Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 70 (Juli 1911)
DOI Artikel:
Wauer, William: Theatertechnisches
DOI Artikel:
Söderberg, Hjalmar: Aus der Vergessenheit, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0115

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nur eine gute Lichtgebung (nicht Beleuch-
tung) kann einen echten Eindruck und eine
überzeugende Raumwirkung geben ohne den
Darsteller zu kompromittieren oder die Szenerie
unmöglich zu machen.

Eine charakteristische Oestaltung von Licht
und Schatten kann auch die Umgebung des Dar-
stellers genau und richtig charakterisieren.

Licht kann nur gestaltend wirken, wenn es
auf Körper auf verschieden liegende Flächen
fäilt. Licht und Form unterstützen einander:
Licht individualisiert die Körper durch die
Schlagschatten und belebt die Flächen — die
Flächen bringen die Reize des Lichts erst zur
Geltung. Licht als Beleuchtung verliert seine
Kraft und seinen Sinn als Ausdrucksmittel.

Licht und Darstellung sind ganz Ausdruck:
6ie werden empfunden. Worte und Szenerie sind
bedeutsame Formen und werden verstanden.

Ausdruck ist steigerungsfähig und abwechs-
lungsreich. Die bedeutsame Form ist gleichmäs-
6ig und unveränderlich.

Je innerlicher und intensiver die Darstellung
sein soll, desto mehr muss sie dem Publikum
nThe gerückt werden. Je äusserlicher und gleich-
giltiger die Darstellung, desto mehr kann man
sie in die Ferne rücken. Wo alles mitgefühlt
werden soll — vertrauliche Nähe. Wo alles nur
verstanden werden braucht: Ferne.

Aus der Vergessenheit

Von Hjalmar Söderberg

I

Als ich dnes Morgens die Todesanzeigen
in meiner Zeitung durchflog, blieb mein Blick
an einem mir wohlbekannten Namen haften:
Henrik Cleve. Ich sass lange wie betäubt da,
mit wirrem Kopfe und starrte auf diesen Namen
in der schwarzen Umrahmung. Ich hätte viel-
leicht besser vorbereitet sein sollen. Ich wusste
ja, dass seine Gesundheit untergraben war; aber
dennoch . . .

Wir waren, ehe er Stockholm verliess, gute
Freunde gewesen. Wir hatten uns in der Däm-
merung vor der Kaminflamme bei Kaffee und
Zigaretten Gesellschaft geleistet; wir hatten die-
selben Schriftsteller geliebt, wir hatten gegensei-
tig unsere Familien besucht, wir waren zusam-
men in Cafes und Theatern gewesen. Wir tra-
fen uns so ziemlich jeden Tag. Er pflegte mir
Mittags entgegenzugehen, wenn ich von meinem
Büro kam; wir gingen dann zusammen durch
Strassen und Promenaden, blieben bei einem
Buchhandlungsfenster hier, einem Blumenladen
dort stehen, und sprachen über alles und nichts.
Meine Existenz war gleichmässig und alltäglich,
er hingegen hatte oft von Erfolgen und Enttäu-
schungen zu erzählen; er wollte Schriftsteller
werden.

Doch eines Tages stellte es sich heraus, dass
sein kleines väterliches Erbe stark angegriffen
war — er musste nun an seinen Lebensunter-
halt denken. Er entwarf verschiedene Projekte,
aber schob bis auf weiteres alles beiseite; end-
lich kam der Tag, an dem jeder weitere Auf-
schub die Situation ernst machen konnte. Da
fasste er einen raschen, vielleicht allzu raschen
Entschluss; er suchte und fand eine Anstellung
bei einer Provinzzeitung in Südschweden. Ich
riet ihm ab, doch ohne Resultat. Ich konnte
übrigens keine besonders triftigen Gründe an-
führen: denn er musste doch leben.

Ich erinnere mich sehr deutlich an den letz-
ten Abend im Kaffeehaus. Wir sprachen nicht
viel. Der „Pascha“ servierte uns; wir nannten
ihn Pascha wegen seines Phlegmas, und seines
grossen türkischen Schnurrbarts. Cleve war ner-
vös Er fing einen Satz an und unterbrach sich
selbst, nahm eine Zeitung, las ein paar Zeilen
und warf sie wieder weg. Der Kaffee war da-
mals zufälligerweise schlecht — das Lokal war
beinahe leer, die Kellner lehnten müssig an den
Wänden — der Regen tropfte auf das Fenster-
blech, und aus der Garderobe drang ein Geruch
von nassen Ueberkleidern herein.

Gegen Mitternacht trennten wir uns:

Weiss Gott, wann wir uns das nächste Mal
sehen . . .

Es ist nun mehr als anderthalb Jahr her,
seit er abreiste. Anfangs korrespondierten wir
fleissig, dann wurden wir nach und nach müde
— ein häufiger Fall. Ich habe alle seine Briefe
aufgehoben: die Korrespondenz des ersten Jah-
res ist ein voluminöser Band, aus dem zweiten
habe ich drei, vier kurze Episteln. Der letzte
Brief ist über drei Wochen alt, und nun steht
es mit einemmal vor mir, dass ich ihn nicht be-
antwortet habe.

Man hat an so vieles zu denken. Jetzt ist
es zu spät.

Ich sehe sein Antlitz und höre seine Stim-
me, wenn ich allein in der Dämmerung sitze
und in seinen Briefen blättere, die sich äusser-
lich alle gleichen, mit feiner, leicht leserlicher
Schrift auf gelbliches Papier geschrieben. Dort
auf dem Sofa pflegte er zu liegen; hier am
Schreibtisch sass ich, und er verwendete unge-
niert den Teppich als Aschenschale.

II

Sein erster Brief ist kurz:

Du Lieber!

Diese Stadt ist eine recht betrübliche Er-
scheinung: ein kleines, dummes, schmutziges
Rechteck mit der Kirche an einem Ende und
der Unterrichtsanstalt am andern; im übrigen
eine Anzahl Kasernen, etliche Kanonen und viel
Artilleristen.

Und die Redaktion . . . , neue Bekannt-
schaften, fremde Menschen. Sie beanspruchen
mein Interesse für die nämlichen Dinge, die sie
selbst ausfüllen: die Schlechtigkeit der Konkur-
renzzeitung, die schwachen Verstandesgaben des
Bürgermeisters und der übrigen Machthaber, das
Steigen der Postauflage . . .

Das Cafe des Freimaurerhotels ist wahr-
scheinlich die beste Institution der Stadt; die
Kellnerinnen sind aufmerksam und etwas ältlich,
ohne allen Anspruch auf Hofmacherei. „An
Sonntagen gute Musik.“

Meine Kollegen bei der Zeitung haben, ich
weiss nicht aus welchem Anlass, Brüderschaft
mit dem Portier des Hotels getrunken, einem sehr
ehrenwerten jungen Mann vielleicht, in dessen
Beruf es nun einmal aber fällt, Trinkgeld zu
nehmen.

Dein Freund

H. C.

Dieser Brief ist von Anfang Oktober datiert.
Er enthält offenbar den ersten Anprall von Ein-
drücken: er zeigt eine gewisse Ungeneigtheit,
die Situation ernst zu nehmen, sich zu orientie-
ren und sich in der neuen Umgebung heimisch
zu machen. Das scheint ihm übrigens überhaupt
nicht gelungen zu sein. Später wird er bitterer:
es wird ihm allmählich klar, dass er vielleicht
für Lebenszeit an dieses kleine Fliegenpünktehen

auf der Karte festgenagelt ist, ohne Heim, ohne
Freude.

Er schreibt Miite Dezember:

Ich fasste alles anfangs als eine missglück-
te Farce auf, eine langweilige Farce, bei der man
aus purer Barmherzigkeit an den Stellen lacht,
wo der Verfasser es wünscht. Nun lache ich
nicht mehr. Ich bin doch gewöhnt, in schönen
Räumen zu wohnen; hier habe ich mich in ein
kaltes, unwirtliches Loch mit fettigen Tapeten
einquartien. Meine Wirtin hat eine wahnsinnige
Tochter und einen kranken Kater. Die Geistes-
krankheit der Tochter ist von der turbulenten
Art; sie schreit und singt und vollführt einen
furchtbaren Spektakel im Zimmer nebenan, auf
der Stiege und überall. Der Kater leidet an einer
Hautkrankheit: um Hals und Nacken sondert er
eine gelbliche Flüssigkeit ab; die Laune des Tie-
res ist herabgestimmt, das alles bietet einen nie-
derschlagenden Anblick. Er liegt den ganzen
Tag im Flurfenster und wartet darauf, dass ein
Sonnenstrahl ihm den Rücken wärmt; wenn er
mich erblickt, macht er einen matten Versuch zu
spinnen und will sich an dem haarigen Stoff
meines LHsters reiben.

Die Redaktion: neueingerichtet, gelbgebeiz-
tes Birkenholz, eine Batterie leerer Flaschen in
der Kachelofenecke. Der Redakteur sitzt zufrie-
den vor dem Feuer: die Postauflage steigt, un-
aufhörlich laufen neue Bestellungen ein. Es reg-
net und stürmt; Mägde und alte Weiber segeln
wie Ballons über den grossen Marktplatz. Ge-
rade gegenüber, vor der Kaseme, steht ein Schil-
derhaus, in jener eigentümlich schreienden Nuan-
ce angestrichen, die ich Rollgardinenblau nennen
möchte; ein Artillerist geht auf Posten — auf
und ab, hin und her; von Zeit zu Zeit, in be-
stimmten Zwischenräumen bleibt er stehen, streckt
sich und stösst aus irgend einem Anlass, den
ich nicht kenne, ein entsetzliches Geheul aus.
Er tut mir sehr leid.

Gestern war ich zu einer Familiengesellschaft
bei einer sehr liebenswürdigen, mittelalterlichen
Kupferschmiedswitwe eingeladen. Die Löwen
waren die Sergeanten der Artillerie. Der Um-
gangston in den Familien, bei denen wir Zu-
tritt haben, ist einfach und ungezwungen. Ein
jüngerer Sergeant verkleidete sich als Dame: auf
der Brust plazierte er zwei runde Herrenhüte,
darüber ein Tuch; rückwärts band er sich un-
gefähr einen halben Jahrgang des „Blattes“ fest.
Diese Dame hatte einen grossartigen Sukzess.
Die Herren schlugen sich gegenseitig auf den
Bauch und kreischten vor Lebensfreude; die Da-
men kicherten, die jüngeren erröteten schamhaft,
der Hüte wegen. Unser Beruf wird in diesen
Kreisen mehr lächerlich als eigentlich strafbar
gefunden und gibt Anlass zu vielen schmerzhaf-
ten Anspielungen, die natürlich immer mit Bon-
homie aufgenommen werden; ich bin überdies
noch ganz speziell einer freundlichen, gutmütigen
Neckerei ausgesetzt, weil ich ein Stockholmer
bin, eine hier in der Stadt sehr lächerliche Ei-
genschaft.

Unser Redakteur, der sich durch ökonomi-
schen Wohlstand und Oeldruckbilder in vergolde-
ten Rahmen auszeichnet und irgend eine Art Rot-
wein zu Tische trinkt, steht im übrigen vollständig
auf derselben sozialen Stufe wie die Mitarbeiter.
Nach drei- bis viertägigem Beisammensein begann
er allmählich, wie aus Zerstreutheit, den Titel
„Herr“ auszulassen und nannte mich einfach
Cleve. Meine Verblüffung war unerhört. Jetzt
kann mich hier nichts mehr erstaunen machen.
Ich weiss manchmal nicht recht, ob ich träume
oder wache. Und die Mitarbeiter nehmen mit

559
 
Annotationen