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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 71 (August 1911)
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Stoessl, Otto: Der Skeptiker
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Söderberg, Hjalmar: Aus der Vergessenheit, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0122

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Lichtenberg und Montaigne sind in einigem
Belang Ausnahmen. Der erste durch das Mit-
spielen einer witzigen Phantasie, die den Ein-
fällen ein barockes Kostüm überwirft und in
Variationen über ein Thema sich ergeht, Gleich-
nisse leibhaftig jedem Einfall als Spiegelungen
gegenüberstellt und oft nicht bloss mit dem tref-
fenden Wort, sondern erst mit dem sinnfälligen
Bilde sich beruhigt. Montaigne hinwiederum ist
einzig durch die idyllische, ja epische Natur sei-
nes im Zuständlichen behaglich verweilenden,
die Fülle ordnenden und schätzenden Geistes,
der die Lust des Erkennens nicht in der augen-
blicklichen Entladung durch den Blitz des Ein-
falls büsst, sondern sie systematisch, durch eine
scheinbar spielende Untersuchung erstreckt und
vertieft, mit allen Organen auskostet. Keiner be-
darf wie er, so zahlreicher Hilfen des Gedächt-
nisses, der Bildung, eine überreiche Anekdotik
steht ihm zu Dienst, das alte Erbe der romani-
schen Erzählerfreude und die Gewohnheit der
lateinischen Kultursprache, seiner Wahlmutter-
sprache, bleibt ihm unverkümmert.

Der Skeptiker macht durch die eigentümliche
Weise seines Denkens die Erscheinungen leicht
und durchgängig; er nimmt dem Schicksal seine
Schwere und gibt ihm die Anmut des Spiels,
des gewichtlosen Schwebens. Der Glanz seiner
Heiterkeit hat einen wunderbar vertieften Gehalt:
sie ist Wille, Schicksal, Selbsteroberung. Man
blickt durch alles Menschliche wie durch Kristall.
Es ist durchsichtig geworden. Die künstlerische
Gestaltung gibt eine mittelbare Erkenntnis, indem
sie die Realität in ihren Widersprüchen hinstellt
und die Wirklichkeit noch einmal gebiert, um
sie zu erlösen. Die Aussage des Skeptikers gibt
eine unmittelbare Erkenntnis, indem sie die Wirk
lichkeit sowohl voraussetzt, als überwindet, die
Erscheinungen in ihrer Gesamtheit durchdringt
und sich zugleich von ihnen befreit. Sie verei-
nigt alle Menschli'chkeiten in einem Brennspie-
gel, der den Schein in Feuer, die Farbe in Licht,
das Erlebnis in Schicksal verdichtet. Die skepti-
sche Art der Umwandlung alles Daseins in Er-
fahrung ist so eigentümlich, dass zuweilen ein
einziges Wort den Skeptiker besser kundgibt, als
jeder Versuch einer Zusammenfassung dieses un-
vererblichen und unlehrbaren Besitzes, der im
Grunde wieder geheimnisvoll und undurchdring-
lich bleibt, wie alles Naturgewachsene. „Sich
keine Illusionen mehr machen: da beginnen sie
erst.“ (Karl Kraus) Das sagt der Skeptiker.
Das ist er.

Aus der Vergessenheit

Von Hjalmar Söderberg

Schluss

(Später): Ich habe heute Banditen im Zel-
iengefängnis interviewt; nach Haus ging ich
übex den Friedhof, den neuen. Oede, platt,
grau. Schneewolken im Osten, ein schneidender
Wind. Das ist der Nachwinter, der kommt; ich
sehe ihn weit draussen auf der Ebene, in einer
halben Stunde ist er da. Kragen hinauf, Hände
in die Taschen. (Hier hat er ein karrikiertes Selbst-
portrait an den Rand gezeichnet.) Wenn ich
vielleicht nur noch mit einem Jahr zu rechnen
hätte. Was Du tust, tu bald. Ich muss schlies-
sen. Ich habe einen Artikel aus der National-
zeitung über Aluminium zu morgen für die letzte
Seite zu bearbeiten.

Dein

H. C.

Später irn selben Monat:

— — Es ist ein Theater in die Stadt ge-
kommen, und ich fraternisiere mit der Bande
hinter den Kulissen. Der jeune premier, eine
der Berühmtheiten der Provinz, hat ein Fach,
das er mit grosser Fertigkeit beherrscht: einen
älteren jungen Herrn mit bitterem Geschmack
im Munde.

Sonntag Vormittag. Ich stehe an meinem
Fenster mit der Aussicht auf die Kirche. Meine
Wirtin, die religiös ist, berechnet monatlich eine
Krone extra für diese Aussicht. Ich komme ge-
rade von dort. Ich finde, dass der Gottesdienst
zu kurz ist. Ich könnte so gut noch eine Stun-
de oder ein paar in dieser ruhigen, träumenden
Betäubung sitzen, die mein etwas indisches Tem-
perament ganz besonders anspricht. Orgelbrau-
sen, Orgelseufzen, Kinderstimmen; zarte, falsche,
unschuldige. Weisse Wände, hohe Wölbungen.
Eine Stimme, irgendwo, weit weg. Und vorn
im Chor eine Flut von Sonnenlicht durch eine
weisse Gardine. Ich sitze und wende die Blät-
ter in meinem Psalmenbuch: „Die kurze Zeit
der irdischen Rast — was frommt mir Fürch-
ten und Klagen —“ Hinter mir die Stimme ei-
ner alten Frau. Vor mir der Nacken eines jun-
gen Mädchens — ein weisser Hals — lichtbrau-
nes Haar, seidenweich . . .

(Später, im Theater:) „In der letzten Par-
kettreihe sitzen drei junge Leute der „Handels-
welt“ — nach ihren schönen Krawatten zu schlie-
ssen — und machen sich über die traurigsten
und erschütterndsten Stellen im Stücke lustig,
dazwischen werfen sie mitleidige Blicke um sich
auf das übrige Publikum, das sich mitreissen
lässt. Ein kleines, liebenswürdiges Genrebild:
Kleinstädter, die kritisieren. Ich werde bei den
Gebeinen des Heiligen morgen das Melodrama
loben.

Im April und Mai fasst er sich ziemlich
kurz. Er spricht vom Frühling, schildert ein
paar Ausflüge aufs Land, erzählt von einem
Subskriptionsball im Hotel — „eine Dame war
modern frisiert“ — verfällt oft in die gewöhn-
lichsten Briefphrasen und spricht nur wenig von
sich selbst (an einer Stelle kommt doch die Be-
merkung vor, dass er sich nun definitiv ent-
schlossen hat, wenigstens zehn Jahre zu leben,
so dass es mit seinem Buche keine Eile hat.)
Wenn ich nachher die Briefe in cliesen Monaten,
sie enthalten häufig einen jähen Umschlag vom
Spleen zur Ausgelassenheit und umgekehrt, mit
dem mystisch erotischen Brief vergleiche, bekom-
me ich im ganzen den Eindruck, dass er damals
von etwas ausgefüllt war, was er nicht einmal
Lust hatte, einem guten Freunde zu erzähien.
Während des Sommers eine lange Pause in der
Korrespondenz. Im August endlich ein Brief
mit vielen Entschuldigungen wegen der Verzö-
gerung und mit Klagen über die Hitze und die
darausfolgende Mattigkeit, über schlechte Ge-
schäfte und d;e Fliegen in der Redaktion.

Ende September:

— Ich promenierte mittags auf dem Eisen-
bahndamm. Rechts schlummert ein Binnensee,
weit, öde, und blank, mit niedrigen Ufern, die
mit dem Horizont zusammenfliessen. Ein to-
tes Wasser ohne ein Segel. Tot und still. Ich
blieb lange am Strande sitzen. Ruhe, Verges-
senheit. Stille, ewiger Schlummer. Wte dem
auch sein mag, man gewöhnt sich an alles. Ich
lege nun jeden Morgen mit derselben Ruhe mei-
nen Beruf an, wie ich mein Hemd anziehe.
Weisst Du noch, mit welchem Entzücken wir
uns vor ein paar Jahren in Balzacs Philippiken
gegen den Journalismus vertieften? Erinnerst

Du Dich, wie er mit demselben Feuer der Ue-
berzeugung die Unmöglichkeit darlegte, zugleich
Dichter und Journalist zu sein, wie Kierkegaard
das Absurde darin entwickelt, zugleich Christ
und Priester sein zu wollen? Ces lupanars de
la pensee war sein Lieblingsausdruck von den
Zeitungen.

Aber man gewöhnt sich an alles, Man ar-
beitet ein bischen, und der Tag vergeht. Ge-
gen sechs Uhr sind die Korrekturen gelesen,
und die Zeitung kommt in die Presse. Dann
geht man hinüber in die Druckerei und sieht
der Arbeit zu; da steht man ein Weilchen in
der offenen Tür mit einer Zigarette im Mund-
winkel und lässt sich von dem Lärm der Ma-
schinen betäuben. Komrnt einer der Druckerei-
jungen in die Nähe, „Zebädeus“ zum Beispiel,
so zieht man ihn an der Nase, oder kitzelt ihn
mit dem Stockgriff in der Magengrube; das
schmeichelt ihm. Und wenn eines der halber-
wachsenen Mädchen vom Buchdrucker Svens-
son drinnen ist, so zupft man sie am Zopf, dann
kichert sie. Dann fallen die ersten Exemplare
aus der Presse; man nimmt seine Zeitung und
geht ins Cafe.

— Du fragst immer, wie es mir geht. Gut
geht es mir natürlich.

Dein

H. C.

Nach diesem Brief wird seine Laune immer
herabgestimmter; seine Traurigkeit verhärtet sich
und bekommt scharfe, schneidende Kanten. Vom
dritten Oktober ist eine lakonische Mitteilung
datiert: Gestern war es ein Jahr, dass ich hier
bin. Ich jubilierte allein im Cafe, bei grüner
Chartreuse oder irgend einem ähnlichen Gesöff,
das ich sonst verabscheue. Besonders am näch-
Sten Tage.

Anfangs Dezember vergnügt er sich noch
mit eln wenig Belletristik.

Ich erwachte heute morgens zeitig. Das
Mondlicht zitterte auf der Gardine; bleich und
gründfich zitterte es im Kampfe mit dem Tage,
der zu grauen begann — bleicher und bleicher
schimmerte es und der Tag stieg herab. Ich
lag da und starrte auf die Kirche vor dem Fen-
ster. Die Mauern brannten schon in Blut und
Orange und der Schnee auf dem Dache schim-
merte rosafarben.

Im Freien. Der Schnee knirscht unter den
Füssen und ein schneidender Nordost weht. Der
Stadtgraben liegt gefroren da: eine dünne und
spröde Eisdecke, die in der Sonne glänzt. Die
Wäscherinnen liegen in langer Reihe an den
Klappbrücken und zerschlagen das Eis mit ihren
Klöppeln; es bricht mit einem Ton wie sprödes
Glas. Die Scherben fliegen umher und glänzen
in der Sonne wie Libellen.

Und gie ganze Ebene leuchtet — leuchtet
blendend weiss.

. . . Spiel mit Worten. Kinderei; schlechter
Zeitvertreib. Ich weiss eine oessere Art, einen
langen Sonntagsvormittag den Garaus zu ma-
chen. Ich lege Patiencen.

(Am nächsten Vormittag): Gestern Abend
im Cafe wie gewöhnlich. Musik. Hörte die Sa-
rabande aus der Holberg-Suite — es ist lange
her, seit ich sie zuletzt gehört habe. Meine
Schwester spielte sie oft; ich dachte an zuhause,
an alte Tage; und ich schloss die Augen. Es
war wie ein weicher Arm um meinen Leib. Ich
wiirde jetzt eigentlich täglich Musik brauchen,
da ich nämlich nicht mehr mit meiner alten An-
dacht Bücher lesen kann. Ich geniesse sie nicht
wie früher . . . nichts ist mehr wie früher. Du
verstehst, die Rezeptivität nimmt ab, man wird
chinesisch. Man wird gleichgültig gegen alles,

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