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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 85 (November 1911)
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Walden, Herwarth: Die Wehen der Frau Wertheim
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0233

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Umfang acht Seite» Einzelbezug 15 Pfennig

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Veriag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
i Fernsprecher Amt Pfalzburg 3524 / Anzeigen - Annahme

: durch den Veriag tind sämtliche Annoncenbureaus


Herausgeber und Schriftleiter:

HERWARTH WALDEN


Vierteljahrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRGANG 1911


BERLIN NOVEMBER 1911


NUMMER 85

Inhalt* TRUST: Die Wehen der Frau Wertheim / ALFRED DÖBLIN: Ritter Blaubart / PAUL ZECH: Zwischen Ruß und Rauch/EISE LASKER-
IUUCMI. schÜLER: Briefe nach Norwegen / ALFRED WALTER HEYMEL: Eine Sehnsucht aus der Zeit / ALFRED LICHTENSTEIN: Der Freund
KURT HILLER: Der Selbstmord der Leonie Hallmann / TRUST: Meine Woche: Die Erbärmlichkeil der Kunst / Michels Reinfall / Graphisches
Kabinett / Der Dichter Stettenheim / Mobilmachung der Arbeiterbataillone / Richard Strauß und Siegfried Wagner / Richard Strauß und Kochbuch-
Urban / FERDINAND HODLER: Älpler mit Sense aut der Alp / Zeichnung

Die Wehen der Frau Wertheim

Der Entrüstungssturm über Fr.au Gertrud
Wertheini will sich nicht legen. Alle Blätter rau-
schen. Sogar solche, die schon verwelkt am Bo-
den lagen, fangen ganz naturwidrig an zu grünen
und fliegen ari ihrcn Stamm zuriick. Der Doktor
Leipziger, der jetzt den Roland von Berlin posiert,
wird sehr bereuen, den schon stark verdorrten Baum
seiner Kenntnis der Beriiner Gesellschaft aufgege-
bcti 211 liaben. i:s wai allerdings enie genörige
Fuhre Mist nötig, um das Kleine Journal wieder
aufblühen zu lassen. Wenn auch nur als Theater-
requisit. Es genügte immerhin der Frau Wertheim
zur Scene ihrer Enthiillung. Man war allgemein
von der Schausteüung befriedigt und glaubte un-
erhörten Sensationen beigewohnt zu haben. Es gibt
keine d.er bekannten schlechten menschlichen
Eigenschaften, die Frau Wertheim nicht ihr eigen
nennen durfte. Die Teufelin der idealen und natio-
nalen Dichter ist vorhandeti. Alles rückt von ihr
ab, die Gesellschaft und die I 3resse.

Ich sehe die Angelegenheit wesentlich anders.
Der Fal! der Frau Wertheim ist tragisch. Sie ist
eine Persönlichkeit, der versagt blieb, sich zu
ä u ß e r n, im Schreiben und im Leben. Ihre Beur-
teiler verstehen es freilich auch nicht. Aber sie
haben nie den W i 11 e n gehabt, zu leben. Sie
schreiben zwar nicht, aber reden in Zitaten und
denken in Vorstellungen, die sie nie sicli sinnfällig
vorgestellt haben. Die Begriffe beherrschen die
Menschen. So weit, daß sie iiberall Tatsachen
sehen, die es überhaupt nicht gibt. Alles ist Tat-
sache, die Religion, die Sittlichkeit, die Liebe, das
Vaterland, die Kunst, der Geist, die Existenz. Um
sich selbst diese Tatsache zu beweisen, betätigt
man sich körperlich. Man geht in die Kirche und
hat die Religion, man schimpft auf den Alkohol
und die Dirne und hat die Sittlichkeit, man nimmt
sich eine Frau und hat die Liebe, man dient sein
Jahr ab und hat das Vaterland, man liest das Buch
der Woche und hat die Kunst, man hört Profes-
soren und hat den Geist, man ißt und trinkt und hat
die Existenz. Durch Ausübung einer Sinnestätigketi
oder Benutzung eines Organs läßt sich alles be-
weisen. Nur sind Sinne und Organe nicht geiibt,
zu nehmen und zu geben. Der ehrlichste Ausdruek
des Durchschnittsmenschen für diesen Mangel ist
der Besuch der Varietes und das Lesen der Zei-
tungen. I11 Varietes sieht er Menschen, die iiber

ihren Körper herrschen. In den Zeitungen hört er
Menschen, die seinen Geist beherrschen. Der Geist
der Durchschnittsmenschen hat den Willen, die Be-
griffe, die er kennt, durch den Druck bestätigt zu
finden. Könnte es Begriffe geben, wenn man be-
greifen würde? Alle fühlen die Erde unter ihren
Füßen sich drehen, sie wollen stehen und klammern
sich an Worte, die sie nicht fassen können. Der
Durchsehninsineiiscb kemii riicnt den Wert ues
Wortes, er benutzt es uicht in seiner sinnlichen
Bedeutung. Die Wörter kleben durch die jahr-
zehntelange Benutzung fest aneinander, sie legen
sich auf das Gehirn. Man muß sie einzeln begrei-
fen, um sich von ihrem Schleim zu befreien. Wie
wenige Menschen besitzen diese Erkenntnis und wie
viele Schriftsteller gibt es, die mit diesem Material
arbeiten, ohne es zu besitzen.

Ist es nun gerecht oder richtig, nach Briefen
oder Redewendungen über Menschen zu urteilen?
Frau Wertheim hat einmal ihre Tochter Judenjöhre
genannt, die ganze „gebildete Welt“ gerät in Auf-
regung. Sollte das Wort in diesem Fall eine Cha-
rakteristik der Tochter bedeuten? Tut das das
Wort überhaupt? Oder ist es in diesem Fail ein
Temperamentsausbruch, der sich eines Begriffes
bedient? Kann man aus der Benutzung dieses
Wortes Rückschliisse auf den Charakter der Frau
Wertheiin machen? Gibt es überhaupt ein Schimpf-
wort? Werden nicht Wörter, die ailgemein und
auch juristisch als formale Beleidigungen gelten, oft
zur Bezeichnung intimen Verkehrs und freund-
schaftlicher Beziehungen gebraucht? Wer hat nicht
seinen Freund schon Ochse oder Idiot genannt, ohne
dadurch eine Charakteristik geben zu wollen. Man
kennt eben den Wert der Wörter nicht.

Nicht so sehr die Moral der Gesellschaft ist
durch die Anwendung von Schimpfwörtern einei
Mutter der Tochter gegenüber beleidigt, als die Bil-
dung des Philistertums. Die Gesellschaft hält sich
für sehr gebildet, wenn sie Schimpfwörter vermei-
det. Wenigstens im Verkehr der pekuniär gleich-
gestellten Personen. Nur auf diesen Kreis be-
schränkt sich diese Art der Bildung. Im Verkehr
der Herren der Gesellschaft unter einander in den
Beziehungen zu ihren Angestellten, im Verhältnis
zu ihren Verhältnissen oder im intimsten Eheleben
versagt die Feinheit der Erziehung. Die Bildung

der Gesellschaft reicht eben nur bis zu den Gesell-
schaften.

Aber Frau Wertheim hat nicht nur geschimpft,
sie hat sich auch über ihre erste Ehe ausgelassen.
Ich weiß nicht, wie weit ihre Vorwürfe gegen den
verstorbenen Mann auf Wahrheit beruhen. Sie
wurden nirgends bestritten. Wer aber die Berliner
üesellschaft nur etwas kennt, weiß, daß dort der
wertvolle ücgenstand wertvolier ist, ais das psy-
chische Leben und Erlebnis. Man hat eben dort zu
Menschen und Möbeln nur ein dekoratives Verhält-
nis. Und seitdem in der aufgeklärten Zeit auch die
Möbel im unverhüllten Zustand das ihre beitragen
solleri, miissen eben die Menschlichkeiten zti deren
Schonung verhüüt werden. Auch bei diesen An-
klagen der Frau Wertheim handelt es sich um die
Bildung. Man spricht iiber solche Dinge nicht. Nur
vergißt die Presse, daß die Verteidigung des Herrn
Metternich zuerst „davon“ und nicht gerade mit
Engelszungen geredet hat. Um die Einkäufe des
Herrn Metternich zu motivieren, stellt der Vertei-
diger die Ernährung der Frau Wertheim während
ihrer Schwangerschaft zur Diskussion. Sie soll so-
gar Cognac getrunken haben! Und Frau Wert-
heim. ir, ihrer Unfähigkeit, sich zu äußern, erwidert
dem Verteidiger nicht, daß das Cognactrinken vor,
während oder nach der Schwangerschaft die Ange-
legenheit ihres eigenen Magens sei, sondern sie mo-
tiviert ihm physiologisch, warum sie Cognac trin-
ken nnißte. Aügemeine Empörung. Warum wird
das große Schweigen gebrochen? Warum werden
die Wehen einer Frau zu einer öffentlichen Ange-
Iegenheit gemacht. Die Frauen schreien entsetzt
auf, weil die Gräber ihrer Leiden geöffnet werden,
die Männer, 'weil sie fürchten, daß ihr tadelloser
Ruf verklingt. Die Leiden der Sexualität und die
Leiden an der Sexualität sind die tiefsten und ver-
schwiegensten des Jahrhunderts. Es ist eine Heu-
chelei, die eine Frau fiir die Menschheit büßen zu
lassen.

Frau Wertheim gehört zu der großen Menge
der Stummen, die leiden müssen, ohne klagen zu
k ö n n e 11. In ihrem Drang, sich zu offenbaren,
kommen ihr wieder nur Stumme in den Weg, die
sie für Wortkünstler hält. Wie sie sich aueh zu
dern Dr. juris Artur Landsberger stellen mag: sie
ist auf ihn reingefallen. Sie gab ihm hohe Geld-
preise für die Zeitschrift Morgen, die der Herr da-

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