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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 77 (September 1911)
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Döblin, Alfred: Der Dritte, [1]
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Zech, Paul: Novemberabend
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichten
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0170

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schwoll wie ein Bleistift an, seine Augen traten
hervor; er schlug mit der Faust neben sie auf
die Platte: „Du hast hfer nicht Abend für
Abend an meinem Tisch zu sitzen. Dieser Stuhl
hat frei zu sein an meinem Tische. Ich verbitte
mir, dass irgend jemand auf diesem Stuhle sitzt.“
„ Aber Lorry, wo soll ich denn sitzen?“ „Wo
du willst, sollst du sitzen. Vor der Türe. Ich
wiinsche, dass dieser Platz frei bleibt“. Sie stand
kveinend auf: „So wiinschst du, dass ich gehe?“
„üass du gehst? das charakterisiert dich recht.
Was willst du gehen? Warum? Wohin willst
du gehen? Oh ich kenne dich schon, du. Du
willst gehen; das wolltest du schon lange. Aber
du hast ohne meine Erlaubnis nicht das Zim-
mer zu verlassen. Du hast hier zu bleiben; ich
sperre dich ein, bis du zahm und kirre bist, —
du schamlose.“ Der alten buckligen Haushäl-
terin aber trug er auf, Fräulein Mery zu be-
handeln als wäre sie die Tochter des Hauses,
oder als wäre sie seine Frau, mit der allerer-
denklichsfen Rücksicht und Zartheit; so verlange
er es.

Als der hagere Mann sich besänftigt hatte,
ging er wieder mit dem blonden Fräulein spa-
zieren auf den breiten Geschäftsstrassen Bostons;
mit einer ernsten bittenden Galanterie bewegte er
sich um sie; öfter' klagte eine verzweifelte ge-
quälte Demut aus seiner Stimme. Sie sassen
einmal nebeneinander bei Sonnenuntergang am
Fenster seines Sprechzimmers; da legte er über-
wältigt die kahle Stirn auf die runde Mädchen-
schulter. „Sieh, Mery, wie viele Strassen es gibt;
drüben jenseits des Platzes fünf, über den Fluss
weg hunderte im Arbeiterviertel. Hundert Häu-
ser stehen in jeder Strasse, und in jedem Haus
wohnen so viele Männer, jüngere als ich, bessere
als ich, schönere als ich. In jedem Stock, hin-

ter jedem dieser Fenster. Sie haben an nichts

zu denken, sie haben den ganzen lieben Tag
ihre Gedanken frei, stell dir dies einmal vor.

Und wie gerne würden sie dich lieben, mit

deinen treuen Augen, deinen runden Armen. Dein
Fleisch ist so fest, deine Brüste sind so straff,
mit rosigen Spitzen; ach Gott, was hast du für
ein weiches glattes Fell, Mery, — und dies al-
les mir, den es nicht beglückt, den es belastet
und die Atemlluft benimmt. Bitte frage mich
jetzt nicht wieder, ob du gehen sollst. Was
hilft das mir? ilch würde dir nachlaufen müs-
sen und weinen. Ich wäre unsäglich froh, wenn
du nicht wärest. Ich würde mich gerne bücken
hier am Fenster, dich auf die Arme nehmen
und wie einen Blumenregen auf das Pflaster
streuen, darüber in die Fenster hinein und über
mich in das Zimmer. Der Gedanke mag mich
schmelzen. Aber jetzt fass mich nicht an, tröste
mich garnicht, lass meinen Kopf auf deiner
Schulter liegen, Mery, Mery.“

Das Mädchen umging ihn mit grosser Vor-
sicht, sie bereitete ihm die Mahlzeiten, half ihm
bei den Arbeiten mit Geduld und unendlichem
Sanftsinn. Wenn er sie anbrüllte, sich mit den
Händen gegen die Brust schlug, weil solch Ver-
hängnis an ihn gekettet wäre, so schlich sie da-
von die Treppen hinunter, weinte zu Hause,
kam nach ein paar Stunden wieder zurück und
fragte ängstlich die Haushälterin ob der Herr
schon besser wäre. Und er zog sie schon auf
dem Korridor an den Händen zu sich hinein,
polterte mit mürrischem Gesicht über eine kind-
liche Neigung zu dramatischen Spannungen, über
eine unreale idealistische Auffassung des Men-
schen.

Nun sass sie auf seinen Visiten im Wagen
neben ihm, in einem mächtigen Florentiner-Hut
mit breiter blutigroter Schleife, deren Enden sie

nach vorn um den Hals band. Wie seine Toch-
ter sass sie auf dem Polster in feinem weissen
Batistkleide neben dem hageren glattrasierfen Arzt,
dessen hohe schmale Stirn, grade Nase, tiefe
Mundlinien in Marmor gehauen waren. Sein
Schädel war kahl bis an den Wirbel; seine grau-
en durchdringenden Augen sahen grade aus.

Ihre Lippen waren fein und keusch. Das
reizte ihn tief, und er legte ihr die harte Hand
auf den Mund in dem eiskalten Wunsch, mit
einem schlanken Messer ihre Lippen zu um-
schneiden, — dann wäre die ganze Keuschheit
weg, — mit Porzellanglocken die demütige Sanft-
mut ihrer Augen zu verdecken; ihre welligen
Haarflechten zu fassen, mit einem Ruck, mit ei-
nem langen skalpierenden Ruck vom Leibe ab-
zuZiehen, das weiche schmeichelnde Fell, jdie
weisse glatte Haut ganz und gar, dass sie da-
stände. Mery, vor ihm, zuckend rot, mit spie-
lenden blossen, Muskeln, ein Präparat, ein kramp-
fendes schnappendes Tier, Mery.

Er liess sie ganz in seine Wohnung ziehen.
Trotzdem sie im Gedränge der Strassen kaum
einei beachtete, musste sie dichte weisse Schleier
tragen, und die kleine bucklige Frau begleitete
sie. Der hagere Mann ging indessen heimlich
des Nachts in die niedrigsten Quartiere der Vor-
stadt, lernte den verlorenen Geschöpfen ihre Ob-
scönitäten, und Verderbtheiten ab. Das streng
bewachte stille blauverhängte Zimmer Merys zit-
terte unter den Rasereien der beiden Menschen.
Sie sass neben ihm, uinschlang ihn, bedauerte
ihn wegen seiner Wildheit, aber er sann
verzweifelt, wie er sie ganz verwüsten könnte,
dass nichts von ihr übrig blieb, rang die Hän-
de, dass sie noch immer neben ihm sass als
wäre nichts geschehen mit treuen blauen Augen,
mit den schlicht gewundenen Flechten, mit der

kindlichen Stimme — wie er nur eine Spur in

ihr hinterlassen könne, eine einzige kleine Spur.
Bis sie einmal leise weinte an seiner Brust, und
ihn fragte, ob er schlecht von ihr denke, weil
sie jetzt so bestialisch zu einander seien; da trö-
stete er sie ingrimmig, sie solle nicht so outriert
fragen.

Er erklärte ihr am Tage darauf, dass er sie
zur Schauspielerin ausbilden lassen wolle. Sie
gehörte allen Menschen; jeder konnte sienehmen,
sollte sie nehmen. Sie sei so schön; sie singe
so rein; es sei eine Versäumnis, dies zwischen
seinen vier Wänden verdorren zu lassen. Sie
trat als Tänzerin in einem Variete auf. Der
Vorhang rauschte hoch, der hell beleuchtete Schä-
del des Arztes senkte sich, — nun war er glück-
lich. Nun lag die Schönheit Merys auf allen
Gesichtern im Saale; der breite Fleischermund
neben ihm sog lüstern an ihrem süssen Lächeln,
in die braunen Kalbsaugen der Dame neben ihm
kam eine Starrheit, als die blonde Mery im Tan-
ze die runden Linien ihrer Schenkel bog und
streckte; ein junger kräftiger Fant in der ersten
Reihe biss sich mit dem Opernglas in ihre Brü-
ste ein. Nun fiel sie wie ein Blumenregen über
den Raum. Er raste in seiner Equipage hoch'-
atmend und lachend weg, liess sie allein den
Zuschauern. Er versteckte sich in seinem Zim-
mer, schloss die Türen hinter sich' ab; seine
Haushälterin bediente ihn wie sonst in der gu-
ten Zeit allein, während die Stühle leer herum
standen, kein Gedeck neben seinem lag, und er
am Ende der Mahlzeit Tisch und Stühle um-
warf und seine Beine vergnügt auf dem Sofa
auSstreckte.

Kaum aber war nach der unruhigen Nacht
der Morgen gekomrnen, so stand der Herr vor
dem Fenster seines Sprechzimmers, sah die leere

Strasse herunter und streck e die Arme aus nach
Mery, der Dirne, dem niedrigen seellosen Ge-
schöpf, nach der Mörderin, dem Vampir. Keine
Spinne konnte böser umgehen mit einer Fliege,
als dieses Wesen mit ihm. Alle Dinge hier im
Zimmer sprechen von der Pein, die sie ihm tau-
send Mal bereitet hatte, —von der Mühe, die er
mit ihr hatte, aber sie wälzte sich im warmen
Dreck. Keine Peitsche, sie zu schlagen! Wo
steckte sie, wo steckte sie, sein Besitz!: Seine
Hiindin!

Gegen fünf Uhr nachmittags klingelte 6ie,
lächelnd, freudig erregt, im weissen Mädchen-
kleid, unter einem mächtigen Florentiner-Hut, fiel
ihm um den Hals und plapperte, wie glücklich
sie sei, wie gut sie gefallen habe, wie sie sich
freue auf heute abend. Er fragte nicht, wo sie
heute nacht gewesen sei. Er nahm sie wie eine
Puppe in den Arm und fiel aufweinend über sie
auf den Teppich nieder. Er küsste sie auf den
Mund und redete verwirrt. Er bettelte mit heiserer
Stimme, sie solle nicht mehr spielen, sie solle
bei ihm zu Hause bleiben. Sie könne ja gehen,
wann sie wolle, aber sie möchte bei ihm blei-
ben. Das Mädchen brach in ein furchtbares
Schluchzen aus, fragte, was ihm geschehen eei.
Sie zitterte, hob ihn auf, blickte den Mann an
mit dem glühenden Gesicht, den triefenden Au-
gen, den bebenden Lippen.

Am nächsten Vormittag fuhr er mit ihr auf
das Standesamt, nach ein paar Tagen zum zwei-
ten Male: da waren sie getraut.

Schluss folgt

N ovemberabend

Zwielicht macht alle Ebenen blank wie Silber-

«een

Und überbriickt den schmalen Fluss
Der ganz ins Uferlose rückt.

Vertiefter Wolkenzug erdrückt
Den seufzenden Verdruss
In den erloschenen Alleen.

Turmuhren gehen ihren Kreisgang ohne Zeiger.
Am Kreuzweg, wo der Weiser wie ein Galgen

droht,

Lärmt einer Krähe frostverschärfte Not:

Gebt Brot . . .

Der Wind ist aller Kümmernis Verschweiger.

Paul Zech

Zeitgeschichten

Die wunden Punkte

Die wunden Punkte wachsen sich zu einer
Epidemie aus. Die Tagespresse weiss sich vor
wunden Punkten nicht mehr zu retten. Wenn
sie die freisinnige Presse „berührt“, geberdet
sich die nationalistische Presse „immer am toll-
sten“. Das Berliner Tageblatt bestätigt es:

Das steht jedenfalls fest: die Minorität in
Deutschland, die wegen Marokkos zu einem
Kriege entschlossen ist, würde zu einem win-
zigen Häuflein zusammenschmelzen, wenn das
m a t e r i e 11 e und das Parteiinteres-
s e für viele in Wegfall käme. Darauf hat man
auch gestern bei der Friedensdemonstration
hingewiesen. Wenn man diese Punkte aber

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