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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 62 (Mai 1911)
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichten
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Walden, Herwarth: Naturgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0048
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Zeitgeschichten

Die gütige Vorsehung

Herr Lovis Corinth kann das Schreiben nicht lassen.
Reden ist bekanntlich die Kunst, seine Gedanken zu ver-
bergen, Schreiben die Kunst, keine zu haben. Herr Lovis
Corinth schreibt. Man brauchte gegen ihn nicht aui-
zutreten, wenn nicht die Gefahr bestände, dass seinem
Schreiben dieselbe Bedeutung beigelegt würde, wie seinem
Malen. Lovis Corinth, der letzte Epigone des Naturalis-
mus, ist als Fleischmaier berühmt geworden. So berühmt,
dass er jetzt als Präsident der Berliner Sezession mit
Banalitäten die Ausstellung eröffnen darf. Im Reden ver-
birgt er seine Gedanken. Merkwürdig, wie naiv manche
Kunstausübende der Kunst gegenüberstehen. Herr Corinth
glaubt allen Ernstes, dass Cezanne so malte, weil er als
Südfranzose geboren wurde, Gauguin so malte, weil er
sich auf den Südseeinseln aufhielt, und van Gogh weiter
als seine Vorgänger ging, „indem er dicke Farben auftrug
und durch Nebeneinandersetzen reiner Farbenteilchen in
der Ferne für das Auge eine desto lebendigere Wirkung
erzielte“. Man kann sich nun wenigstens eine Vorstel-
lung über Corinths Malweise machen. Herr Corinth
malte s o, wird es später heissen, weil er in Berlin NW.,
Klopstockstrasse 48, wohnte und weil er durch Aufein-
andersetzen unreiner Farbenteilchen in der Ferne immerhin
für das Auge eine lebendigere Wirkung erzielte. Man
kann diese Kunsteinteilung nach Belieben fortsetzen und
die angenehmsten Ueberraschungen erleben. Das unlite-
rarische Adressbuch bekommt eine farbige Nuance. Aber
Herr Corinth weiss noch viel mehr. „Nun, nachdem all
diese Kulturen bis zur Neige ausgekostet waren und die
Blasiertheit der überkultivierten Franzosen eine gewisser-
massen konzentrierte Primitivität ersehnte, warf man sich
auf die kindischen Stammeleien der Naturvölker.“ Gut,
dass Herr Corinth diesen Satz nicht malen muss. Man
versuche ihn zu sehen ,'und er wird viel Spass bereiten.
Sonst aber ist er ..gewissermassen“ Blödsinn. Aber für
Herrn Corinth erscheint er ,.als Quellmotiv der Arbeiten
von Matisse“. Und die Nachkoinmen von Matisse haben
nach Corinth „für ihre Räfselkunst, die nichts mehr mit
der freien edien Kunst gemein hat, Lehren aufgestellt, d'e
der Geometrie entnommen scheinen“. Herr Corinth sollte
sich lieber nicht mit dem Bilderdeuten einlassen. Er tritt
zwar für die deutsche Kunst ein: „Die deutsche
Kunst wird da sein, ohne unser geringstes Zutun und un-
abhängig von der geographischen Lage, wo Maler ar-
beiten“. Also für Deutschiand kommt Herr Corinth mit
der Geographie wieder nicht aus. Ja, um Gottes willen,
jetzt ist man ganz im Weltraum verloren. Herr Corinth
kennt „deutsche Künstler, die denen anderer Länder eben-
bürtig sind und durch ihre starke Individualität hervor-
stechen“. Und verheissungsvoll schliesst er seine bedeut-
sanien Ausführungen: „Für Talente in der Zukunft wird
eine gütige Vorsehung Sorge tragen.“ Er braucht die
Dame nicht zu bemühen, Talente haben wir die Menge,
in Deutschland und in Frankreich, sie sind auch bis auf
die Nationalität ebenbürtig. Aber Genies, Herr Corint'n?
Sie haben recht, Nachahmern kommt keine künstlerische
Bedeutung zu. Es ist aber gleichgültig, ob sie ihre Vor-
büder in Frankreich oder in Deutschland finden. Die her-
vorstechenden deutschen Talente sind schon „gewisser-
massen“. Daher können ihre Bilder kaum noch abfärben.
Die gütige Vorsehung möge für recht viele Genies in
Deutschland, wie van Gogh und Cezanne, Sorge tragen.
Dann erst wollen wir uns getrost auch ihre deutschen
Nachahmer gefallen lassen. Auf keinen Fall aber ihre
Schreibereien.

Wichtig für die Presse

Zu der stimmungsvollen Feier hatten sich mit dem
Direktorium . . . zahlreiche Ehrengäste, die Vorstände . . .,
Vertreter der städtischen Körperschaften, der Gewerbedepu-
tation . . . eingefunden. Die Emporen säumte ein reicher
Damenflor. Unter den Klängen aus Wagners „Tannhäuser“ —
am Dirigentenpult des Orchesters stand Translateur — hielten
die ... Damen und Herren ihren Einzug. Auf der von
Palrnen und Lorbeer umgebenen Estrade mit Kaiserbüste
und . . . Banner hatten . . . Platz genommen. Nach
einem Männerchor begrüsste Herr ... die Erschienenen aufs
herzlichste. Er gedachte des Heimgangs August . . ., der
seinem Bruder Karl schnell gefolgt sei, und hob das vorbild-
liche Wirken dieser genialen Männer hervor. Die Ansprache
schloss mit einem Hoch auf den Kaiser . . . Zum Schluss dankte
Herr . . . den Treudienenden und wiinschte ihnen Gottes
Segen für die Zukunft. Die Stadtverordneten Giese und Max
Schulz überbrachten die Glückwünsche der städtischen Behörden
Berlins. Generaldirektor . . . dankte für alle Ehrungen, widmete

seinem Iieben Freunde August . . . einen aus bewegtem Herzen
kommenden Nachruf, gelobte, im Geiste des Gründers weiter
vorwärtszustreben und wandte sich mit warmen Worten an die
Angestellten, die er um fernere treue, eifrige Mitarbeit ersuchte.
Sein Hoch galt den Gästen des Festes. — Nach ihm sprach
der Vizepräses . . . Worte des Dankes und der Anerkennung . . .
Namens der Treudienenden gab Herr Lswatsch den Empfindungen
der Liebe und Verehrung . . . beredten Ausdi uck. Den Dank der
Ehrengäste übermittelte Direktor Kilp. Nach dem mit dem
Niederländischen Dankgebet schliessenden Festaktus wurden die
Auszeichnungen verteilt . . . Die Veranstaltung hatte, abgesehen
von dem speziellen Zwecke, eine allgemeine symptomatische
Bedeutung, die sie über das Niveau einer internen Angelegenheit
. . . hinaushebt. Es war ein Triumph des patriarchalischen,
also eines seltenen, fast möchte man sagen, unmodernen Ge-
dankens . . . Daneben freilich war es auch eine würdige
Gedenkfeier für die beiden weitblickenden und auf dem Boden
der echten, altberlinischen Reellität arbeitenden, verstorbenen
Koryphäen . . die neben ihrer . . . Betriebsamkeit den ganz
modemen sozialen Gedanken hochhielten. M.

Mit diesen stimmungsvollen Zeilen wurde das Prä-
miierungsfest der Firma Aschinger geschildert. Die
zu Feiernden sind in diesem Falle 272 Angestellte, die auf
eine ununterbrochene zehn-, sechs- oder dreijährige Tätig-
keit in den Stehbierhallen zurückblicken konnten. August
und Karl sind keine Könige, sondern die Begründer der
weiss-blauen Lokale, die Herren Aschinger. Geloben wir
uns a 11 e , im Geiste der Gründer weiterzustreben. Die
ganze Feierlichkeit und ihre Schilderung erschien mir so
wertvoll, dass ich sie hier wörtlich aus dem „Lokal-
Anzeiger“ wiedergebe. Man wird leicht herausfindeu, dass
diese Feier und ihr Bericht für alle Festlichkeiten, für Hof-,
Bürger- und Arbeiterkreise gleich geeignet sind. Man ver-
suche, an die allerausgefalleuste Feier zu denken, und wird
mit Staunen merken: es stimmt. Es stimmt immer und
überall. Hier ist es einem Kopf gelungen, die endgültige
Formel festzulegen. Gleichzeitig aber, die Formel mit
lyrischer Kraft zu veranschaulichen. Bei Bedarf vergesse
man nur nicht die Namen Karl und August entsprechend
zu ändern und die Namen Kilp und Lawatsch richtig zu
ersetzen. T r u s t

Der Name

Man soll auf Erden nicht vornehm sein. Ich wollte
Herrn Franz Pfemfert, Herausgeber der Zeitschrift für
freiheitliche Politik und Literatur „Die Aktion“, Berlin-
Wilmersdorf, Nassauische Strasse 17, Telephonanschluss
Amt Wilmersdorf 6242, schonen. Und seinen Namen für
die Ewigkeit als Symbol eines unkünstlerischen Trottels
verschweigen. Flerr Pfemfert legt aber Wert darauf, im
„Sturm“ genannt zu werden. Auf andere Weise wäre es
ihm auch nie gelungen. Nichts ist komischer, als wenn
Epigonen sich „selbständig“ machen. Die Druckanordnung
hat er vom Sturm wenigstens gelernt. Weiter reichte es
nicht. Herr Pfemfert veröffentlicht mit Vorliebe die von
mir ahgelehnten Manuskripte. Und behauptet nun, ich
„hätte versucht, die „Aktion“ zu diskreditieren. Man
braucht das nur zu sagen, um helles Gelächter auszulösen“.
Ich schliesse mich dieser forcierten Heiterkeit
stürmisch an.

Um nichts zu verschweigen: „Die Aktion“ ist das
Publikationsorgan der „Organisation der Intelligenz für
Deutschland“. Eine Sache.

Auf weitere Aktionen des Herrn Pfemfert lasse ich
mich nicht mehr ein.

H. W.

Naturgeschichte

Der Schieber

Einen groben Schwindel leistet sic’n Herr Theodor
Kappstein, ständiger Mitarbeiter des Berliner Tageblattes,
Dozent der Humboldtakademie, Referent verschiedener Zei-
tungen, Religionsphilosoph, in der Abendausgabe des Ber-
liner Tageblattes vom Montag, den 1. Mai 1911. Dort
steht im Feuilleton eine übliche geistlose Plauderei: „Bei
den Abenteuern des Geistes“. Geistlos ist zuviel gesagt.
Denn das Wort setzt immerhin die Fähigkeit voraus, vom
Geist verlassen zu werden. Eine Fähigkeit, die Herr
Kappstein sich wohl selber kaum zuspricht. Also dieser
Herr Theodor Kappstein bespricht einen Abend des Neo-
pathetischen Kabaretts. Selbstverständlicn „lyrisch“. Zeit
und Ortangabe fehlen. Nur impressionistisch kann der
Leser einen Schluss ziehen. Denn der Schluss dieser
Plauderei lautet: „und sciiob . . . mich ins Freie, in die
herbe, reine, wahrhaftige Frühlingsluft zu einem ge-

sunden Heimmarsch.“ Die Plauderei erschien am 1. Mai,
also, denkt der Leser, Ende April. Aber der Leser denkt
falsch, auch weun er mit der bewährten Aktualität seines
Lieblingsblattes rechnet. Der dort besprochene Abend
fand am — achtzehnten Januar 1911 statt. Nach
diesem Abend schob Herr Kappstein in die Frühlingsluit.
Hier sieht man ein typisches Beispiel des joumalistischen
Impressionismus. Aus irgend einem Grunde konnte Herr
Kappstein seine Plauderei im Januar nicht anbringen, oder
die Redaktion sie nicht unterbringen. Aber auf Erden
darf nichts umkommen. Abfälle und Produkte werden
sorgfältig aufbewahrt. Das Tageblatt führt sie nicht ihrer
naturgemässen Bestimmung, nämlich dem Müllhaufen, zu,
sie werden auf Neu gearbeitet, aus der wahrhaftigen
Winterluft wird eine unwahrhaftige Frühlingsluft. Und
die Bemogelung ist geglückt. Soll man wirklich noch auf
die Meinungen des Herrn Kappstein eingehen nach Fest-
stellung dieser groben Täuschung? Richtet der Schub in
die Frühlingsluft nicht schon sich selbst? Soll man den
Religionsphilosophen, der nur bei Spionoza und Kant in
die Schule gegangen ist, wenn auch ganz erfolglos, noch
auf den Armesünderkarren laden und ihn am Galgen auf-
hängen? Wer sich selbst richtet, braucht nicht noch ge-
hängt zu werden. Ich überlasse seine schäbigen Reste
dem, der den Nachrichter zu spielen wünscht.

Unglückliche Natur! Dir geht es schlecht auf deut-
scher Erde. Alle kunstunfähigen Trottel schieben zu dir
und werfen sich an deinen grünen Busen — und dräut
der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden und streut
er Schnee und Eis umher, es muss doch Frühling werden.
Es muss doch Frühling werden.

Der Entartete

Der gule alte Nordau lebt noch immer. Ich erfahre
es authentisch auf dem Umweg über den Lokal-Anzeiger.
Der Lokal-Anzeiger hat seit längerer Zeit an seinen eige-
nen künstlerischen Unsinnigkeiten nicht genug und führte
deshalb die Rubrik Pressstimmen ein. Also der Lokal-
Anzeiger zitiert die Vossische Zeitung. In der Vossischen
Zeitung zittert Max Nordau, der Feind konventioneller
Lügen, über die unkonventionelle Malerei unserer argen
Zeit. Wir sind nun glücklich im Jahre 1911, aber die alten
Pietscher sterben nicht aus. Herr Nordau leistet sich
zum Beispiel folgendes: „Um nur das mittelmässigste Bild
rechtschaffener Art zu malen, muss man mindestens etwas
gelernt haben, wenn man auch gar kein Talent hat. Aber
um, wie van Gogh oder Cezanne, wie Zac oder Henri
Matisse, zu ferkeln, braucht man nichts. Kein Studium,
kein Talent, kein Gefühl, nur Schamlosigkeit“. Man braucht
das natürlich auch nicht, um gegen grosse Künstler zu
schweiuigeln. Man muss dem alten Herrn doch end-
lich einmal mit einem groben Keil über den Kopf fah-
ren, trotzdein er kein grober Klotz, sondern nur ein
klotziger Trottel ist.

Der Sohn seiner Heimat

„Je mehr und genauer man Georg Engels Dichtungen
kennen lernt, um so weniger kann man sich darüber täu-
schen, dass die stärksten Wurzeln seiner dichterischen
Kraft von seinem Heimatboden aus die gesundesten
Schösslinge treiben, deren Blüten in fremder Luft nimmer-
mehr so saftlebige (wirklich saftlebige) Früchte aus-
zureifen vermöchten, wie der Dichter zum Beispiel in sei-
nem neuesten Novellenbuch . . . sie zusammengetragen“.
Hat fehlt. Es kommt also eine „lyrische Kritik“. Wenn
ihr Verfasser doch gleich verraten hätte, von welchen
Orten Herr Georg Engel seine saftlebigen Früchte zu-
sammengetragen, an denen man ihn erkennt. Warum lässt
er aus seinem Heimatboden Greifswald gesundeste
Schösslinge treiben, wenn er doch die saftlebigen Früchte
zusammentragen muss? Ja, die Natur ist unerschöpflich,
kann ich nur wiederholen, und die Botanik erfrischt mich
nach den vorangehenden zoologischen Ausschweifungen.
Aber der Engelkritiker des roten Tags wird noch lyrischer.
„Wenn jemals ein deutscher Erzähler von Bedeutung den
Stempel der Heimatdichtung getragen (hat fehlt), im besten
Sinne getragen (also doch lyrisch, o meine Ahnung!), wie
man ein Ehrenzeichen trägt, so war es Georg Engel.“ Georg
Engel mit dem Stempel als Ehrenzeichen ist direkt eine
Attraktion für die Woche. „Am sichersten geprägt in seinem
unverwüstlich lebfrischen (wirklich lebfrischen) Hann Klüth,
jener Dichtung, die zugleich als Dokument der Landes-
kunde von viel zu wenig beachtetem Wert ist. Die Landes-
kunde sollte diese saftlebige lebfrische Dokumentendich-
tung samt dem gestempelten Herrn Engel unbedingt für
die Nachwelt sicher prägen lassen. Denn, wie der Kri-
tiker versichert, sein neuester Novellenband ist „schon
wieder ganz von der alten guten Art und zeigt Engels
 
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