch geistreiche
Worte, wie er meinte, geistreichelnde, wie ein Un-
erbittlicher in mir feststellte, kritisierte er nicht
mehr, sondern konversierte aufs freundlichste mit
mir. Ich schämte mich des unverdienten Lobes,
denn das Ding, das ich da vorlas, gehörte nicht
ganz mir. Draufkommen konnte mir allerdings
nicht so leicht einer. Weil ich auf Qrund desselben
Materials, das meinen Vorgängern, die ich aus-
schrieb, den verschiedenen Professoren und Hof-
räten zur Verfügung stand, prinzipiell zu vollkom-
men entgegengesetzten Resultaten kam. Schließlich
konnte es aber gar nichts anderes werden als eine
Kompilation, da keine noch nicht verwerteten Do-
kumente auffindbar gewesen waren ... Als mir
der Hofrat einen „unschuldigen“ Zitatendiebstahl
nur mir erkennbar leise vorwarf, errötete ich glück-
lich (er meinte vor Empörung über diese Verdäch-
tigung), und von da ab hatte ich gewonnenes Spiel
bei ihm. Um sechs Uhr, eine Stunde vor Schluß,
befand sich nur mehr ein Viertel der ursprünglichen
Zuhörer im Saale. Sie schlichen sich erst gegen
dreiviertel sieben wieder ein, um sich die Testuren
und eventuell die Seminarzeugnisse zu holen, muß-
ten aber noch vernehmen, wie der Hofrat mich er-
munterte, die Arbeit zu veröffentlichen. Die älte-
sten Seminarmitglieder konnten sich ähnlicher
Sanftmut und derartigen Lobes nicht entsinnen,
„der Alte hat heut einen guten Tag gehabt,“ ora-
kelten sie, und dabei sah ihnen der Neid aus dcn
Augen, sie hatten einen fürchterlichen „Qizi“. Ich
war nämlich nicht besonders beliebt bei ihnen. Wenn
ihrer einer mich mit „Heil Ihnen“ oder „Heil dir“
grüßte, hatte ich die unangenehme Qewohnheit,
„Quten Morgen“ zu danken, wenn es kohlraben-
schwarze Nacht war und umgekehrt. Und das
konnten sie nicht ausstehen. So und jetzt stellte
sich mir noch ein Doktor mit einem wohlassortier-
ten schwarzen Spitzbart vor, cin gewisser Herr
Löbl. Ah! Der war auch ein Dichter. Wenigstens
trug er eine flatternde Krawatte. Das Dichten aber
überließ er wohl, wie viele, der deutschen Sprache.
Er gratulierte mir zu meinem seltenen Erfolgc.
„Selten“ — das war zweideutig, aber — alle Ach-
tung, er hatte schon die grausliche Lehramtsprü-
fung hinter sich und war seit ein paar Jahren
Supplent, also ein halber Professor! Hut ab. Und
der gratulierte mir. Ich kam mir wie ein Hoch-
stapler vor. — Wir gingen miteinander. Die Nischen
und Qänge der Universität waren schon voll von
schmelzenden Liebespaaren, die wie gewöhnlich
des Abends Säle und Aula als feineren Rendez-
vousort und bessere Wärmstubc benützten. „Er“
als Kommis selbstverständlich im Stadtpelz, „sie“
meist mit unschuldig-verworfenem Qesicht,
schwimmenden Augen. Und mir stand ein wissen-
schaftliches Qespräch bevor: Alle Schuld rächt sicli
auf Erden!
Vor ein paar Stunden noch hatte ich an mein
Tagebuch die Frage gerichtet, ob nicht die Erde ein
Lebewesen sei und die Bäume und Gräser eine
Krankheit der Epidermis, eine geringfügige Haut-
krankheit, wir Menschen und Tiere aber nichts als
Schmarotzer und Parasiten, ganz gewöhnliche Ba-
zillen! Dann wieder auf die Lobesworte des Pro-
fessors hin war alle Demut fortgeflogen, meine
Seele besah sich wohlgefällig im Spiegel und war
dabei großmrtig genug, die fremden Federn zu
ignorieren, mit denen ich mich geschmückt hatte.
Jetzt aber nahte das Verderben, ich sclbst mußte
beliebig oft den Mund öffnen, damit der Mann der
Wissenschaft Qelegenheit liabe, mir auf den Zalm
zu fühlen. Vorderhand zwar schritten wir gewal-
tig die Stiegen hinab, und es ergab sich, daß ich
dem schnell vertraulich Werdenden nachgebend,
der lauten Alserstraße aus dem Weg zu gehen be-
schloß. Hierauf spazierten wir und unsere Schatten
ein wenig unter den Arkaden herum, um später auf
die Florianigasse loszusteuern. Ausbeugend fragtc
ich, was der Edlmann mit dem Veröffentlichen gc-
meint habe, in der stillen Hoffnung, es werde
meinem Referat ein ruhmvoller Abdruck in einer
unserer renommiertesten Historikerzeitungen
blühen. Die Phrase war nicht mehr als eine Auf-
forderung gewesen, meine Arbeit auszuführen und
als Dissertation einzureichen. Das hätte ich mir
auch denken können, doch was konnte man
machen . . .? Und sei es eine Stunde, nachdem
sie gesprochen wurden: alle Worte sind Orakel und
nehmen in der Erinnerung immer Färbungen an,
die zu der Stimmung passen, in welcher man ge-
rade herumplätschert. Was sagte der Herr Löbl
noch? Sechs bis acht Monate ernster Arbeit in
allen möglichen Archiven wären erforderlich, wenn
man das Herz des Professors halbwegs rühren
wolle. Qrauenhaft! Dann allerdings ginge er einem
in jeder Beziehung an die Hand, bringe seine
Schützlinge gut durch die Prüfungen und verschaffe
ihnen Supplentenstellen oder gar Dozenturen. Von
der Aussicht, in den diversen Hof- und Staatskanz-
leien als Aktenstaubschlucker funktionieren zu
müssen, war ich nicht enthusiasmiert. Aber wel-
cher anständige Student ist am Ende nicht jeden
Abend davon überzeugt, daß er vom nächsten Mor-
gen ab einen geradezu märchenhaften Fleiß ent-
wickeln werde? Und gar wenn solche Ziele vor
Augen standen! Ich sah mich schon als Dozent,
außerordentlicher Professor, Hofrat, und ich muß
es gestehen: ich behandelte meine Schüler mit über-
legener Ironie. . . . In diesen Träumen störte mich
mein Begleiter, als wir von der Schlösselgasse in
die Laudongasse einbogen, „schon um diesen be-
rühmten Feldherrn dadurch zu verherrlichen,“ wie
er über seinen eigenen Witz lachend meinte.
37
a' e Qegenstücke vielleibiger Riesen, Phorkyaden
^' e Qorgaden, begnügten sich, manchen Tieren
°^er Staaten ähnelnd, mit zusammen einem Zahn
nnd Auge. Laut der Mitteilung eines ziemlich apo-
^JTphen alexandrinischen Qrammatikers sollen
a‘ ese Kommunistinnen auch allerhand andere Kör-
Perteile in einem gemeinsamen Exemplar besessen,
pnd wie ein womöglich noch apokrypherer gelehr-
J® r» aber mit der klassischen Walpurgisnacht un-
Pekannter Kommentator des fabelhaften Alexan-
eriners versichert, damit auch ausgekommen sein.
'* a nicht einmal für dies Pflichtexemplar Verwen-
«ung gefunden haben. Meine Kollegen schlugen
^ en Rekord dieser antiken Freaks noch um ein be-
trächtliches, denn ihrer zwanzig hatten zusammen
,llcht annähernd ein einziges Qehirn . . . Der Hof-
rat trat ein. Der Bronchialkatarh des Gewaltigen
jj'ußte sich seit dem letzten Male bedeutend ge-
j essert haben, denn der Professor war, wie ich so-
|? rt freudig konstatierte, bei weitem nicht so „gran-
'S“ wie damals. Der unbewölkte Zeus lachte zwar
n°ch lange nicht, im Gegenteil, es setzte ein Don-
nerwetter, aber es entlud sich nicht über mich. Die
erste, den wirklichen Seminarmitgliedern reser-
^'erte Tischreihe war wieder einmal leer, der
^'bliothekar allein repräsentierte die Blüte der zu-
"jjnftigen österreichischen Qeschichtsforschung.
ü' e anderen schwarzrotgoldenen Bänder waren —
ycrmutlich aus Antipathie gegen den altliberalen
•lerrn — knapp vor viertel sechs in irgend eines
jj er so bequem bei der Universität gelegenen Cafe-
aäuser ausgerückt, allwo sie, wie es sich in Oester-
re'ch für teutschvölkische Studenten geziemet,
skatspielfend an ihren Stammtischen saßen. Wobei
es öfters vorgekommen sein soll, daß die Herren
aufbrechend ohne treudeutschen Heilgruß vonein-
auder Abschied nahmen, weil, ganz abgesehen von
jj eui Kassastand der Verlierenden, die meist ohne-
Uju nur ein paar Heller betragenden Spielschulden
Ufchtsdestoweniger von manchem unter ihnen prin-
^'Piell nicht beglichen wurden, mit den Worten:
”Man zahlt nur, wenn man gewinnt!“ . . . Etwas
J' erschnupft über die abermalige Absenz dieser
‘jerrschaften zog der Hofrat sein ebenso putziges
a,s gefürchtetes Notizbüchlein hervor. Auf die
schüchterne Einwendung des Bibliothekars hin, dic
Uieisten der fehlenden Seminaristen befänden sich
pgenwärtig im Stadium der Lehramtsprüfung, er-
tjundigte er sich teilnahmsvoll nach dem Lose der
"hrigen. Daß diese Herren an heftigen Hals-
Schmerzen litten oder gar an Influenza erkrankt
JJj aren, schien ihn aufrichtig zu betrüben, doch be-
Uiclt er trotz seiner innigen Trauer hinreichend
assung zu bemerken, er verzeichne die Namen
? er Bedauernswerten nur, um festzustellen, ob in
‘Urer Abwesenheit nicht System liege, eine gewisse
Ujcsetzmäßigkeit, deren Walten in den Geschichte
JUuchenden Kräften auch sonst nicht zu verkennen
e‘! ... „Kommen Sie mir um Qotteswillen nicht
dem Chaos des Qeschehens,“ fuhr er den armen
ö'bliothekar an, dem vor Schreck das Doktorat
uUd sozusagen auch der Schnurrbart abfiel. „Die
IJräentlichen Mitglieder setzen sich einfach über die
eünahme an den Seminarübungen mit Hilfe einer
s°ust raren Art von Arbeitsteilung hinweg, indem
U' e Herren abwechselnd sich in einem überaus aku-
eu Stadium der Lehramtsprüfungen zu befinden
P'schützen, aus dem sie übrigens kurioserweise
Uj e herauskommen, abwechselnd werden sie von
,,'cht genug zu beklagenden Erschütterungen ihrer
^ esundheit heimgesucht . . . Für ihre mit dem
p ausalitätsprinzip schwer vereinbare, mehr fata-
'stische Geschichtsauffassung, Herr Bibliothekar,
^ eibt noch immer genug Raum. Denn wenn die
etreffenden Herren dereinst zur Prüfung erschei-
eu sollten, ich gebe es zu: nichts anderes als eine
Us Wunderbare grenzende Häufung widriger Zu-
»N* ,e wird an gewissen Ergebnissen Schuld tragen.“
^ er Bibliothekar sank irgendwo unter den Tisch.
jUnn fragte der Hofrat, wie immer vor Beginn des
jj eierates, ob nicht endlich doch eines der von ihm
r^stellten Themen Qegenliebe gefunden habe. Das
e. ar nun absolut nicht der Fall: der Professor war
‘u Qreuel in den Augen meiner biederen Qerma-
s eu. Er war etwas zu rigoros. Namentlich liebten
' e *hn nicht, weil der Bösewicht soviel Aufhebens
achte, wenn ein armer Teufel von Student einen
0jjä den anderen Qeschichtsschreiber aus Versehen
^upe Anführungszeichen zitierte. Verstimmter er-
Undigtg sich der Hofrat bei den wenigen Damen
nd Herren, die es mit ihm gewagt hatten, wie weit
sie
*n den übernommenen Arbeiten gekommen
seien. Und als das Qräßliche zutage kam, daß eine
Dame, die kurz zuvor noch anscheinend außer-
ordentlich lustige Dinge ihrer Nachbarin zugezwit-
schert hatte, frevelhafterweise noch kein einziges
der für ihr Elaborat nötigen Bücher gelesen hatte
und dabei noch lachte, da erklärte der Wüterich
dezidiert, es sei fern von ihm, auf ihrer weiteren
Anwesenheit zu bestehen. Hierauf lud er mich mit
den verbindlichsten Worten ein, meinen interessan-
fen Vortrag fortzusetzen. Ob solcher Umschwung
in der Behandlung meiner Wenigkeit bloß Beloh-
nung des mir in diesem Momente wie auch bei
der Zusammenstellung der Arbeit entströmten
Schweißes sei, oder gar einer Art Reue entstamme,
mich früher ein klein wenig „gehunzt“ zu haben,
darüber grübelte ich noch, als ich schon zu meiner
eigenen Ueberraschung mitteilte, diesmal alle übri-
gen Punkte erschöpfen und nur die Schilderung der
religiösen Streitigkeiten mir auf die nächste Stunde
aufsparen zu wollen. Mit Müh und Not verhinderte
ich meine schnell üppig gewordene Zunge hinzuzu-
fügen, daß ich infolge einiger persönlicher Erleb-
nisse außerstande sei, die in derlei Dingen unum-
gänglich nötige Objektivität aufzubringen. Ja, ich
gewann es sogar über mich, den prachtvollen Rat
der Jesuiten: „Ungarn ist zuerst elend, dann katho-
sich, schließlich deutsch zu machen“ zu erwähnen,
ohne didse von dem damaligen Landesvater, Leo-
pold I., im dritten Punkte nicht befolgte Taktik
etwa gehässig zu kritisieren, weil der Held einer
meiner Skizzen von einem Vehikel, in dem ein
Jesuit saß, über und über mit Kot bedeckt worden
war. . . Das waren die „persönlichen Erlebnisse“!
Meine anfängliche Bestürzung über diese selten,
sonst aber gleich gründlich in Erscheinung tretende
Unbeherrschtheit, vielleicht Unabhängigkeit meiner
Sprechwerkzeuge legte sich, ich stotterte zwar
einige Zeit noch beim Vorlesen, doch das liatte eher
in jenem gewissen wissenschaftlichen Stil seinen
Qrund, den nicht imitiert zu haben ich sonst mein
Lebtag bedauert hätte. Uebrigens: hätte ich mich
in meiner durch ihre Länge ausgezeichneten Arbeit
nicht ihr kongenialer Satzungetüme bedient, son-
dern mich eines mehr mitreißenden Stiles beflissen,
wäre mir sicherlich „Journalismus“ zum Vorwurf
gemacht worden. Dabei jedoch, mitten unter
Schachtelsätzen, in einem Deutsch aneinander-
gekoppelt, so schlecht, wie ich es nie gehofft hatte,
waren, nur utn so wirkungsvoller, da und dort
Rosinen eingesprengt, Atemstationen fiir mich,
kurze, meist nur scheinbare Witzworte, in denen
auf vieldeutig unverfängliche Art meine ketzeri-
schen Ansichten geborgen waren. An einer Stelle,
wo ich mir die aber schon mehr eindeutige, harm-
lose Bemerkung gestattete, jeglicher Systemwech-
sel, jeder Wechsel republikanischer Regierungs-
formen mit aristokratischen sei belanglos, irrele-
vant, da ja das, worauf es einzig ankomme, die
Technik des Regierens, wohl infolge des sich gleich
gebliebenen Materials, seit der Zeit der Pharaonen
sich nicht verändert habe — an dieser Stelle unter-
brach mich Seine Majestät mit einem erstaunten
„diese Ansicht ist originell“, worauf die geräusch-
lose Flucht um ihren Qenuß gekommener Kollegen
einsetzte. Von Salmiakzeltchen war keine Rede
mehr — eher war es möglich, daß ich die Kragen-
fasson des Professors akzeptierte, schon weil heut-
zutage kein Mensch mehr Vatermörder trug, und
mir außerdem einen so geistreichen Spitzbart
wachsen ließ, wie der Hofrat einen sein Eigen
nannte. Und da der Qelehrte, nun darauf aufmerk-
sam geworden, daß ihm hier keine gewöhnliche
Kompilation vorlag, sondern auch geistreiche
Worte, wie er meinte, geistreichelnde, wie ein Un-
erbittlicher in mir feststellte, kritisierte er nicht
mehr, sondern konversierte aufs freundlichste mit
mir. Ich schämte mich des unverdienten Lobes,
denn das Ding, das ich da vorlas, gehörte nicht
ganz mir. Draufkommen konnte mir allerdings
nicht so leicht einer. Weil ich auf Qrund desselben
Materials, das meinen Vorgängern, die ich aus-
schrieb, den verschiedenen Professoren und Hof-
räten zur Verfügung stand, prinzipiell zu vollkom-
men entgegengesetzten Resultaten kam. Schließlich
konnte es aber gar nichts anderes werden als eine
Kompilation, da keine noch nicht verwerteten Do-
kumente auffindbar gewesen waren ... Als mir
der Hofrat einen „unschuldigen“ Zitatendiebstahl
nur mir erkennbar leise vorwarf, errötete ich glück-
lich (er meinte vor Empörung über diese Verdäch-
tigung), und von da ab hatte ich gewonnenes Spiel
bei ihm. Um sechs Uhr, eine Stunde vor Schluß,
befand sich nur mehr ein Viertel der ursprünglichen
Zuhörer im Saale. Sie schlichen sich erst gegen
dreiviertel sieben wieder ein, um sich die Testuren
und eventuell die Seminarzeugnisse zu holen, muß-
ten aber noch vernehmen, wie der Hofrat mich er-
munterte, die Arbeit zu veröffentlichen. Die älte-
sten Seminarmitglieder konnten sich ähnlicher
Sanftmut und derartigen Lobes nicht entsinnen,
„der Alte hat heut einen guten Tag gehabt,“ ora-
kelten sie, und dabei sah ihnen der Neid aus dcn
Augen, sie hatten einen fürchterlichen „Qizi“. Ich
war nämlich nicht besonders beliebt bei ihnen. Wenn
ihrer einer mich mit „Heil Ihnen“ oder „Heil dir“
grüßte, hatte ich die unangenehme Qewohnheit,
„Quten Morgen“ zu danken, wenn es kohlraben-
schwarze Nacht war und umgekehrt. Und das
konnten sie nicht ausstehen. So und jetzt stellte
sich mir noch ein Doktor mit einem wohlassortier-
ten schwarzen Spitzbart vor, cin gewisser Herr
Löbl. Ah! Der war auch ein Dichter. Wenigstens
trug er eine flatternde Krawatte. Das Dichten aber
überließ er wohl, wie viele, der deutschen Sprache.
Er gratulierte mir zu meinem seltenen Erfolgc.
„Selten“ — das war zweideutig, aber — alle Ach-
tung, er hatte schon die grausliche Lehramtsprü-
fung hinter sich und war seit ein paar Jahren
Supplent, also ein halber Professor! Hut ab. Und
der gratulierte mir. Ich kam mir wie ein Hoch-
stapler vor. — Wir gingen miteinander. Die Nischen
und Qänge der Universität waren schon voll von
schmelzenden Liebespaaren, die wie gewöhnlich
des Abends Säle und Aula als feineren Rendez-
vousort und bessere Wärmstubc benützten. „Er“
als Kommis selbstverständlich im Stadtpelz, „sie“
meist mit unschuldig-verworfenem Qesicht,
schwimmenden Augen. Und mir stand ein wissen-
schaftliches Qespräch bevor: Alle Schuld rächt sicli
auf Erden!
Vor ein paar Stunden noch hatte ich an mein
Tagebuch die Frage gerichtet, ob nicht die Erde ein
Lebewesen sei und die Bäume und Gräser eine
Krankheit der Epidermis, eine geringfügige Haut-
krankheit, wir Menschen und Tiere aber nichts als
Schmarotzer und Parasiten, ganz gewöhnliche Ba-
zillen! Dann wieder auf die Lobesworte des Pro-
fessors hin war alle Demut fortgeflogen, meine
Seele besah sich wohlgefällig im Spiegel und war
dabei großmrtig genug, die fremden Federn zu
ignorieren, mit denen ich mich geschmückt hatte.
Jetzt aber nahte das Verderben, ich sclbst mußte
beliebig oft den Mund öffnen, damit der Mann der
Wissenschaft Qelegenheit liabe, mir auf den Zalm
zu fühlen. Vorderhand zwar schritten wir gewal-
tig die Stiegen hinab, und es ergab sich, daß ich
dem schnell vertraulich Werdenden nachgebend,
der lauten Alserstraße aus dem Weg zu gehen be-
schloß. Hierauf spazierten wir und unsere Schatten
ein wenig unter den Arkaden herum, um später auf
die Florianigasse loszusteuern. Ausbeugend fragtc
ich, was der Edlmann mit dem Veröffentlichen gc-
meint habe, in der stillen Hoffnung, es werde
meinem Referat ein ruhmvoller Abdruck in einer
unserer renommiertesten Historikerzeitungen
blühen. Die Phrase war nicht mehr als eine Auf-
forderung gewesen, meine Arbeit auszuführen und
als Dissertation einzureichen. Das hätte ich mir
auch denken können, doch was konnte man
machen . . .? Und sei es eine Stunde, nachdem
sie gesprochen wurden: alle Worte sind Orakel und
nehmen in der Erinnerung immer Färbungen an,
die zu der Stimmung passen, in welcher man ge-
rade herumplätschert. Was sagte der Herr Löbl
noch? Sechs bis acht Monate ernster Arbeit in
allen möglichen Archiven wären erforderlich, wenn
man das Herz des Professors halbwegs rühren
wolle. Qrauenhaft! Dann allerdings ginge er einem
in jeder Beziehung an die Hand, bringe seine
Schützlinge gut durch die Prüfungen und verschaffe
ihnen Supplentenstellen oder gar Dozenturen. Von
der Aussicht, in den diversen Hof- und Staatskanz-
leien als Aktenstaubschlucker funktionieren zu
müssen, war ich nicht enthusiasmiert. Aber wel-
cher anständige Student ist am Ende nicht jeden
Abend davon überzeugt, daß er vom nächsten Mor-
gen ab einen geradezu märchenhaften Fleiß ent-
wickeln werde? Und gar wenn solche Ziele vor
Augen standen! Ich sah mich schon als Dozent,
außerordentlicher Professor, Hofrat, und ich muß
es gestehen: ich behandelte meine Schüler mit über-
legener Ironie. . . . In diesen Träumen störte mich
mein Begleiter, als wir von der Schlösselgasse in
die Laudongasse einbogen, „schon um diesen be-
rühmten Feldherrn dadurch zu verherrlichen,“ wie
er über seinen eigenen Witz lachend meinte.
37