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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 84 (November 1911)
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Walden, Herwarth: Kunst und Lebensfreude
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Ehrenstein, Albert: Kongo
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Steiner, Max: Aphorismen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0226

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ieichtert, wenn man „ein Biedermeiertnädchen in
einem Park voll träumerischer Romantik, eine he-
roische Figur, die auf weiter ßerghalde der unter-
gehenden Sonne entgegenschreitet“, biidhaft vor
sich iiat. Aber die Frau betätigt sich nicht nur
seelisch (unerfüllte Sehnsucht. siißes Nichtstun),
„es kommen auch Bilder, die schon mehr nach
Betätigung aussehen, wie es etwa das Kaffee-
trinken ist.“ Aiso auch in d i e s e r Hinsicht kann
man beruhigt sein. Bleibt das Erotische. „Vom
Kaffee zum Tanz ist nur ein Schritt. So nähern
wir uns immer mehr den Lebensfreudigen. Sie
sind es nicht nur mit dem Munde, sondern mit
Leib und Seele, von der lachenden Lautenspielerin
bis zur bacchantisch taumelnden Mänade.“ Man
fühlt, der Doktor fürchtet sich nicht vor dem letz-
ten Geheämnis. Aber er kann sich init all diesen
Eigenschaften der Frau nicht begnügen. Ihm, dem
Mann, „fehlt die Verkörperung der liebevollen
Hingebung, was der Mann vor allem bei der Frau
wünscht. Da sie ans indeß das Leben zumeist
vorenthält, so können wir sie bei einer Kunst-
schau hilligerweise nicht verlangen.“ Ja, ja, so
i s t das Leben.

Notizen

Berliner Künstlerbund

Die Ausstellung befindet sich im Hause neben
der Juryfreien Kunstschau in der Potsdamerstraße.
Auch bei ihr fälit die zahlreiche Beteihgung von
Frauen auf, die hier sogar besseres ieisten, ais
die Männer. Sie enthält bedeutend weniger di-
lettantische Arbeiten als die Iuryfreie, aber dafür
gar keine besonderen Kunstwerke. Die Herr-
schaften sind alle gut an den Franzosen „orien-
tiert“. Clara Arnheim und Helene Wolff seien ge-
nannt. Ich verweise auf meine Ausführungen über
Kunstkritik in der vorigen Nummer.

Wintergarten

Das Variete hat vor dern Theater einen Vor-
außer vielen anderen: es giibt Einzelleistun-
gen, die künstlerisch voüendet sind und eine Ein-
heit bilden. Man kann sie ohne Relation genießen,
während man sich im Theater für einen guten
Schauspieler zehn schlechte gefallen lassen muß.
Kein Berliner Theater gewährt soviel' künstlerische
Befriedigung, wie der Wintergarten. Das Variete
ist heute Mterarisch „überwunden“. Zu seinem
Glück. Denn was von der Literatur (und vom
Theater wie Harry Walden) herkam, war Kitsch.
Kunst aber sind die Leistungen der musikalischen
Clowns Antonet und Grock, Kunst sind die körper-
lichen Verzückungen der Drahtseiltänzerinnen Her-
vey, Kunst sind die Erscheinungen der Sunshine-
Girls und eine Genie ist die kleine Drahtseilkiinst-
lerin Bird Millman. Dieses Mädchen hat fiir sein
körperliches Erlebnis den persönMchen Ausdruck
gefunden. Ueber die Pantomimen des Wintergar-
tens ijn vorigen Monat ist zu sagen, daß es keine
sind. Mar. kann nicht auf der Biihne Bewegungen
machen lassen und im Orchester Musik. Die Ge-
schlossenheit zwischen Gebärde und Ton bildet die
Voraussetzung einer kiinstlerischen Wirkung der
Pantomime. An dieser Bedingung kann selbst eine
hervorragende Tanzbegabung wiie die Napier-
kowska nichts ändern.

Metropolpalast

Eine neue Stätte der Lebensfreude und daher
natürlich von den Herren Hugo Baruch mit be-
währtem Mißlingen eingerichtet. Wenn der
Mensch geschmackios ist, und sei er auch ein Di-
rektor, so hilft ihm nicht einmal das Teuerste, wo
man hat. Rot und Jold sind ia sehr harmonische
Farben, aber meine Lebensfreude haben sie nocls
nie gesteigert. Auch Rokoko ist recht amüsant,
wenn man es nicht zu sehen braucht. Trotzdem
vergnügt sich ganz Berlin für fünfzig Pfennig
außerordentlich. Auch dieser Palast strahlt in
Feierlichkeit. Wenn ein Besucher lachen will,

wozu ihm übrigens die Cabaretkünstler nie Ge-
iegenheit geben, wenn ein Besucher also aus an-
geborener Freudigkeit lachen will, wird er ener-
gisch zur Ruhe verwiesen. Wie sollen sonst die
Poängten yerstanden werden?

Zu erwähnen wäre eine Dame, namens Gussy
Holl, die C 1 a i r e W a I d o f f kopiert umi es sogat
ausdrücklich sagt. Aber gut kopieren, mein Fräu-
ieiin, ist keine Kunst.

Trnst

Kongo

Von Albert Ehrenstein

Ueber die Bewohner von Kongo-Waechter,
eines kleinen und leider psychisch minderwertigen
Sternes, erzähien die großer. Weltfahrer der Ver-
gangenheit seltsame Dinge.

Friiher erblickten die Sklaven des Palalu von
Ohoodiro niemals die Sonne. Dann aber kam
Jesus der Zweite, Schmernerenx, den ihre Jamben-
könige in vielen heiligen Liedern als Eriöser nani-
haft machen. Infolge seines ergreifenden Gesan-
ges wurden die den Bergwerken Verfaüenen immer
beitn Erscheinen eines Schweifsterns, mit den
trefflichsten Ketten gefesselt, an die Oberweit ge-
führt und mit einer Ration Tageslicht gelabt. Die
Herren gewährten dies, auf daß die Arbeiter nicht
das Gesicht verlören wie gewisse Fische in den
Tiefen, erfrischende Strahlen in sich schlürften fiir
die Jahre d.er Nacht. Damit sie jedocii ihre
Sprechwerkzeuge dabei nicht zu herzzerreißenden
Klagen mißbrauchten, wurde ihnen vorher die Zunge
schmerzlos entfernt. Kam min ,der Komet seines
Weges, so riefen aiie Freien „Heii“, entblößten das
Haupt zum Zeichen ihrer Verehrung fiir den sel-
tenen Gast, und sprachen fromm die äriläßüch des,
Aufblitzens eines Haarsterns vorgeschriebenen Ge-
bete. Einen Äügenblick auch wurden die fahlen
Gesichter der sturnmen SkiaVen dpr sciimerzendcn
Heüe überlassen, sodann jeder wieder seinern
Schachte zugetrieben und in Arbeit umgesetzt.

Ein einziger Heiiand kann ja auch gar nicht
die Kraft haben, die moralische Zusarhmensetzung
der Geschöpre dauen:.’. umzuwandeln, er vermag
auf diese chemischen Elemente höchstens färbend,
kalmierend einzuwirken. . Anhaltenden Erfolg
dürfte aber erst die lange Reihe, das Ineiriander-
greifen von zwanzigtausend erstklassigen Erlösern
erzielen.

L’en letzten Beriohtcn nach scheinen
mittierweile wieder einige in Messiasse ver-
wunschene Söhne des Sonnennirsteri zu iän-
gerem Aufenthalte auf der Kongo-Waech-
ter eingetroffen zu sein. Ein gewisser Fort-
schritt, vielleicht dem Entwickelungsdogma ent-
sprechend, läßt sich jedenfalls nicht abieugnen:
den Knechten der Bergwerke wurde zu Zucht-
zwecken Oberweltsurlaub bewilligt. Diese Neue-
rung verdankten sie einer Reform der theologisch-
wissenschaftlichen Anschauungen. Man sah in der
herrlichen Annäherung eines Kometen an einetn
vVandelstern Werbung. Wer auf eine Staatsan-
steüung Anspruch erhob, mußte in dem stets ent-
falteten F’fauenrad und Eeuerschweif des Irrlich-
■es — dieses wie bei zahlreichen anderen Kreatu-
ren bedeutend kleineren Männchens — einen Balz-
akt, eine Exhibition erblicken. Jeden Gedanken
an prahlerische Mimikry außer Acht lassend,
glaubte. man, al!e diese Scheingestirne seien Zucht-
sterne, Befruchtungssterne, von irgend einer
Macht an einem der himmMschen Harems, an den
Planetenweibchen eines Sonnendistriktes entiang-
geschleudert.

Nun untersagtc aber ein Religionsparagraph
den Leuten auf der Kongo-Waechter, die Be-
gattungskrämpfe ihrer Eltern zu betrachten. AIso
verboten die Qroßpriester ihren Anhängem einen

unzüchtigcn Ariblick, die Beobachtung cies Liebes-
spieles rhr.es Muttersternes mit dem Korrieten.

Da es für ein böses Omen galt, der Geburt
eines Mondes beizuwohnen, ferner den unschuldi-
gen Spermatozoen des fcuerverzehrten Amanten
sohädiiche Eigenschaften angesonnen wurderi,
und zwar: den Gasen und Dämpfen einc den Atem-
organen unbekömtnliche, dem befruchtenden Mag-
rna, wenn es an der Oberfläche des Sternes zu
Meteoriten gefroren war, sogar eine zerrnalmende
Wirkung —- erklärten sich die Machthaber bereit,
die Arbeitsfciere als Bazillenfänger zu verwenden,
sie zWischen sich und die giftigen Ejakulationen
zu schieben. Die Kometen ihrerseits hielten sich
ja stets vorsichtshalber, um nicht von der Gelieb-
ten verspeist zu werden, in respektvoller Distanz.
War aber einer am Himmel zu erspähen, rnußte er
notgedrungen, gesetzlich-galant der Kongo-
Waechter den Hof machen nach den ebenso
ehernen als 'lächerlichen Geschlechtsregeln des
Sonnendistriktes R. Nahte endiich der schöne
„Telecoitus“, so bedeckten die Gewaltigeu ihre
Augen, stiegen, diesmal frommverhüilten Hauptes,
tief in die nun schiitzenden Berge hinab. Aufwärts
die Helotenmaschinen.

In jenen Tagen der Angst verrichteten die
Oligarchen unten in haib erheucheiter Demut das
niedrige Handwerk der Leibeigenen. Der fähe
Umsturz, der piötzliche Uebergang von der Ver-
ehrung des Kometen his zur Fiucht vor dem Un-
tier, diirfte schwerlich ohne blutige Reiigionskriege
vor sich gegangen sein. War jedoeh dieser Evo-
lution wider alle Berechnung ein friedlicher Verlauf
beschieden, so leitete die Regierenden dann wohi
die Erwägnng, eventuell, statt seibst sterben zu
müssen, bloß die Hörigen fallen zu sehen. Außer-
dem die chirnärische Hoffnung eines Gegenteils,
dem Gutachten eines weisen Schäfers entnommen.
Er sprach: „Melancholie rmd Verstimmung,— un-
verbrauchte Ueberkraft. Jedes unbefruchtete Ei
weint in dem Weib, jeder verhalten.e Sarnen weint
in dem Manri. . Liebc list entweder eine Autoin-
toxikation durch überschüssiges Sperrna oder eine
Vergiftung durch die Sekrete und Gase, durch die
Strahlen und Diifte anderer. (Jleichwie nun die
der Zeugung' Beflissenen Eier und Samen getöteter
Tiere: unterworfener Stämme a!s dienlichstes Fut-
ter verspeiscu, könnten die Aussciieidungen des
wackeren Kometen eine vermehrte Geschlechts-
tätigkeit, eine gesteigerte Fortpflanzungsgeschwia-
diigkeit der Skiavenkaninchen hervorrufen!“

So ereilten die Proletarier von Morbihan ge-
fährliche Saturnalien. Während der ganzen Brunft-
zeit des Kometenviehs durften die Zuchttrottel»
im Lichte weiden, sich an dem seitenen Spektakel
ergötzen. Ob zu ihrem eigenen oder dem Ver-
derben in so siderischer Luft geschaffener Kin-
der und Enkel darüber fehlt nicht bloß in den
Erzählungen der großen Weitfahrer der Vergan-
genheit, sondern sogar im Spektrum des Sternes
iede Andeutung.

Aphorismen

Von Max Steiner

Wenn man „soziaie Instinkte“ für erblich er-
klärt, dann sehe ich nicht ein, warum man nicht
papistische. republikanische Instinkte annehmen
könnte, denen man ebenso die Erblichkeit andich-
tete.

Das Mitleid ist eine intellektuelle Erscheinung
und kein angeborener Instinkt. Mitleid wird her-
vorgerufen, wenn ich mir die schlechte Lage eines
andern als die meinige Lage vorstelle. Der bloße
Anblick des menschlichen Scfrmerzes genügt niclit.
Mitleid zu erregen. Blödsinnige kennen diesen „In-

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