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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 98 (Februar 1912)
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Fuchs, Richard: Wien
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Mürr, Günther: Hamburg, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0342

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wollen. Nicht, daß die Menschheit keine Kunst
nötig hat; daß die Kunst ein ausnahmsweises In-
teresse einiger Verrückter ist, micht das war für
uns daraus zu lernen; sondern eine falsche Rang-
ordnung war wieder einmal am Werke, die das
Leben in se-iner Wurzel zu treffen suchte. Die
deutschen Qenies, die einst Malerei und Skulptur
verwarfen, um nicht mehr das Ihrige zu schaffen,
sondern um fremdem Nutzen zu dienen, diese
starben jung. Aber die Zeit behielt die Lehre und
die Prätension. Die Mona Lisa war längst ent-
behrlich, ehe sie von der Presse der Großmächte
geholt wurde. Gleichheit der Arbeit! Damit de-
nunzierte sie die Wärter des Louvre des Schlum-
mers. Nur Zeitungen folgern, daß das Stehlen
erlaubt ist, wenn die Wächter schlafen. (Ein
Früherer hätte gesagt: Laßt ihn ruhen, er ist Soldat
gewesen!) Aber nach ihrem Willen leben wir, ohne
ihren Willen dürfen wir nicht sterben. Niemand
hatte vorher ein Interesse, den Frieden alter
Kunsträume zu stören. Das Volk wußte, daß ein
Werk nur für einige Wenige ist, ja wußte es nicht
und hat es respektiert. Der Raum war Kirche,
wo man sich vor dem Regen trocknete und zum
Spaziergang sammelte. Die Uneigennützigkeit des
Glaubens, die Sicherheit der Wohnungen, die
Treue des Verkehrs ist dahin!

Der Handel mit der Kunst muß un-
terdriickt werden. Die Käuflichkeit der
Kunst, der Verkauf des Künstlers sind beschä-
mend. Künstler sein ist eine Ehre. Das Werk ist
eine Gnade. Der Glaube an einen Wert der
Kunst, der außerhalb des inneren Menschen' läge,
hat das soziale Leben gestört, den einzelnen Men-
schen ausgehöhlt, die Vertauschung aller privaten
und öffentlichen Funktionen bewirkt und den Mit-
telstand, ja das arme Volk in nicht wieder einzu-
bringende Unkosten gestürzt. Die Verteuerung
des Lebens des Volkes ist gar nicht wieder gut zu
machen. Das ist das teure Brot!

Daß einAttentat gegen das Leben
selbst unternommen worden ist, wird noch gar
nicht stark genug empfunden. Das künstlerische
Wort war der älteste Wert, ja der Sinn des
Mjenschen. Den Satz von der Unvollkommenheit
der Sprache, den sich nur der allererste Sprach-
künstler erlauben durfte, hat die Zeit seinem un-
endlich zarten Gewissen gestohlen und draußen
verbreitet, vervielfältigt, vertausendfacht. Der
Mensch kann, was er ist. Wer mehr kann, lügt.
Der Mensch kommt nicht über sich hinaus. Aber
viele kommen nicht bis zu sich. Darum ist die
Treue des Geistes die höchste Kunst. Doch eben
diesen geraden Geist hat man gebrochen. Wäh-
rend der fleißige Künstler in seinem Innern schuf,
hat man draußen den Glauben an die Schöpfung
zerstört, die man n«icht kannte, nicht las.

Was bedeutet das alles? Dcr Grundirrtum
des Intellekts ist die Legende vom Vorrang der
bildenden Kunst. Die bildende Kunst kann nicht
Führerin sein! Daß man nicht Kunst schrei-
b e n könne, wurde das Axiom der Bildung. Die
schlechteste Schrift war gestattet, wenn sie im
Dienst der höheren, universalen Fachkunst stand.
Nun gibt es keine andere Literatur mehr als Be-
richtwesen und Beschreibung bildender Kunst; ja
es gibt auch keine bildende Kunst mehr, denn sie
wirkt nur stumm als eine Kunst. Mit hieratischer
Stirn wird der Geist getadelt, der diesem Betriebe
Eingeweihter fernsteht und noch mit minderwer-
tigem Stoffe Wirkung versucht, nämlich den Stoff
aus sich selbst nimmt. Daß man nicht hört, daß
man nicht versteht — o man hört, aber mitleids-
voll. Es gibt nur Eins: die Tadeilosigkeit der bil-
denden Kunst. Aus ihrem Auge las ich, daß wir
Narren gewesen sind. Schändliches Schweigen!
Die Tiere haben grauenhafte Worte unter einan-
der. Das Menschenweib schweigt aus Natur-
zwang. Was aber schweigt in diesen Männern?

Der Gehorsam gegen die Frau, der Gehorsam des
Kindes gegen die Mutter. Denn geniale Miitter
sind selten.

Die Künste sind, jede für sich, originär, aber
sie haben in den geistigen Funktionen einen un-
verrückbaren Platz. Die Feststellung ihres Auf-
baues ist die alleinige Aufgabe der Kunstge-
schichte. Ein Werk der bildenden Kunst ist ein
reicher Besitz. Aber die Sprachkunst ist das Herz
der Menschheit. Ich glaube nicht an die Unver-
werflichkeit der bildenden Kunst. Sie erweckt
nur den Eindruck der Einfachheit. Ich sage auch
nicht, die Musik od«er die Sprache, sondern die
Schrift ist das Erste, sie ist die unmittelbarste
Kunst und der Einklang von Stoff und Form. Daß
die Literatur zweiten, dritten Ranges sei, ist ein
schwerer Irrtum unserer Zeit. Die Aesthetik, daß
der höhpre Geschmack auf das Wort verzichte,
hat die Gleichgültigkeit und Dürftigkeit in der
poetischen, die Unfähigkeit in der prosaischen
Kunst verschuldet.

Hamburg

Von Günther Mürr
Aus einer Gesellsehaft

Fortsetzung

Ich trete auf die Terrasse überm Fluß.

Wie ich mich verneige,

seh ich ein lustiges Durcheinander vor mir

von bunten Blusen und weißen Kragen

und einem Mädchenkopf. Der nickt fragenden

Gruß.

Unsre Blicke haken sich fest ineinander,
und ihre schön geschlitzten, braunen Augen
glänzen und fragen:

„Treffe ich dich hier?“

Ich möchte den braunen Glanz küssen und

schweige.

Ich hatte mit ihr als Kind gespielt.

Einen Augenblick verläßt rnich alles Denken.
Mein Blick fällt auf ihren Fuß,
diesen kleinen Fuß,

den sie geschickt unterm Kleid sehen läßt.

U,m mich höre ich ein Raunen,

und dann: „Befehlen gnädige Frau?“

und: „Bitte“, „Danke sehr“, „Gestatten“.

Ich sehe, daß sie mich anblickt,

spreche mit anderen und sehe doch nur mit

v Genuß,

iwie ein schneeweißer Scheitel ihr dunkles Haar
in zwei Wellen teilt. Ich muß sie fragen.
„Pardon, eine Minute.“ Und dann zu ihr:
„Gnädiges Fräulein, wissen Sie noch . . . .?“
Ich höre mit Staunen

in meiner Stimme einen vollen, satten. Ton.

Und sie besinnt sich und nickt.

Ihre Augen, braun und blank und klar,
und ihr Lachen mit wunderschönen Zähnen.

Wir fassen unsre Hände

und reden von gleichgültigen Dingen und Tagen.
Ich spüre nur, wie ihre kleine Hand mich preßt
und sich dann von mir befreit.

Ihre weiche, dunkle Haut ist von matten

Glänzen.

Ihr Hals ist nackt.

Und die weihgeschwängerte Luft
und leichter Zigarettenduft,

Lachen und Reden. Allen Plagen
ist hier das Weilen versagt.

Wir beide treten in den Schatten des Zimmers.
Ich setze mich ans Klavier.

Sie singt mit einer Stimme vol Sehnen,
voll jungglühender Sinnlichkeit.

Ich sehe, daß sich ihr Kleid
eng an ihren Körper schließt.

Plaudern und Lachen. Die gelbe Sonne schickt

heitere Wärme

und streichelt die Herbstzeit.

Wir enden die Musik, die unsre Leidenschaft

ruft,.

enden die blühenden Lieder.

Wir trennen uns und reden zu andern
mit heimlichem Gähnen

und lassen die andern und finden uns wieder
in den gradlinigen Gartenanlagen.

Nebeneinander gehen wir über den glatten Rasen..
Da packen uns lachende Launen.

Fragend blicken wir noch aneinander nieder.
Dann tollen wir wie in alten Tagen.

Alle sonnentrunkenen Herbstrosen plündern wir
und fühlen nicht ihr duftendes Leid
und hören nicht ihre leisen Klagen.

Wir rauben ihnen alles, was sie hatten,
und schleudern zum Sehluß
unsere Beute weit ins Wasser.

Man bittet zum Diner.

Unsere Hände sind von Blumenblut beschmutzt,
Am Tisch nur unsere Stühle noch leer.

Alle Blicke fliegen auf uns her,
wie wir durchs Zimmer eilen.

Schon üläserklingen und Redensummen.

Die Tür schlägt zu. Wir beide in der Garderobe,
Wir zwei allein.

Das helle Wasser sprudelt ins Becken hinein.
Unsre leuchtenden Augen dehnen
sich in des andern Augenschein.

Das Wasser sprudelt nicht mehr.

Wir beugen uns beide drüber und lehnen
aneinander. Wie ich sie an mir fühle,
glüht mein Blut, roter Wein.

Ich umschlinge sie und presse sie an mich.

Ihre weiche, runde Brust nimmt meinem Kopf

die letzte Kühle,

Die Lippen, die schweren, roten Lippen! Rohe

Küsse,

Auf ihren Augen stirbt der leuchtende Glanz.

Tot alle Sinne, es lebt das Fühlen.

Ein Drängen, daß wir unsre Glieder spüren.

Ich reiße die Bluse auf

und beiße sie in die weiche, bebende Schulter

und wühle

meinen Mund in ihren Nacken. Ein seliges

Stöhnen,

ein tierisches Sichberühren,

ein wahnsinniges Zittern. Erdenferne.

Klatscbend, we gellendes Höhnen

schrillt ein elektrischer Glockenruf

auf gierig aneinander gedrängte Glieder.

Auseinander taumeln wir Iangsam,

tauchen Gesicht und Hände in das kristallne

Wasser,

Ich schließe ihre Bluse. Wir glätten das Haar.
Wir setzen uns an den Tisch, wo uns alles

prüfend anblickt.

In ihren Augen leiser Verdruß.

Die andern denken bald wieder an sich, ihre

Freunde, ihre Hasser,

und ob sie den Hummer mehr oder weniger

gerne essen,

Die Luft riecht schon nach Speisen.

Ich schenke dem glühenden Mädchen goldnen

Wein

und rühre zufällig an ihren Fuß.

Wir stoßen an. Der Klang klingt ganz klein.
Unsre Blicke tauschen heißen Kuß.

Ihre Schlitzaugen blinken wieder so rein.

Der nächste Gang wird rasch aufgetragen.

Wir sitzen in all dem Schwatzen allein

und reden doch, wie die andern, fremde Worte,

fremd gleich dem Rauschen, das aufsteigt vom

Fluß

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

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