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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 59 (April 1911)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [2]: ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0026

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In dieser erkenntnispsychologischen Eigentümlichkeit
(die übrigens jedermann mittelst introspektiver Analysis
als Tatsache bei sich feststellen kann) gleichen sich
die sonst so ungleichartigen Qrössen Physik und Ethik;
ein oberstes Erklärungs prinzip will e r k 1 ä r t, ein
oberstes Rec h t f e r t ig u ngs prinzip will gerecht-
fertigt seinl So wenig wie eine causa sui passt
eine r a t i o s u i in den menschlichen Denkapparat
hinein. (Dies ist eine Beute, die dem Skeptizismus
für alle Ewigkeit nicht mehr wird entrissen werden
können.)

Das Wissen um die Unbegründbarkeit oder Dog-
matizität jedes materiaien Sollens hat nun den scharf-
sinnigen Kant dazu verführt, ein formales Sollprinzip
aufzusuchen. „Handle so, dass die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.“ 1) Nun ist zunächst dieses
Prinzip doch nicht ganz so formal wie es ausschaut;
es gibt doch eine Tugend-Anweisung von ganz be-
stimmtem (sozialen) Inhalt. Es ist keineswegs selbst-
verständlich, dass wir so handeln sollen, dass das
Prinzip unseres Willens geeignet ist, zugleich das einer
für Alle geltenden Gesetzgebung zu sein. Der kritische
Geist hat hier durchaus weiter zu fragen, welches denn
der ethische G r u n d dieser Forderung der Allgemein-
gültigkeit von Handlungsmotiven sei. Aber sehen wir
selbst hiervon ab und nehmen tatsächlich reine For-
malität des kategorischen Imperativs an (wobei dann
die Forderung der Allgemeingültigkeit, als mit dem Sollen
identisch, das Sollen nur analytisch ausdrückte),
so enthält der Imperativ eben nur das allgemeine
Tugendgebot; „handle so, wie du handeln sollst“; —
w i e ich nun aber handeln soll, sagt mir die formale
Formel mit nichten! Kenne ich die Maxime, die
jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz-
gebung gelten kann, dann brauche ich, sofern ich nur
überhaupt tugendsam, das heisst ein Mensch von „gutem
Willen“ bin, garkeinen Imperativ, weder einen in
kantischer noch einen in deutscher Sprache; denn der
Falt des inneren Konflrkts ist dann ausgeschlossen;
komme ich aber ins Dilemma, kenne ich die zur Ge-
setzmässigkeit taugende Maxime nicht (und dies ist
doch wohl eigentlich die psychische Situation, für die
es der Ethik bedarf und auf die jede Ethik abgestellt
sein muss), dann nützt mir der formale Imperativ
nicht ein Pfifferling Er enthüllt sich dann
als eine recht stroherne Erfindung, als — Tautologie.
Er äussert: ich solle so handeln, wie ich handeln soll.
Wenn ich aber um des Himmels Willen nur wüsste,
wie ich handein soll! — 2)

') Kritik der praktischen Vernunft, I. Teil, I Buch,
I Hauptstück, § 7

■ i) Vergleichen Sie hierzu auch den klugen Essay
„Politik als Wissenschaft und Philosophie“ von Kurt
Peschke, im „ArchiV für systematische Philosophie“
XVI, Seite 332 ff., insbesondere Seite 338.

Fortsetzung folgt

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paui Scheerbart

LXXXVI

Der Mantel und der Käseberg

Als der Herr Sebastian als Doppelgänger des Kaisers
auf dem Markte von Schilda erschien, da hatten die
Schildbürger gerade eine halbe Stunde vorher die Nach-
richt bekommen, dass der Kaiser in Ulaleipu bereits
vier Tage anwesend und dort krank geworden sei;
die explodierenden Leichen hatten alle Telegraphea-
linien so in Anspruch genommen, dass nicht einmal
der Tod des Moritz Wiedewitt früher bekannt ge-
worden war.

Während nun nachher die Schildbürger auf ihrem
Markte standen und warteten, trafen weitere Nach-
richten ein — auch die vom Tode des alten Ober-
bürgermeisters Wiedewitt Und das alles steigerte noch
die Verwirrung, so dass die Schildbärger erst bei
Morgengrauen wagten, in den goldenen Löwen zu

dringen, und dort die Türen zu den kaiserlichen Ge-
mächer aufzubrechen.

Und da fand man nun alies in schönster Ordnung;
der rote Mantel lag auf einem Divan und auf dem
roten Mantel lag die rot und weiss gestreifte Kappe
des Oberbürgermeisters.

Die Fenster waren fest verschlossen; das hatte
der Herr Sebastian von aussen mit der Strick-
leiter bewirkt, an der sich ein sinnreicher Mechanismus
befand.

Die Sache war allen unbegreiflich.

Schliesslich redete der Regierungssekretär Käseberg
zu den Schildbürgern folgendes:

„Meine Herren! Wir wissen vom menschlichen
Leben nicht viel Genaues Wir wissen, dass das Kaiser-
reich Utopia östlich von Kallekutta liegt — und da-
mit ist bekanntlich nicht viel gesagt. Wir wissen, dass
der Kaiser Philander sechs Monate hindurch unser
Oberbürgermeister war. Aber das wissen wir auch
nicht sehr genau. Ich glaube, wir tun gut, wenn wir
annehmen, dass ein Äoppelgänger des Kaisers unser
Oberbürgermeister war. Und da ein Doppelgänger
ein Geist ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn
dieser Geist jetzt unsichtbar ist. Ich schlage deshalb
vor: legen wir Mantel und Kappe im Rathaus nieder
und lassen wir den Geist auch fürderhin Oberbürger-
meister von Schilda sein — auch wenn er unsichtbar
bleiben sollte. Vielleicht wird er uns nochmals sicht-
bar. Wählen wir aber keinen neuen Oberbürgermeister
— wir haben zwei in einer Nacht verloren.“

Und man tat, wie Herr Käseberg vorgeschlagen hatte.

LXXXVII *

Der Kaiser Philander im Hintergrunde

Diejenigen, die noch an der bunten Krankheit
darnieder lagen, wurden jetzt sämtlich gesund —
und die Leichen derer, die an der bunten Krankheit
gestorben waren, explodierten in den nächsten
drei Wochen allesamt, so dass die furchtbare
Krankheit plötzlich von der Bildfläche verschwand
und den anderen Lebensinteressen wieder Spielraum
liess.

Da kam nun gleich die kräftige Agitation der
Priester in den Vordergrund, und der verschwundene
Herr Bartmann wurde täglich berühmter

In der Literaturzentrale erschienen verschiedene
Schriften, in denen das Benehmen das Kaisers Philander
scharf getadelt wurde; gerade in der schwersten Zeit
der Verwirrung hatte sich der Kaiser in Schilda
aufgehalten — und über die Doppelgängergeschichte
konnte der Kaiser auch nichts aufklärendes sagen.

Kurzum: Der Kaiser kam in den Hintergrund, und
der Bartmann wurde immer höher gestellt, und man
schätzte es durchaus nicht, dass der Kaiser für den
Bartmann eintrat — das erschien allen ganz selbst-
verständlich.

Der Kaiser lachte sehr oft, wenn er allein war.

„Fehlt nur noch,“ sagte er, „dass sie den ver-
schwundenen Bartmann zum Kaiser machen wollen!
jawohl — es ist nicht so leicht, Gedankenkaiser zu
werden — besonders dann nicht, wenn man verpflichtet
ist, eine sichtbare goldene Krone zu tragen.“

Aber etwas verstimmt sah der Kaiser bald aus.

LXXXVIII

Die Umgewandelten

Die Erfolge der pricsterlichen Agitation waren in
kurzer Zeit ganz grossartige; überall regte sich ein
grosses Interesse an dem innerlichen Leben des
Menschen.

Jetzt erst kam es allen zum Bewusstsein, dass
viele Tausende in den letzten Monaten starben; man
zählte ungefähr siebzigtausend Tote. Und die Trauer im
Lande machte alle anders, so dass man nur noch ernste
Gesichter sah.

Und so war es nun natürlich, dass die Priester
überall aufmerksames Gehör fanden. Alle einfachen
Vergnügungen mied man; die Utopianer kamen sich
selber ganz umgewandelt vor.

Lange Wochen hindurch wars so, als könne man
sich immer noch nicht zurechtfinden; die Naturereignisse
wirkten nach.

LXXXLX.

Die Kaiserin

Der Kaiser Philander zeigte auch nur noch ein
ernstes und sorgenvoües Gesicht.

Und die Kaiserin Cäcilie deutete dieses Gesicht
ihres Gemahls ganz anders, als die andern.

„Es ist Dir“, sagte sie, „doch nicht so ganz recht,
dass der Herr Bartmann so die Utopianer beschäf-
tigt, nicht wahr? Weisst Du, was ich immer geglaubt
habe?“

„Nun?“ fragte der Kaiser.

„Ich glaubte,“ versetzte die Kaiserin, „Du selbst
seist der Bartmann gewesen “

Der Kaiser erschrack und sah seine Gemahlin lange
an und wusste nicht recht, ob er ihr trauen sollte,
und grübelte immerzu darüber und sah sie immerzu
gross an.

Da sprang die Frau Cäcilie auf und lachte und
sagte:

„Jetzt weiss ich, dass das stimmt.“

Da fiel der Herr Philander darauf hinein und gali
alles zu.

Aber da wurde die Frau Cäcilie sehr unruhig und
fragte leise:

„Wer weiss es denn noch?“

„Es wissen das,“ versetzte der Herr Philander, „nur
noch die Herren Haberland und Sebastian.“

„Werden die,“ fragte Frau Cäcilie, „auch schweigen?“

„Wenn Du nur schweigst!“ antwortete darauf ihr
Gemahl.

„Ich schweige,“ sagte Frau Cäcilie.

Und dann erzählte der Philander seiner Frau alie
seine Abenteuer ganz genau.

Und die Kaiserin musste oft so lachen, dass ihr
die Tränen über die Backen rollten.

XC

Der Orkan an der Sturmküste

Der Meeressumpf an der Sturmküste war noch
immer nicht zur Ruhe gekommen, die Schlammassen
wälzten sich und rumorten ohne Unterlass — nur die
Irrlichter zeigten sich nicht mehr.

Da brach abermals ein furchtbarer Orkan über
dem Meeressumpf los, und aus dem Sumpfe schlugen
plötzlich abermals ganz hohe Flammen heraus und
Iösten sich von der Erde los und wirbelten hoch
in die Lüfte hinauf.

Es sah schrecklich aus.

Die Gelehrten vergassen bei diesem neuen Aus-
bruch des unterseeischen Vulkans die photographischen
Apparate und starrten wie abwesend das neue Wunder
an und fürchteten, dass jetzt abermals jene entsetzliche
bunte Krankheit kommen würde.

Dann aber gabs einen ohrenzerreissenden Lärm, und
der ganze Meeressumpf sank in die Tiefe, so dass ein
meilengrosses Loch entstand, in das nun die Meeres-
massen polternd hineinstürzten.

Dass die Granitfelsen der Sturmküste bei diesen
Erschütterungen stehen blieben, kam allen als das
grösste Wunder vor.

Und von dem tiefen Loch wurden soviele Meeres-
massen aufgesogen, dass das Meer an allen Küsten
zurücktrat und sich viele neue Inseln bildeten.

XCI

Die Geisterscharen

Die Flammen aber, die zum Himmel hinaufloderten,
stiegen immer höher in den Weltenraum empor —
und sahen oben wie grosse Geisterscharen aus.

Und die Gelehrten erklärten plötzlich einstimmig:
das sind Geister der Tiefe, die da oben im Raum leben
— das sind gar keine Flammen.

Ganz Utopia starrte nachts den Himmel an und
sah, wie sich oben die Flammen veränderten und, wie
es allen vorkam, sich zu körperlich wirkenden Gestalten
umbildeten.

Dieses Naturereignis wirkte so mächtig, dass fast
alle Utopianer volle acht Tage hindurch nicht einen
Augenblick schlafen konnten.

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