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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 87 (November 1911)
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Rung, Otto: Der Vagabund, [2]
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Tichauer, Grete: Mit Mutter
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0252

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keinen Einfluß aus, und setn ausbrechender Zorn
wuchs immer rnehr. Er ging im Zimmer auf und ab
imd sfieß die kräftigsten Worte aus, deren er über-
haupt fähig war: „Das ist ia zu toil! Das ist ,ia
au toll!“

Klerkers Schwester, die den Tisch deckte,
sagte nichts, sondern betrachtete den Bruder nur
mti ihren kaiten, ruhigen Augen. Therese, die drau-
/>cäi auf deai Wege Seil sprang, kam von Zeit zu
Zeit herbei und schaute neugierig durch das offene
Fenster.

AIs Klerker seine Gartenpforte erreichte, stand
dort der patrouillierende Schutzmann und spähte zu
den Fenstern des Hauses hinauf. Der Schutzmann
griff an den Helm: „Entschuldigen Sie, Herr Kler-
ker, wir haben auf der Wache erfahren, daß Sie
sich Jan Eriksens ein bißchen angenommen haben.
Aber nun ist die Sache die, daß wir sehr gern ein
Wörtchen mit Herrn Eriksen reden möchten.“

„Ja, können Sie denn das nicht?“

Der Schutzmann grinste freundschaftlich: „Se-
hen Sie, wir haben nicht das Recht, in ein Privat-
haus einzudringen. Jan Eriksen woüte mir iibri-
gens auch nicht öffnen, als ich ihn vorhin durch das
Fenster anrief. Dort hinter der Verandatür können
Sie gerade auf seinen Scheitel sehen. Aber seien
Sie doch so freundlich, ihn zu uns herauszulassen.“

„Was hat Jan Eriksen getan, Herr Jessen?“

„Getan? Er hat gar nichts getan. Aber er hat
keine Arbeit. Er hat soeben erst zwei Monate ver-
fciißt, und jetzt hat er sich gewiß wieder aufs Fech-
ten verlegt.“

„Ich kann Herrn Eriksen unter keinen Umstän-
den zu Ihnen hinauslassen, Herr Jessen, erklärte
Klerker. „Unter keinen Umständen! Ich habe gar
keine Möglichkeit und auch kein Recht, ihn irgend-
wie zu beeinflussen. Aber ich werde ihm gern sa-
gen, daß Sie hier draußen stehen und auf ihn
warten.“

Sie selbst werden am meisten Unannehmlich-
keiten davon haben,“ meinte der Schutzmann. „So-
Jange er sich in Ihrer Villa aufhält, können wir ihn
jiatürlich nicht anrühren. Aber Sie soilten ein biß-
ciien aufpassen, daß er Ihnen und Ihrem Eigentum
nicht zu nahe kommt. Ich werde dem Leutnant
Meldung machen.“ Damit grüßte der Scbutzmann
nnd entfernte sich.

AIs Klerker die Haustür aui: chloß, sah er Jan
jm Entree stehen; er hielt eineu großen Kniippel in
der Hand, doch das lange, schwächliche Knaben-
gesicht war ganz blaß.

„Schutzmann Jessen,“ sagte Klerker, „hat mich
gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß er draußen auf dem
Weg auf Sie warte. Er kann nämÜch ohne meine
Erlaubnis nicht ins Haus kommen. Und ich konnte
jnich natürlich nicht darauf einlassen. ihn mit ins
Haus zu nehmen. Aber wenn Sie zu ihm gehen,
dann kommen Sie auf die Wache.“

Klerker trat ins Zimmer, während Eriksen im
Entree stehen blieb; nach einer Weile hörte Klerker
ihn jedoch durch den Korridor in die kleine Neben-
kammer gehen.

Forfsetzung t'olgt

Mit Mutter

Von Grete Tichauer

So saß sie da: die Schultern ganz eingezogen,
mit der einen Hand auf dem nackten Schenkel
und der andern atn Knie. Die Füße dicht anein-
andergeschmiegt so daß der eine den andern trat.
Und die unreifen Brüste wurden von den dünnen
Oberarmen fast bedeckt. Auf dem Bettrand saß
s.ie da des Nachts und dachte und sehnte sich.
Schließlich hatte sie ganz vergessen, daß die ja
nebenan schlief, deretwegen sie hier so saß ohne
Nachthemd auf dem Bettrand und dachte. Die

M-utter. Nein, sie dachte gar nicht mehr an s i e.
Nuu war doch aües andere so gleiciigültig; es
hatte eigentlich gar nichts mehr rnit ihr zu tun;
nun fühite sie nur noch diese Sehnsucht, als hätte
nur dieses endlose Sehnen sie beherrscht, wie sie
aufwachte, dieses heiße Gefühl, das immer stärker
wurde. Erst hatte sie gedacht, daß es von dem
Zank heute abend mit Mutter karn, und hatte ver-
sucht, um davon abzukommen, sich alles mögiiche
Andere vorzustellen. Aber wie sie an die Straßen
und Schaufenster oder an die Biider aus den
großen Mappen itn Salon dachtc, wurde sie itntner
heißer, und so hatte sie es schließlich nicht rnehr
ausgehalten und vorsichtig', ganz leise, daß Vater
und Mutter nebenan nichts hörten, erst einen
Aerme! und dann das ganze Nachthemd abgestreift
und nackt im Bett gelegen. Und nun saß sie
schon eine Ewigkeit so auf dem Bettrand. Sie
hatte keinen Augenblick geweint wie sonst, wenn
mit Mutter etwas vorkam. Sie brauchte
auch nicht wie sonst, wenn sie so von Zorn und
Scham gepackt war, leise vor sich hinzusprechen
mit Schitnpfworten, die sie irn Grunde gar nicht
verstand, ihr Körper zitterte nicht vor Ekel, und
sie spuckte nicht aut die Erde wie sonst. Was
sie fühlte, war, daß allcs in ihr sich selmte, sich
sehnte und sagte: Mutter. Du. Mutter.

So mußte es sein. Sicher. Nun wußte sie es.
Und nun sollte eine ganz, ganz netie Zeit kommen.

Das war ihrc Mutter, die da lag auf dem
Kirchhof. Diese Frau nebenan, diese robuste
Frau, bei der alles breit und hart war, mit dem
strähnigen Haar, hatte gar nichts mit ihr zu tun.
Und Vater hatte sie verraten. Richtig verraten.
Warum mußte sie „Mutter“ sagen zu der Frau mit
den kurznägligen Händen — ali dies hatte sie
vorher nie zu denken gewagt, denn sie hatte nie
etwas anderes sagen hören, als das die Frau ihre
Mutter sei. Ihr ganzes Leben lang wurde ihr das
vorgeredet. Alle hatten es gesagt. „Denk doch,
es ist ja deine Mutter.“ Und sie konnte sich auch
nicht erinnern, je eiite andere um sich gesehen
zu haben. Aber eins wußte sie genau: daß die
Frau ihr stets wie eine rremde vorgekommen war.
AIs ob sie beide nichts gemeinsam hätten. Dann
fingen die Jahre an, wo die Frau ihr so merklich
weh tat, mit aüem, allem, wenn sie aß, mit jeder
Bewegung, wenn sie ins Zimmer kam des Mor-
gens, sie zu streicheln und zu wecken, wenn sie
sich des Abends auszog. Denn oft hatte sie sich
an die Tür gestellt und durchs Schliisselloch ge-
sehen, itnmer wieder die Qual dieser Bewegungen
erduldet; wie sie im Unterrock aussah, tmd daß
sie die Strümpfe bis zuletzt anbehielt. Oft hatte
sie so an der Tür gestanden, war nicht eingc-
schlafen, wenn sie ins Bett ging, um zu warten,
bis die nebenan so weit war. Und jedesmal die-
selbe Qual. Dantt war sie stets unglück'lich ins
Bett gekrochen und hatte sich geschämt und ge-
weint, und in ihren Ohren klangen deutlich die
Worte der andern: „Denk doch, es ist ja deine
Mutter.“ „Mutter.“ Schließlich hatte die Mutter
ja so viel für sie durchgemacht, und alles von
ihrem Körper hatte einst ihr gehört. Daß sie
einmal so in ihrer Gewalt war, richtig gefangen
von ihr.

Nun wußte sie es.

Manchma! hatte sie schon der Gedanke ge-
streift, daß sie vielleicht gar nicht das Kind dieser
Frau war. Dunk’Ie Erinnerungen, sonderbare
Blicke und Zärtlichkeiten von Vater, und dann
dieses Fremdsein, dieses gänzliche Nicht-Znsam-
ntengehören, dieser Ekel.

Nun wußte sie es. Alles stimmte und Iöste
sich auf. Heute nachmittag hatte sie es entdeckt.
, Ihre Mutter, die lag auf dem Kirchhof. Als
sie ganz klein war, mußte die Mutter gestorben
sein. Nun kamen plötzlich Iängst verschwundene
Bilder hervor und alles wurde klar für sie, sicher
und gewiß . . .

Daß ste e’oen denseiben Namen hatte wie sie!
Sie mußte es sein, es stimmte aües!

Die andere Frau und die Quai, rnit der sie
ständig gelebt hattc, der Schmerz, wei! aües, was
die Frau anfaßte und begann, weh tat, war zunt
ersten Mal ganz vergessen.

Du. Du. Mutter. Du liegst da unten ....
Daß ich eine wirkliche Mutter habe, Daß sie mtclt
einmal getragen hat. — Ihre Hände strichen ait
dem Leib entlang, den sie nun plötzlich lieb hatte.
Auf den sie nun sioiz war, und unter dern sie nun
nie mehr leiden ’wollte, wie früher . . . Ach,
früher. Du Mutter, das ist alles von dir . . . Und
in die Höhlen unter den rnagern Schulterbeinen
iegte sie die diinnen Finger und sehnte sich.

*

Mutter Du. Liebc Mutter.

*

Im Nebenzimmer wurde Licht getnacht. Man
dachte, daß das Kind wieder phantasierte.

„Was ist?

Was? Du sitzst nackt da? Was sotl das
vvieder sein -?

*

„So, nun schlaf schön und sei verriünftig. Gute
Nacht!"

Nur schnell zutn Waschtisch, um den Kuß ab-
zuwaschen, abzureiben, den sie auf die Stirn be-
kommen hatte.

*

Siiße Mutter, nun trage ich dich in mir; ich
bin so ganz, ganz von Dir. Und wenn ich jetzt
nicht rnit dir sprechen kann, dann denke ich mi-t
Dir, Mutter.

Und ihr schlanker, magerer Mädchenleib zit-
terte vor Sehnsucht, und in dem gereizten Hirn
krochen Vorstellungen über halbwache Gedanken,
und ihre Sehnsucht rärbte die unerkennbare*
Traumbilder und gab ihnen Töne, und deutfich
jdang unter al! dem Gewirr nur das Wort „da
unten“ hervor.

Als sie am nächsten Morgen geweckt wurde,
lag sie mit dem Oberkörper weit über dem Bett
hinaus, und es war, als ob ihre Finger sich in den
Fußboden graben wollten.

* *

*

Der Sanitätsrat meinte, daS diese Sache bei
so großen, magern Kindern in dem Alter häufig
vorkomme, das von gestern sei allerdings äußerst
bedenklich. Aber mit einer strengeren Maßregel
soile man vielleicht lieber noch warten; vorläufig
geniige das, was er auf dem Rezept aufschreibe.

* *

Sie wußte es jetzt sicher. Gefragt hatfre sie
keinen. Sie wollte ein paar Mal versuchen, durch
Andeutungen Vater verlegen zu rrachen. Sie
schämte sich immer zu sehr, und es war ihr auch
ganz unmögiich, ein Wort von all dem laut aus-
zusprechen. Wenn sie es sich ganz fest vorge-
nommen hatte, es doch zu turi, mußte sie es im
nächsten Augenblick aufgeben und tat, als ob sie
gar nichts besonderes vorgehabt hätte. Genau so
wie früher. Auch zu der Frau. Sie hatte jetzt ihr
eigenes Reich. Das war ihr Leben dort, und hier
zu Hause spielte sie nur.

So oft sie konnte, gittg sie zum Kirchhof.

Zuerst hatte sie es nicht gewagt. Zuerst stand
sie nur am Grab und redete mit ihr.

Doch einmal, als kein Mensch ztt sehen war
auf dem ganzen Kirchhof, hatte sie den Erdboden
gestreichdt.

Sie hatte solche Sehnsucht nach eine Kuß, nur
einen einzigen — aber ihr Mund war so unrein:
die Frau zu Haus küßte ihn jeden Tag, sie träumte
von einer Heiligung des Mundes wie die des Pro-
pheten Jesaias. Das einzige, was in letzter Zeit
 
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