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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 77 (September 1911)
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichten
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0171

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berührt, dann gebärdet sich die „nationalisti-
sche“ Presse immer am tollsten. Ein sicherer
Beweis dafür, dass es sich hier um w u n d e
P u n k t e handelt.

Bei dieser Vergeudung von Punkten, wie
es in der Tagespresse geschieht, miissen die g e-
sundesten Punkte zu Grunde gehen. Ich
empfehle den Herren einmal eine griindliche
Desinfektion vorzunehmen und sämtliche über-
fliissigen Punkte aus ihren edlen Organen zu
entfernen. Dann wird der Gesundungßprozess
nicht auf sich warten lassen. „Ein alter Zopf
ist es auch, Punkte dahin zu setzen, wo sie
ganz iiberflüssig sind. Hinter jeder Zeile eines
Buchtitels, hinter jeder Ueberschrift musis bei
ihnen ein Punkt stehen, obgleich alle diese Zei-
len schon durch ihre verschiedene Länge, durch
ihre verschiedene Schriftart und Schriftgrösse so-
wieso abgegrenzt sind — iiberall wird noch ein
aufdringlicher Grenzpfahl eingerammt, oder ei-
nem die Tür vor der Nase zugeschlagen.“ Gru-
nows Grammatisches Nachschlagebuch, das nicht
genug zu empfehlen ist. Berliner Tageblatt® No*
450* 1* Beiblatt® Lokalesund Vermischtes* Abend-
Ausgabe* 40* Jahrgang* Man tue noch etwas
Streusand drauf. Wer weiss, ob er nicht wun-
de Punkte heilt.

Merkmale für Paranoia

Im Prozess Hagen erfährt man endlich ein-
mal, woran sich Paranoia erkennen lässt. Ein
Student hat an der Unviversität nichts getan.
Erstes Merkmal. Er hat Philosophie studiert,
dann Jura, das „letztere“ aber aufgegeben mit der
Motivierung: „Das juristische Studium sei der
stumpfeste Unsinn.“ Zweites Merkmal. Die
Universität habe an den Vater geschrieben, dass
der Student einen unsittlichen, nicht zu dul-
denden Lebenswandel in der Form des uneh-
lichen Zusammenlebens mit einer Kellnerin füh-
re. Das sind mindestens drei Merkmale. „Der
Vater, der bis dahin ein Auge zugedrückt hatte.

. .“ Was glaubt man, was der Vater mit dem
zugedrückten Auge getan hat? Der Vater hat
den Sohn zu sich „zitiert“. Der Sohn musste
ihm in das andere nicht zugedrückte Auge blik-
ken und das Ehrenwort geben, sein Leben zu
ändern. Der Sohn hat das Ehrenwort nicht ge-
halten, sechstes Merkmal, sondern ist mit seiner
Geliebten nach Miinchen ausgeriickt, siebentes
Merkmal. An diesen sieben Malen offenbart sich
der Beginn des Verfolgungswahns. Ich möchte
wissen, bei wievielen Studenten der Jurispru-
denz diese sieben Male zutreffen. „Später
haben sich Wahnideen des Studenten bemächtigt.“
Wahrscheinlich, weil man bei ihm infolge dieser
sieben Male Verfolgungswahn konstatierte. Da
kann der gesundeste Mensch driiber verrückt
werden. Umsomehr, wenn er einen Vater zur
Verfügung hat, der ihm mit einem zugedrückten
Auge monatlich zweitausend Mark zur Verfü-
gung stellt. Irgendwie m u s s der Mensch doch
sein Geld verjuxen. Der Unglückliche kann sich
doch dafür nicht nur Kommentare kaufen, er
muss doch einmal Einblick in das Original neh-
men. Im Uebrigen ist es ein lieblicher Zustand,
dass man auf Grund von Polizeiverordnungen
eingesperrt werden kann und der Arzt in der
Lage ist, jeder Person, auch einem Anwalt, den
Zutritt zu dem mit sieben Malen Behafteten zu
verweigern. Man braucht nur das Entmündi-
gungsverfahren nicht einzuleiten, und der Ge-
meingefährliche hat bis an sein Lebensende Zeit,
sich über den Verfolgungswahn seine Gedan-
ken zu machen.

Noch

Ein Salzsäureattentat. Heute betrat die
Prostituierte Agnes W e i s s k o p f den Laden
des Schlächtermeisters Kemnitzer im Hause
Barnimstrasse 29 und verlangte den Schläch-
tergesellen Franz Spagnes zu sprechen. Als
Spagnes in dem Laden erschien, zog die Weiss-
kopf blitzschnell eine Flasche aus der Tasche
und goss ihm Salzsäure ins Gesicht. Man
brachte den Schwerverletzten nach der könig-
lichen Klinik in der Ziegelstrasse. Die Täte-
rin wurde festgenommen. Ueber das Mo-
tiv herrscht noch Unklarheit.

Wir

„. . . Auszug aus der Zuschrift des bekann-
Verteidigers Doktor Theodor Suse, Hamburg,
der sich nicht nur als Jurist eines grossen An-
sehens erfreut, dem w i r vielmehr auch zahl-
reiche, gedankentiefe und formvollendete poetische
Schöpfungen verdanken.“

Wer ist wir? Natürlich der Zeitgeist.

Die neue Zeitschrift

Im nächsten Monat soll wieder eine neue
Kunstzeitschrift erscheinen, die sich die Aufgabe
gestellt hat, dahin zu wirken, dass die alten
Meister nicht die jungen, und die jungen Mei-
ster nicht die alten totschlagen. Also ein Or-
gan gegen Massenmord. Vier ziemlich ältere Mei-
ster bilden den „kiinstlerischen Beirat. Ausser-
dem wird die Zeitschrift bestrebt sein, der im-
mermehr zunehmenden Verwirrung des Publikums
in Kunstdingen ein Ende zu machen.“ Das geht
zu weit. Die Humanität sollte es sich an der
Verhinderung von Abschlachtung genug sein lassen.
Das Publikum muss über Kunstdinge so ver-
wirrt werden, dass es endlich einmal aufgibt,
sich über Kunstdinge „ein Urteil zu bilden.“
Es lässt sich auch so ganz gut leben.

Briefe nach N orwegen

Von Else Lasker-Schüler

Liebe Jungens

Dass Kurtchen Dich mitgenommen hat nach
Schweden, Herwarth, ist direkt eine Freundes-
tat. Kurtchen wird erster Staatsanwalt werden
und Euch kann nichts passieren. Aber mir kann
was passieren, ich hab Niemand, dem ich meine
Abenteuer erzählen kann ausser Peter Baum, der
aber aus der alten Wohnung in die neue Woh-
nung zieht. Im Wirrwarr hat er statt sei-
nes Schreibtischsessels seine Matja in den Mö-
belwagen getragen und sie den Umzugleuten
besonders ans Herz gelegt, dass die Quasten
nicht abreissen. Am Abend erzählte ich ihm
erst xrieine neue Liebesgeschichte. Ich habe näm-
lich noch nie so geliebt wie diesmal. Wenn es
Euch interessiert: Vorgestern war ich mit Ger-
trude Barrison in den Lunapark gegangen, leise
in die egyptische Ausstellung, als ob wir so
etwas süsses vorausahneten. Gertrude erweckte
dort in einem Cafehaus die Aufmerksamkeit ei-
nes Vollbartarabers; mit ihm zu kokettieren, auf
meinen Wunsch, schlug sie mir entsetzt ab, ein
für alle mal. Ich hätte nämlich gerne den Lauf
seiner sich kräuselnden Lippen beobachtet, die
nun durch die Reserviertheit meiner Begleiterm
gedämmt wurden. Ich nahm es ihr sehr übel.
Aber bei den Bauchtänzerinnen ereignete sich
eines der Wunder meines arabischen Buches;

ich tanzte mit M i n n , dem Sohn des Sultans
von Marokko. Wir tanzten, tanzten wie zwei
Tanzschlangen, oben auf der Islambühne, wir
krochen ganz aus uns heraus, nach den Lock-
tönen der Bambusflöte des Bändigers nach der
Trommel, pharaonenalt, mit den ewigen Schellen.
Und Gertrude tanzte auch, aber wie eine Muse,
nicht muselhaft, wie wir, sie tanzte mit grazi-
ösen, schalkhaften Armen die Craquette, ihre
Finger wehten wie Fransen. Aber Minn und
ich verirrten uns nach Tanger, stiessen kriege-
rische Schreie aus, bis mich sein Mxmd küsste
so sanft so inbrünstig, und ich hätte mich ge-
niert, mich zu sträuben. Seitdem liebe ich alle
Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an
sich tragen, an sein Goldbrokat erinnern. Ich
liebe den Slawen, weil er ähnliche braune Haare
hat, wie Minn; ich liebe den Bischof, weil der
Blutstein in seiner Krawaite von der Röte des
Farbstoffs ist, mit der sich mein königlicher
Muselmann die Nägel färbt. Ich kann gar nicht
ohne zu brennen an seine Augen denken, schma-
le lässige Flüsse, schimmernde Iris, die sich in
den Nil betten. Was soll ich anfangen? Die Ver-
waltung des Lunaparks hat mir verboten, wahr-
scheinlich hat sie Verdacht bekommen, den Park
zu betreten. Ich brachte nämlich gestern mor-
gen ineinem herrlichen Freund einen grossen
Diamant — Deinen, Herwarth; bist Du böse?
— und eine Düte Kokusnussbonbons mit. Wenn
ich überhaupt jetzt Geld hätte! Und ich habe
an den Lunapark einen energischen Brief ge-
schrieben, dass ich diese mir angetanene Belei-
digung der Voss mitteilen würde, dass ich Else
Lasker-Schüler heisse und Gelegenhfeitsgedichte
dem Khediven lieferte beim Empfang europä-
ischer Kronprinzen. Was nützt mirs, dass sie
mich wieder einlassen — immer geht ein Detek-
tiv hinter mir, aber Minn und ich treffen uns
bei den Zulus, die leben schwarz und wild am
Kehrricht der egyptischen Ausstellung wo kein
Weisser hinkommt. Die ganze Geschichte hat
mir der Impresario eingebroekt, der behandelt
die Muselleute wie Sklaven und ich werde ihn
ermorden mit meinem griechischen Dolch, den
ich mir erschwang im Lande Minns. Er ist der
Jüngste, den der Händler nach Europa brachte,
er ist der ben ben ben ben, ben des jugend-
lichster Vaters im egyptischen Lunagarten. Er
ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn
ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spiel-
gefährte. Er trägt ein hochmütiges Atlaskleid
und er träumt nur von mir, weil er mich ge-
küsst hat. Kurtchen, Freund Herwarths, wärst
Du doch hier, kein Mensch will mit mir nach
Egypten gehn, gestern war eine Hochzeit dort
angezeigt an allen Litfasssäulen. Sollt er sich
verheiratet haben!

Denkt mal, ich habe in den Mond gesehn
auf der Weidendammerbrücke für zwanzig Pfen-
nige. Ich habe aber nur sehr schattenhaft die
Menschen durch das Fernrohr erkannt. Ein
Mann hatte die Haare so wie Du geschnitten,
Herwarth, oder vielmehr nicht abgeschnitten. Ob
die Mondproleten auch immer rufen: lass dir
das Haar schneiden? Und einen Herrn mit ei-
ner Aktenmappe habe ich ein Brot mit Roast-
beef essen sehn, der glich Dir Kurtchen. Und wahr-
haftig ein Cafe giebts auch auf dem Mond, es
war Nacht, ich hörte aus seinem Innern eine
Stimme wie Dr. Caros Stimme singen: „so lasst
uns wieder von der Liebe reden, wie einst im
Mai“.

Ich habe mich endgültig in den Slawen ver-
liebt — warum — ich frage nur immer die Ster-

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