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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 76 (September 1911)
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König, Moriz: „Mutter“ Natur
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Kreuzig, Fritz: Proteus: (nach einem Karl Kraus-Abend)
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Adler, Joseph: „Künstler“
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0163

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seht Ihr, das ist das herrliche Oestreich! Leo-

pold der Glorreiche baute dort die Burg, die
Ihr dort droben sehen könnt. Dort im Jahre

11 . . verlor die Herzogin ihren Schleier, der
ihr der Wind entfiihrte“ .... und so weiter.

Bier, Butterbrot, Radieschen, Ziehharmonika,
Dunkelheit, die Erotik der leichten Gelegenheit,
die Romantik der ahnungslos vorausgehenden El-
tern. Der Landschaftstag, das Geniessen der Na-
tur ist zu Ende.

Vielleicht bin ich gereizt. Aber ich bin

objektiv. Ich bin weit entfernt, zu sagen: Die

Natur ist keusch, unberührt, die Menschen versäuen
sie unästhetisch. Keine Spur davon. Die Natur
selbst provoziert dazu. So wie manche Leute
ein warmes Badebassin „für alle“ als verschäm-
tes Kloseft benutzen, so lassen sich die Meisten
seelisch in der Natur freien Spielraum. Man
kann sicher sein, dass man auf dem Waldpfade
kritisch betrachtet wird. Geht man mit einem
Mädchen, beobachten sie uns und berechnen ge-
nau den Platz, wo wir uns zu frevlerischem
Tun niederlassen werden. Dazu sind wir ja
herausgekommen. Auf Schritt und Tritt Be-
soffene. Rudel von fünf, sechs Burschen treten
Veilchen und Primeln nieder, die sich heuchle-
risch auch in die Ivanhoe-Träume eines Lyce-
umsmädels gefiigt hätten. Dazu wird fortwäh-
rend gesungen, Alles durcheinander, Mädchen
und fremde Ehegattinnen werden unter dem Vor-
wande, ihnen iiber steilen Stellen hinwegzuhel-
fen, geknutscht, und Strolche suchen sich' die
einträglichsten Stellen für die Anhaltung später
Wanderer aus.

Jahre lang schämte ich mich, weil mich in-
mitten der Natur ein wohlbekanntes aberschnö-
de verleugnetes Gefühl erdrückte: eine geradezu
abstossende Langweile. Jetzt bin ich ehrlicher.
Die Bauern sind klug. Sie geben auf die Na-
tur nichts, von der ich zu berichten vergass,
dass sie von einer Menge ekelhaft geformter Kä-
fer erfüllt ist und uns lediglich an Geschichten
erinnert, in denen „Mutter Natur“ vorkam. Man
hat kein Vis-ä-vis in der Natur, man kann laut
deklamieren, milbige Burschenlieder singen, sich
aus- und anziehen, in unmöglichen Kostümen
herumrennen, hinter einem aufgespannten Son-
nenschirm den Kopf auf einen gastlich schwit-
zenden Busen legen und sich überhaupt wie
ein Schwein benehmen. Diesen Umständen
verdankt die Natur ihr Renommee. Die Stupi-
dität schiesst üppig auf. Man sieht alte Gras-
affen, die im Wahne, wieder jung geworden zu
sein, Pferdchen spielen und Weiber, die das in
der Stadt bei Lynchgefahr nicht mehr wagen
dürften, vertrocknete dürre Waden in dicken,
blauen Winterstrümpfen weit von sich strecken.
Und all dies redet sich samt hinter dem Busch
lustig liquidierenden Kindern auf die Mutter
Natur aus.

In der Stadt kaufe ich mir für zwei drei
Kronen eine stille Lokal-Ecke, in der ich allein
sein kann und berechtigt bin, jeden Eindringen-
den entweder zu beleidigen, zu ohrfeigen, oder,
wenn er sehr stark und gross ist, verwundert
und etwas pikiert anzusehen. Auf dem Lande
gibts das nicht. Wenigstens nicht in der Nähe
grosser Städte. Da wird am Rande des schön-
sten Plätzchens sofort ein Kopf auftauchen, des-
sen dazu gehöriger Hundsfott mich längere Zeit
versteckt beobachten wird. Ist das Plä'zchen
sehr schön, setzt er sich, um die Gleichberech-
tigung in der Natur zu dozieren, in meine Nähe.
Sehr gnädig von ihm, wenn er nicht Stiefel und
Socken auszieht.

Die in der Natur vorhandenen Mädchen
haben meist jemand mit und sind gegen Freun-
de sehr misstrauisch. Dasselbe Stück Weibsbild,
das ich in der Stadt mit dem Aufgebote eines
Tramwagens und eines Stückes MandeLorte vom
geraden Wege der Tugend mit Leichtigkeit ab-
bringe, macht sich hier draussen zur schwer
zugänglichen Lady. Hinter Gartengittern einer
mässigen Villa gehen A jour-Striimpfe, die hoch-
frisiert sind, auf und ab. Ein paar Schritte
weiter prägt sich die Natur in elendem Bier,
alten Grammophonen, Hundshüttengestank und
Kröpfen, sowie einem maulkorblos herum !aufen-
den wilden Köter aus. Nicht die armen, ehrlichen
Dorfbewohner sind schuld, es ist die Natur
selbst, die das grosszieht. Und das höchste Ziel
der guten Städler ist es, in so einem eingezäun-
ten Stück Erde mit Kröten und grünen Baum-
hölzern den Rest ihrer Tage zu verbringen.

Ich will davon schweigen, mit welch auf-
geblasener Wichtigkeit sich Amtspersonen, Gen-
darmen, Schulzen, Forstadjunkten, Grundstück-
wächter, Weinhüter und Gutsherren in der Na-
tur geben. Man ist in ihre Hand geliefert und
es dauert eine hübsche Zeit, bis sie ihre Nase
telegraphisch von der Regierung aus der Haupt-
schnitt erhalten oder bis ihre Dekrete einfach
im Rekurswege aufgehoben werden, ihnen be-
wiesen wird, dass sie nicht viel gelten. Aber
ich gerate schon mehr in die „Provinz“ hinein,
die so Natur und Stadt vereint, wie der nackte
Kongonegerkönig, der einen Zylinderhut aufsetzt.

Also ich bin fertig mit der Mutter Natur.
Schade um sie, sie hat mich Jahrzehnte lang
gefoppt. Die angeblich vorkommenden Nachti-
gallen hört man nie und ich könnte auch kei-
ner „Philomele“ lauschen, ohne an eine bestellte
Reklame der alten, platten, grünen Mutter Na-
tur zu denken, die — wenn man so einen
Sonntag abend beobachtet — mit dem Fortpflan-
zungstrieb im Kompagnieverhältnis zu stehen
scheint.

Proteus

(Nach einem Karl Kraus-Abend)

Vom Neunten Tonblut seine Worte glühten,
sie waren Flammen, Sternentanz. Es werde!
rief ihre Lust in dunkles Schöpferbrüten
und warfen Glut in die Gedankenherde.

Von Gott und Wollust trunken, sie zersprühten
Kains Fäuste schlugen hart sie in die Erde.

Die Welt der Seele tiefer Sehermythen
erschuf erst im Marmor der Gebärde.

Aus Seelenwunden riss den Schrei ein Falk.
Ein tiefes Meer von Sturm, Korallen, Sand
schlug hohe Wellen purpurschwer ins Ohr.

Er spie sein Blut, ein lachenstoller Schalk,
und legte eine weiche Frauenhand
an Träume, die des Lebens Nacht verlor.

Fritz Kreuzig

„Künstler“

Warnung an solche

Fritze Müller, Zürich, hat im Tageblatt den
Vorrang verbeult, der der steife Hut vor dem
Weichen geniesst. Eigentlich hat „heute in den
friedlichen Strassen, wo kein Schwertstreich fällt
(o rasch vergess’nes Moabit) der Hut fast gar
keine Rolle mehr.“ Und darum soll er weich
sein.

„Der starre Rundhut, der auf allen Gassen
und auf allen Plätzen herrscht, modelt die
Gesichter der Männer langsam um. Starr wer-
den sie, starr wie der Hut. Korrekt und di-
stinguiert nennen’s manche. Aber es ist eine
geistige Erstarrung, es sind geronnene Ge-
sichtszüge.“

Die Steifhüte kommen dem Müller „wie Bla-
sen vor, die aus dem Gehirn gestiegen und in
einem gegebenen Moment erstarrt sind.“ Bläs-
chen eines Feuilletonistengehirns.

Ja, „früher war jeder Hutmacher ein hal-
ber Künstler, ein Mann von Geschmack. Heute
steht der Hutmacher an Künstlerqualität tief
unter jedem Krawattenmacher. Ich kenne ei-
nen alten Hutmacher. Er hat noch die Zeit
der weichen Hüte miterlebt. Seine weichen Hü-
te waren schöpferisch.

Früher waren die Hutmacher Künstler. Heu-
te müssen die Künstler vor den Gefahren der
modernen Kopfbedeckung, die fabrikmässig her-
gestellt wird, auf der Hut sein.

Ein Künstler, der ein Jahr lang einen
Zylinder trägt, ist in Gefahr, die Künstler-
schaft dranzugehen und sich in der Richtung
nach dem Geheimrat zu entwickeln.

Warum nicht in der Richtung nach tiem
Leichenträger? Künstlertum, das schon unier
einem Steifhut schlapp und weich wird!

In philistros

Die hiesigen Blätter brachten \or kurzem —
wie auf Kommando — diese Notiz, „d i e e i -
nes pikanten Reizes nicht ent-
b e h r t.“

Etwas kostspielige Abenteuer hatten vor
einigen Tagen zwei hiesige Künstler, de-
ren Frauen die Sommerfrische geniessen. Die
beiden Strohwitwer trafen sich zufällig und
beschlossen, die Freiheit einmal gründlich zu
begiessen.

Nicht mehr recht willensfähig, folgten sie
endlich den Verlockungen zweier Damen, die
ihnen auf ihrer ausgedehnten Reise in später
Nacht in die Quere kamen. Am andern Mor-
gen fanden sie sich an verschiede-
nen Stellen allein wieder, beide
ohne ihre goldene Uhr und Kette. Der Kri-
minalpolizei, der die Bestohlenen ihr Leid
klagten, gelang es . . .

Am andern Morgen fanden sie sich an
verschiedejien Stellen allein wieder.
Der eine auf einer Bank im Tiergarten, der an-
dere in einem Hotel am Schlesischen Bahnhof.
Diese Zauberkünstler! Sie wollten einmal die
Freiheit gründlich begiessen. Die Luft des „freien
Künstlertums“ im Bierrausch und am Busen ei-
nes „kleinen Mädchens“ trinken. Die Künstler
setzen sich — als „Strohwitwer“ — in jene Bu-
dike der Madame Aventiure, in der sich jeder
Spiesser und Kommis als „Künstler“ fühlt und
spreizt. Sie werden bestohlen, und sie rufen die
Hilfe der Behörde an. Das sind sie.

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