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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 62 (Mai 1911)
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Walden, Herwarth: Naturgeschichte
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Döblin, Alfred: Die Helferin
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0049

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Erzählertugenden wieder im besten Lichte. Nur fünf No-
veilen sind es — aber jede von ihnen ein wohlgezeichnetes,
schön abgerundetes Charakterbild“. Herr Engel scheint
der Natur also doch mit schönen Abrundungen etwas
nachzuhelfen. Engels Erzählertugend siegt über alles. Da
ist das rotköpfige Fischermädel von unbändiger Wildheit
und unbeugsamer Selbstbestimmungskraft, die einen tol-
patschigen gutmütigen Riesen durch höhnende Abweisung
in Verlotterung, Trunk und Selbstmord treibt (Oreifs-
walder Heimatkunst). Vom Strick aber rettet sie den
Qatten (schöne Abrundung). Dann wieder ein Rotkopf,
trotzig und in allem dennoch voll innerer Gtite und
märchenfroher Glückmöglichkeiten (Greifswalder Heimat-
kunst), von denen das einsame Alter eines in allen Lebens-
werten gestrandeten Seemanns verklärt wird (schöne
Abrundung). Ein fein empfundenes Stiickchen Lebens-
treue, sagt der Kritiker und riihmt „Engels prächtigen
Humor als Lebensredakteur“. Das ist zu viel. Ich war
schon bereit, ihm Greifswald zu iiberlassen, aber wenn
Herr Engel jetzt noch das ganze Leben redigieren will,
sollte er auf die Kunst wenigstens verzichten. Einen
schöneren Abgang als in seinem psychologisch vertieften
fliegenden Holländer kann er sich gar nicht ausdenken,
er „begegnet einem blutjung unschuldig und weltfremd ge-
haltenen Mädchen, das ihn erlöst, indem es, wahnhaft ge-
trieben, mit ihm gemeinsam in freiwilligen Meerestod geht,
um ihm bei seinem Erscheinen vor Gottes Richterstuhl mit
ihrer Unschuld und Reinheit als Fürsprech zu dienen.“
Das weltfremd gehaltene, lebfrische, saftlebige Mädchen als
Fürsprech ist eine Sache. Sehr richtig bemerkt auch sein
Kritiker hierzu: „Wie von verklärendem Mondlicht um-
hüllt, eine plastische Gruppe, so stehen die beiden Tod-
suchenden vor uns, fast überlebendig in ihrem wahn-
betörten Handeln.“ Dieses lebende Bild sollte die Stadt
Greifswald Herrn Georg Engel zu seinem Abschied stel-
len. Das verklärende Mondlicht will ich liefern, wenn
man mir das gestempelte Dokument überreicht, dass Herr
Georg Engel ferner nur noch als frischlebiger Acker-
bürger ein Verhäitnis zur Natur suchen wird.

Trust

Die Helferin

Von Alfred Döblin

In New York erregte um die Mitte des vorigen Jahr-
hunderts der Prozess des Fabrikanten Grasso ungeheures
Aufsehen. Man sprach monatelang von der rätselhaften
Angelegenheit und ihren furchtbaren Begleitumständen.
Der Krieg mit den Südstaaten brach aus, ehe man sich
beruhigt hatte. Als nach einundeinhalb Jahren der
Friede geschlossen wurde, war die Erinnerung an den
Vorgang ausgelöscht; und jetzt lassen sich die Einzel-
heiten nur noch stückweise zusammeufinden. Sie sind
überwuchert von myüiischen Bildungen; sie lassen stau-
nen, wie Unglaubliches dem Menschen begegnen kann, mit
wie lächelnder Lippe er daran vorübergeht und alles
weiterzieht wie früher.

Gegen Ende der fünfziger Jahre florierte an der
Peripherie der Stadt — jetzt gehört die Gegend völlig
zur City — ein Beerdigungsinstitut. Der Besitzer Grasso
war mit seiner Frau vor fünf Jahren aus Italien einge-
wandert Er hatte sich vergeblich als Hotelier versucht,
war dann Schreiner geworden und hatte dabei soviel er-
worben, dass er ein älteres Sargmagazin übernehmen
konnte. Es gab damals kaum 200 000 Menschen in der
Stadt. In nicht langer Zeit hatte der Italiener es fertig
gebracht, dass das Beerdigungswesen völlig in seine Hände
überging, dass nur noch einzelne, mehr behördliche Auf-
träge an andere Firmen gelangten — von Kranken-
häusern, Militärlazaretten. Die Konkurrenzgeschäfte
gingen rapid zurück. Nicht die kapitalkräftigsten, die sich
verzweifelt wehrten, konnten sich neben Grasso behaupten,
dem, o'nne dass er Lärm machte, alles mühelos zufiel.

Erst später, bei der Untersuchung des Falles, stellte
sich heraus, dass Grasso ganz unbeteiligt an diesem Auf-
schwung seines Geschäftes war. Die Blütezeit des Hauses
fiel nämlich ziemlich genau zusammen mit dem Eintritt
eines jungen Angestellten namens Mike Bondi. Dessen
Herkunft war völlig unbekannt; nur bemerkte man, dass
er sich italienisch mit seinem Herrn unterhielt. Man sagte,
er sei schon bei seiner Anstellung etwa zwanzig Jahre
alt gewesen. Aber jeder überzeugte sich, dass er in den
fünfzehn Jahren seiner Tätigkeit um keine Spur älter ge-

worden war. Und Photographien, die man später bei ihm
fand, die ihn Arm in Arm mit Herrn Grasso zeigten, be-
wiesen überraschend, dass dieser Mensch anscheinend un-
beweglich in der Zeit stand. Keine Linie seines knaben-
haft zarten Gesichtes hatte sich vertieft, seine tiefschwarzen
Haarsträhnen fielen noch immer in eine niedrige, weisse
Stirn. Ja, auch seinen Kleidern — es ist etwas lächer-
lich, dies zu berichten — schien die Zeit nichts an-
zuhaben; denn niemand hatte gesehen, dass er sich neue
kaufte; er trug immer einen schwarzen Anzug, eine
lockere, blusenähnliche Jacke mit blanken Knöpfen, von
einem altertümlichen Schnitt, wie man sie vor Jahrzehnten
vielleicht getragen hatte. Es wusste bei den Prozess-
vemehmungen auch niemand, wo der Mensch sich nachts
aufhielt; manchmal soll er in dem Geschäft übernachtet
haben, meist aber fuhr er abends auf einem Wägelchen,
das ihm gehörte, nach St. Floridan zu, auf der alten Land-
strasse, und verschwand dann für viele Stunden völlig,
Aber all dies ist unsicher und gehört in das Gebiet jener
Sagenbildung, von der ich vorhin sprach. Mike war von
kleiner Gestalt; er ging stets in einem weichen Filzhut,
mit einem dünnen Stöckchen. Sein Gang war weich
und schleichend. Ueber seine Augen lässt sich nichts
sagen; denn die hatte niemand gesehen. Immer hielt er
die Lider gesenkt; und wenn einer mit ihm sprach, so
drehten sich die Augäpfel hinter der zarten Lidhaut.
Nicht selten zogen sich seine sehr schmalen Lippen zu
einem schönen, demütigen Lächeln zusammen. Die Sanft-
heit und Musik seiner Stimme war unsäglich; sie erklärt
vielleicht zum Teil den ausserordentlichen Einfluss
Mikes. Denn, was er sagte, war einfach und ganz sach-
lich; er redete sehr wenig und neben seinen gesc’näftlichen
Dingen nur von Bäumen, Wurzeln, Feldern und Tieren,
für die sich die Städter sonst sehr wenig interessieren.
Ihn begleitete das Glück. Es bildete sich heraus, dass
täglich Mike Bondi durch die Strassen New Yorks wan-
derte, gefolgt von einem hohen russischen Windspiel,
einem weissen, ungeheuren Tier, das auf seinen Beinen
so lautios wie er schritt, und das mit leeren Augen um
sich blickte. Mike Bondi ging in die Wohnungen der
Kranken hinauf und sprach mit iimen. Niemand wehrte
ihm; die Kranken liessen ihn zu sich rufen, eher noch
als einen Priester oder Arzt, und waren ihm dankbar
für die Minuten, die er mit kargen Worten ausgefüllt
hatte. Sie wurden ruhiger una schmerzfreier, die er
verliess, aber sie starben alle, vvie sich bei den Er-
hebungen des Prozesses ergab, starben nach nicht einer
Woche in grossem Frieden, ohne dass ihnen einer helfen
konnte. Die ihn einmal gesehen hatten, fassten ein kaum
erklärliches Zutrauen zu ihm, und liessen ihn, wenn sie
schwer erkrankten, wie in einer unentrinnbaren Sucht zu
sich kommen. Er trat nicht an sie heran, er gab ihnen
nichts, er berührte sie nicht. Dies stellte sich alles bei
den Erhebungen des Prozesses heraus.

Mike Bondi war nicht befreundet mit der Frau seines
Herrn. Frau Grasso liebte feurige Männer; aber eifer-
süchtig, wie untreue Weiber sind, freute sie sich, dass
ihr Mann, Mädchen abhold, sich an Bondi anschloss.
Wenn sie spät abends nach Hause kam, noch hoch-
atmend von einer zarten Begegnung, warf sie sich ihrem
Mann an den Hals, der Arm in Arm mit dem stillen
Sonderling auf dunkeln Strassen spazierte.

Am Ausgang des Frühlings starb plötzlich die junge
Frau eines Rechtskonsulenten Martin in ihrer Wohnung
neben Grassos Magazin. Der Witwer, dem sie zwei
kleine Kinder hinterliess, konnte sich nicht trennen von
dem toten Weibe; und in der angstvollen Nacht nach
ihrem Abscheiden kam ihm die Idee, die Leiche von dem
Sterbelager zu entfernen, sie so schön, so kostbar auf
einem Sarkophage aufzubahren, wie seine Hände es ver-
mochten. Er wurde unter dieser Vorstellung lebendig,
stieg noch gegen elf Uhr von seinent Lager, kleidete sich
an und ging zu Grasso herunter, mit dem er alte Freund-
schaft hielt. Die Türen des Magazins waren geschlossen;
durch die Ritzen der Jalousien zitterte ein trübrotes Licht,
lag in feinen Linien auf dem Strassenpflaster. Herr
Martin öffnete den breiten Torweg, stolperte über den
stockiinsteren Hof, kam durch eine angelehnte Seitentür
auf den langen Korridor, der unmittelbar in das Magazin
führte. Der Vorhang zum Magazin rauschte leise. Mit
Mühe fanden sich seine Augen zurecht. An den Wänden,
in den Gängen, unter niedrigen Wölbungen lagerten die
Särge. Sie standen geöffnet. Sie standen da, nicht er-
wartungsvoll, nicht mit Gier, — mit geheimnisvoller
Leere, versunken in sich, und nur einige seufzend und
schmachtend. Und in dem trübroten Flackern einer
Lampe sah Herr Martin eine Bewegung in der Nische
hinten, hörte flüstern. Herr Grasso kniete dort vor einem
Sarge; aus diesem hoben sich zwei weisse Arme; Spitzen-
ärmel fielen von ihnen zurück. Herr Grasso beugte seinen
Kopf tiefer, drückte sein Gesicht in die niedrigen Brüste
eines Weibes. Er murmelte: „Bessie“ und vieles, was

sehr leise war; sie antwortete: „Ernesto“, lachte und
weinte durcheinander; sie hatte eine sehr süsse Stimme.

Herrn Martin schlug das Herz bis in den Hals hinauf;
er ging aufs tiefste erschrocken rückwärts hinaus, vergass
seine Bestellung. Er lag, ehe er es wusste, in seinem
Bett, kleidete sich mit dem Morgengrauen an und lief
zu Frau Grasso, die in ihrer Küche stand mit losen
Röcken und sich, verblüfft über den frühen Besuch, ein
Tuch umlegte.

Sie war erst ungläubig und beobachtete ihren Nach-
barn, da sie glaubte, er sei verwirrt über den Tod seiner
jungen Frau. Aber dann hielt sie inne mit dein Scheuem,
stiess die Kaffeemühle auf den steinernen Boden herab,
biss sich tief in den linken Vorderarm und wühlte in einer
Schublade nach einem spitzen Küchenmesser, das sie
einmal um das andere in die Holzwand der Küche stiess.
Sie schrie, wem denn das gemeine Frauensbild ähnlich
sähe, ob er denn so wenig teilnahmsvoll wäre, dass er
uicht eininal eine Vermutung darüber aussprechen könnte.
Nach lautem, hemmungslosem Weinen erhob sie sich
resolut, erklärte, sie werde heute nacht alles selbst fest-
stellen. Und mit einer Sicherheit, die Herrn Martin in
Staunen versetzte, riss sie die Wohnungstür auf, rief
ihren Mann herein und sagte ihm, indem sie zum Fen-
ster hinaussah und das dichte schwarze Haar flocht, Herr
Martin habe ihr mitgeteilt, dass ihre Mutter in Starton,
einem Vororte, erkrankt sei; sie müsse gleich auf zwei
bis drei Tage hin. Dann setzten sicli die drei schweigend
im Wohnzimmer am Kaffeetisch nieder, wo Frau Grasso
öfter stark zitterte und einmal die Tasse auf den Boden
fallen liess. Herr Grasso meinte, dies bedeute Glück für
ihre Mutter.

Abends gegen zehn Uhr schlüpfte sie,- nachdem sie
tagsüber in der Wohnung des Herrn Martin dessen kleine
Kinder gehegt hatte, über die dunkle Strasse in den Hof.
Sie sah durch das offene Fenster Herrn Grasso allein im
erleuchteten Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen; mit
traurigem Gesicht, zusammengesunken, blickte er vor sich
hin. Der schwerfällige Mann bewegte seine Lippen; sein
faltiges Gesicht war sehr schlaff; als er nach dem Fenster
blickte, schwammen seine entzündeten Aügen in Tränen.

In einem schmalen Sarge, dicht an der Tür, lag sie.
Ihre Zähne klapperten; ihre Hände flogen, dass sie kaum
das Küchemnesser festhalten konnten. Kurz vor elf Uhr
kam ein Sc'nritt über den Korridor, weich und schleichend;
leicht rauschte der Vorhang. Ein kleines Licht flackerte,
und sie erkannte mit einem Blick Mike Bondi. Sie hatte
ihn tausendmal gesehen, sie kannte seine leicht gebeugte
Haltung, die glatten Haare in der weissen, niedrigen
Stirn, die gesenkten Lider. Aber jetzt erfüllte sie sein
iautloser Gang mit Entsetzen. Es war ihr, als würde
sie matt. Dies war nicht der Gang eines Menschen. Sie
musste sich strecken, den vollen Arm auf den Mund
pressen, um nicht zu kreischen.

Er drückte das Licht mit einem Finger aus, als er an
ihr vorüberging. Sie schloss die Augen, und wie sie diese
öffnete, sah sie Mike Bondi nicht mehr. Aber dort, wohin
er gegangen war, stand in der Finsternis ein weisser
Schein, ging lautlos ein gebücktes Skelett langsam weiter,
schlürfte der leibhaftige Tod. Sie sah noch den Schein
über einem Sarg, in den er sich geschwungen hatte. Da
hallte der schwere Schritt des Herm Grasso durch das
Gewölbe; er ging an der Frau vorüber, die mit einer
Ohnmacht rang, zündete die Oellampe an. Frau Grasso
richtete sich, das Messer zwischen den Zähnen, auf; sie
stieg hinter dem riesenhaften Mann her, hielt sich bei
jedem Schritt an Pfeiler und Mauer fest.

Vor dem Sarge, in den sich das Gespenst geschwungen
hatte, warf sich der breite Mann nieder; zwei weisse
Arme hoben sich gegen ihn her; sie sah zurückprallend
die offene Jacke und die niedrigen, mädchenhaften Brüste,
in die sich ein faltiges, nasses Gesicht vergrub. Sie sah
das stille Mädchengesicht Mike Bondis sich aufrichten,
sah, an die Tür zurückweichend, wie Mike den Gebroche-
nen an sich zog unter zarten Abschiedsworten, wie sie
sich umschlangen. Sie hatte noch die Kraft, sich in die
Küche zu schleppen. Zwei Stunden lag sie besinnungs-
los. Den Rest der Nacht verblieb sie auf der Polizei-
wache, wo man die Frau für krank hielt. Erst am
nächsten Morgen, als Herr Rechtskonsulent Martin geholt
wurde, gingen zwei Beamte mit ihr in die Wohnung und
verhafteten den Besitzer und Bondi, die sich nicht wider-
setzten.

Herr Grasso schwieg sich bei den jetzt folgenden
Verhandlungen völlig aus. Bondis körperliche Unter-
suchung ergab, dass man es mit einem etwa zwanzig-
jährigen Mädchen zu tun habe. Man vermochte nicht
festzustellen, wer sie eigentlich sei. Erst bei dem Lokal-
termin, der nach drei Wochen in dem Gewölbe Grassos
stattfand, redete sie. Sie äusserte von vornherein, man
würde ihr kein Wort glauben, erzählte, dass sie Bessie
Bennet hiesse und aus Senn Fair bei New York gebürtig
 
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