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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 101 (März 1912)
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Friedlaender, Salomo: Verstellung
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Lasker-Schüler, Else: Meiner Schwester dieses Lied
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [4]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0368

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zu entsetzen, sie war dermaßen — wie sagt
man? — paff, daß sie regungslos erstarrte, und
zwar in der komischsten Pose von der Welt, mit
zum Kuß gespitzten Lippen, dabei lauter Grausen
in den Mienen. Von Terr gab sich weiter keine
Mühe mit ihr und sich, er lüftete permanent sein
beinernes Inkognito, erfaßte ihre Hand und
röchelte klappernd:

„Schau ich nicht Aug in Auge dir?

„Und drängt nicht alles nach Herz und

Busen dir?

„Und webt, in ewigem Geheimmis, unsichtbar,

sichtbar nebeti dir?' 1

Da gab das Herz der Pietsch die zurückgetre-
tenen Rlutwelten langsam zuriick, das brennende
Rot weibiicher Empörung drang in ihre Kreide-
wangen:

„Ich bin das Opfer eines Elenden geworden,“
zeterte sie halbohnmächtig. In leichtestem Kos-
tüm begab sie sich zu ihrer Mama zurück.
Schweigsam ging sie ihren Pflichten nach. Selbst
Mama erhielt auf tausende leicht begreiflicher Fra-
gen keine Antwort, und von Terr wären alie Un-
annehmlichkeiten erspart geblieben — wenn nicht
. . . wenn die Pietsch nicht nach knapp drei-
viertel Jahren einem kleinen Tode das Leben ge-
geben hätte, der vom Vater ganz gewiß min-
destens die Natur hatte! Ja, da brach sie ihr
rätselhaftes Schweigen, und von Terr auf Aliraen-
tierung verklagt, zuckte reuig seine anspruchslosen
Axeln; es floß auch ein bißchen Rhetorik über
seine dürren Kiefern:

„So rächt sich jede Ehrlichkeit in der Liebe
und im Leben; jede Minute. wo man sich kein
FleFsch auf die Knochen lügt, jede Nacktheit wird
sofort mit dem Tode gebüßt, und gerade das un-
verstellteste Leben ist ein totgeborenes Kind.“

Meiner Schwester
dieses Lied

Mein Herz liegt in einem Epheukranz.

Ich habe das Wunder gesehn
Daran man stirbt.

Fern verglomm Todesleuchten
In ihren schönen Augen.

Die waren zwei Sternbilder,

In die Kinder blickten.

Gott, wie schwarz die Nacht war!

Keine Sonne vermag mehr
Ein Lächeln zu finden
In meinem Angesicht.

Sie ist im Himmel.

Else Lasker-Schuler

Der sehwarze Vorhang

Roman

Von Alfred Döblin

Fortsetzung

Seine Finger streckten sich in die Luft und
sehnten sich nach Berühren und Gleiten über
Weiches, Schmelzendes; seine Haut träumte von
Wärme; über die gekrümmten Kniee strömte
und spukte die Lust hin sich zu schließen, zu um-
schließen, und Brust und Lippen drängteu sich

gegen die Kissen seines Bettes, gegen eänen
schlanken Baum, oder schrnachteten verloren zu
den schimtnernden Himmelswolken auf.

Manchmal, wenn die Sonne stark schien, oder
bei einetn warmen regnerischen Wetter, wo die
Luft voll schweren, niederdnickendcn Dunstes
stand, Iächelten schwarze Kobolde in ihm, erst ver-
schwiegen, dann fliisterten, riefen sie, so daß alles
zu horchen anfing, und brüllten und schiitteiten die
Zottelhaare: „Halloh, ihr Schloßhunde!“ Johan-
nes lief auf die Straße, versteckte sich, ballte
zornig die Eäuste. —

*

Wie die Gewebe, ehe eine Krankheit oder Ge-
sundheit den Körper überrumpelt, sich in Schwäche
oder Stärke vorbereiten, ihr Gescbick zu empfan-
gen, so die Triebe.

Die Zufälle wirbeln und reiten durch alle Welt
und sind an jedetn Orte.

Wer will, kann sie halten, auf der Straße, auf
den Eeldern, im Zimmer, liegend, stehend, fahrend.

Aber die Triebe müssen wachsen und ihrem
Zufall entgegen reifen, ehe sie sich an ihrti mästen
und verrecken.

*

Als Johannes unter behaglichen Summen durch
die Vorstadt schlenderte, sah er an einem Garten.
vor einem dürftigen, einstöckigen Hause, ganz nahe
an dem grüngestrichenen Holzg.itter eine junge.
blonde, stumpfnasige Frau, die ihr winziges Kind-
chen auf den Schoß legte und mit halboffenem
Busen saß. Sie starrte den großen Burschen, der
stehen blieb, ruhig aus wasserbiauen Augen an.

In Johannes war bei dem Anblick der vollen,
strotzenden Brüste eine Stichfiamme aufgeschla-
gen. Die blendete ihn, so daß er stehen blieb
und den Atem anhieit. Sein Atem flog, als er
wieder ging, trabte, hastvoll lief; er war fassungs-
los nach dem heißen Schreck; wnßte nicht, wartim.
und was ihm geschehen sei.

Ihm war der schöne Weibesschmuck nicht
unbekannt. Die Erregung flaute erst während des
Laufens ab und ließ Platz fiir Besinnung, während-
dessen er oft, ohne es zu merken, stehen blieb, ging
und schneller eiite. Er tastete einen Zusammen-
hang, als ihm beim Laufen iiber die Gartenanlagen
plötzlich seine erste, starke, siiße Erschütterung
einfiel, die ihn laufen gemacht batte, die er mit ei-
nem Erschrecken der jetzigen verglich.

Blitzschnell begriff er alles, als er das reckende
Verlangen seiner Arme und seiner Brust, das Drän-
gen seines Schoßes nach der jungen Bauersfrau
fühlte. Seine Gedanken überstürzten sich immer
mehr. Vollkommen verdüstert schloß er sicb zu
Hause ein.

*

Mit einem Schlage hatte er auf iange Wochen
die Besinnung verioren. Das Geheimnis war auf-
gedeckt. Jetzt verstand er, wohin die Unruhe sei-
nes Leibes und seiner Seele drängte; und dieses
Wohin stand riesengroß vor seinen Sinnen, einge-
hiillt in den purpurnen tind violetten Mantel jener
wonnigen Entsetzen. Ach, die zarten, wie hatte
er sie mißverstanden! Alle seine Gedanken
schwammen rettungslos nach dem einen Ziel und
überströmten, bezwangen, bewältigten den Wehr-
losen, daß er in seinem Hause lautweinend vor
Ohnmacht, Sehnsucht und Verzweiflung in die
Kniee sank: unwiderstehlich hallohten durch ihn
die zottigen Kobolde. Wieder ergriff ihn ein Fie-
ber; in halber Ohnmacht ging er umher und sein
Körper spannte, krampfte, schiittelte sich. Um sich
zu beruhigen floh er bald unter die Menschen, bald
vor den Frauen in die Stille, fiel in das alte dumpf-
heiße Briiten zurück, aus dem er sich erschreckt
und mit blitzenden Augen erhob.

Er lief atif die Gassen und Straßen vor sich
fort, mit gekrampften Kiefern, halb wahnsinnig,

zum Weinen erregt und aufgewühlt, wie zum
Sprung bereit; manchmal mit finsterer, mordent-
schlossener Stirn und pfeifenden, zischenden Vor-
sichherfliistqrn, versteckt musternden Augen, greif-
frohen Händen. Zu Hause biß und kiißtc er seine
Wicken; jetzt stieß er seinen Freund zurück, rang
die Hände über seine große Verlassenheit: Ja in
manchen hingeworfenen Stünden, die zu schwier
von Düsterkeit, troffen, beschloß er, sich unter bren-
nenden langsamen Qualen verrösten zu lassen.

Wenn er hiiflos an Schönheit dachte, so taste-
ten seine Augen Weibesbrüste. Und dann nichts
als Ohnmacht und Elend.

Unter dem Leiden bog sich sein Begehren zu
einem Recht um, das man ihm versagte, und in dem
Hilflosen stieg Haß und eine verschleierte Bitter-
keit auf, die die Augen starr und das Herz kalt und
still machte. Eine dunkle Verschlossenheit zog
über sein Wesen, die nicht mehr 'wich, etwas Kal-
tes, Zurückweisendes, ja Höhnisches, das die über-
zarte Verletzlichkeit seiner Seele verdeckte.

Unermüdlich kreisten in seinem Innern üeier
über dem Leichenfelde seiner Erinherungen. Das
Wunder der Geschlecbtlichkeit war es, das Johan-
nes nicht losließ. Er konnte es nicht fassen,
daß der Mensch nicht satt in sich selbst ruhe, zu
Mann und Weib zersplittert, ewig iiber die eignen
Grenzen gedrängt, an fremdes lebendiges getrie-
ben. Das Kainszeichen der Geschlechtlichkeit trägt
jeder: unstät und flüchtig sollst du sein, du sollst
— lieben.

Es ist, als wollte sich das Leben, das sich erst
geschlossen in das Ereie, Breite, unbegrenzt Wo-
gende von Luft, Feuer, Waser ergießt, nitr schma-
ler und eng einschnüren und auseinander würgen
zu starrer Zweiheit, um sich heißer zu verbei-
ßen, sicb aufs wildeste zu packen.

Das Einzelne bleibt nicht ruhig in sich selbst;
es taumelt und darf nicht stolz sein, komrat zu sich,
indem es zum andern kommt, gewinnt sich erst im
andern, das Bruchstück, das Wertlose. Wir sind
gebunden, verloren und verraten eins ans andere.
Oh, wie verstand er das Wort, daß der Mensch
nicht allein sein solle; oh, wtie verstand er, daß es
das Wort eines mitleidlosen, menschenstolzhassen-
den Gottes war.

*

Er verdeckte sich, die Qual solchen Niederge-
worfenseins, und entrann der Strenge ihres Blickes
und den Kralleri ihrer Hände.

Je mehr sich das Aufheulen seiner Begierde
heiser hinschwieg und er die Gewohnheiten seiner
Stille wiederfand, umso befremdlicher erschien ihm
bald dieser Schrei, den noch das gute Ge-
dächtnis seines Obrs festhielt. Es schien ihin, als
hätte er sich durch Träumereien kinderhaft er-
schreckt aus seinem Hinleben aufscheuchen lassen.
Ein Nachgefühl kam dem unsicher tappenden zu
Hilfe: er war seinen Traumereien durch einige Zeit
nachgelaufen, ohne sie einzuholen; bald batte er sie
aber Schritt für Schritt kennen gelernt, war mit
den erst fremden, bunt erstaunlichen vertraut ge-
worden; — die Niederlage der ersten Wettläufe
hatte sein Stolz bald überschattet, und so dachte er:
Sie kamen seine Verlassenheit und Langeweile
zu unterhalten und zu belustigen mit ihren Sprün-
gen, komischen Verrenkungen. himmelhohen Auf-
schnellen auf Gummigliedern, mit ihren Zungen-
schleudern und Kindertränen.

Eigentlich spielte er mit ihnen, in dem Frohge-
fiihl, ein seltsames, erlesenes Spielzeug zu besifzen.
Er willigte ein, daß sie erschienen; bald konnten
sie auch ruhen; ja er beschwor diese Schatten her-
auf, diese schwärmenden Gespenster, koste und
tanzte mit ihnen, bis sie einschliefen. Spöttisch
nante er sich Faust, den Herrn der Geister, und
verschrieb sich Geisterstunden gegen iible Laune.

Er selbst war im Innern unbewölkt und teil-

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