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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 82 (Oktober 1911)
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von Hoddis, Jacob: Italien
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Walden, Herwarth: Aus Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0212

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V

So waren wir auch in Italien Qäste,

Und haben dort so manchen Tag verschiafen.
Wir tranken Wein in Kinematographen,

Und krochen durch die Qärten und Paläste.

Und gaben manchmal uns den ungestümen
Facaden hin, Qewölben und Kapellen,
Schlanken Pilastern und den ungetümen
Und dicken süßen Leibern in Bordellen.

Briefe naeh Norwegen

Von Else Lasker-Sehüler

Liebe Skiläufer. Oder läuft Ihr nicht Ski?
W>ie ich noch so oberflächlich fragen kann, und
bin in der größten Besorgnis, wo ich mein Manu-
skript unterbringe. Ich muß doch eine Familie er-
nähren, ich meine meinen Paul in allen Schmeichel-
namen. Er will nun endlich eine Lokomotive mit
vier oder vierzig Volt elektrischer Kraft haben oder
einen Dampfkessel, der täglich hundert Kubikmeter
verträgt, fiinfzig Pferdekraft stark ist. Ich bitte ihn
gar nicht mehr um Einschränkung seiner Wünsche,
er wird wütend über meine Unwissenheit in tech-
nischen Dingen. Ich glaube, er ist Edison und er
wartet nur noch einen Monat höchstens, dann
soll ich mir einen Laden aufmachen und alles einen
Pfennig billiger verkaufen. Vielleicht hat cr recht!
Auch verwirft er meine Biicher und mein Schau-
spiel habe ich von Schiiler abgeschrieben. Ihr
müßt nur seine Modelle für ein neues Luftschiff
sehen, er erklärt mir unermüdiich von Propellern.
Morgen muß ich alles auswendig wissen. Ich hab’
mir was geborenü Wo bring ich nun schneli
mein Manuskript unter? Erkundigt Euch doch mal
in Norwegen nach emem blutmutjungen Verleger.
Ileut Nachmittag geht Paul mit Hüne Caro aus, sie
haben beide zusammen eine Braut.

Liebe Jungens. Ich habe Frau Franziska
Schultz besucht. Ihr Schutzhaus für die Neuge-
-borenen ist so osterlich. Lauter kleine rosarote
Zuckerostereier gucken nebeneinander versteckt
aus weißen Kissen. So reizend ist das anzusehen,
und ein Negerküken liegt auch dazwischen —
geradezu Schwarzweißkunst. Ich wollt, ich wär
auch noch einmal klein. Manchmal wünscht ich
mir wirklich, jemand führte mich spazieren und ich
wär erst vier Jahre alt. Die Zeit drückt; die
meisten sterben an der Zeit. Darum sollte man
sfch viel in seine Kindheit zurückversetzen.

Ich möchte Euch heute Abend nur sagen,
Berlin ist eine kleine Stadt, täglich schrumpft sie
mehr und mehr ein. Qroß ist eine Stadt nur, wenn
man von ihr aus groß blicken kann. Berlin hat
nur ein Guckloch, einen Flaschenhals, und der ist
auch meist verkorkt, selbst die Phantasie erstickt.
Gute Nacht.

Liebe Brüder. Ich bin außer mir, der Pitter
Boom, den ich berühmt im Sturm gemacht habe,
schreibt mir folgende wörtliche Ansichtskarte:
Liebe Tino. Herwarth hat recht. Wenn ich auch
finde, daß zu Ihnen alles paßt, so paßt mir doch
nicht alles. Sehr muß ich bitten, endlich meine Fa-
milie aus dem Spiel zu lassen. Ich lese wöchent-
lich den Sturm. Qroßen Dank für den plattdeut-
schen Brief darin. Ich bleibe noch etwas hier, fern
von der Cafehausglocke. Die norwegischen Briefe
sind ja wunderschön. Herzliche Qrüße aus Hid-
densee. Peter Baum.

Habt Ihr Worte — vielleicht irgendwelche
NordpoIIaute? Ich brauche sie, meinen Zorn abzu-
kühlen. Aber ich weiß etwas, was Ihr nicht wißt.
Aber ich habe einen Eid geleistet, es nicht wieder-

zusagen, trotzdem es mich eigens betrifft. Warum
verteidigt man sich selbst eigentlich, man sollte
doch gegen sich nicht argwöhnen. Ich bin ganz
unglücklich, daß ich es keinein Menschen sagen
darf. Wenn mich doch ein Qeschöpf dazu zwingen
würde! Oder wenigstens Peter Baum käme, und
ich es in die Natur schreien könnte. Seid Ihr nicht
neugierig?

Liebe Kameraden. Mein Eid wurde eine
Zwangsidee, oder vielmehr ich konnt ihn nicht be-
zwingen. Der verdammte Cajus—Majus kam mir
heute am Spittelmarkt entgegen, wo der Krögel ist,
und sagte, ich sähe aus, als ob ich an Depressio-
nen Ieide. Seine Mutter aber fand, (Dr. Hiller hat
doch eine ganz jugendliche, reizende Mutter) ich
sehe ganz munter aus. „Das bin ich ja gerade,
selig bin ich, und kann keinem Menschen sagen
warum. Meine Kusine Therese aus der Tiergarten-
straße hat mir vorige Woche zweihundert Mark
geschickt. Ich solit mir einen Mohrenmantel
kaufen!“ Mutter und Sohn haben mir versprochen,
es Niemandem wiederzusagen. Ich setzte mich
dann erleichtert, noch dazu mit dem Rest der zwei-
hundert Mark, an die Spree hin. Alle diese prak-
tischen, unnotwendigen Sachen, die ich für meine
Millionen bezahlt habe — den Mohrenmantel be-
säße ich wenigstens noch! Müßten mir nicht die
Leute alle Tribut zahlen? Der Krögel ist ein ge-
rechter Ort, der Krögei ist der schönste Aufent-
halt in Berlin; so denk ich mir die Fjorde von
Norwegen, wie der BHck auf die plötzlich uner-
wartete, daliegende Spree mit einem Schuß am
Ende des schmalen, alten, zerschlissenen Gassen-
arms. Nur Fahnen wehen wohl an den Ufern der
Fjorde — hier stehen über Nacht die kleinen blau
und weiß gestreiften Eiswagen, die gefrorenes
Himbeer- und Maikrautsaft für die armen Kinder
enthalten. Wenn Ihr eine Rose seht, sagt, ich laü
sie grüßen.

Warum ich Eucli nichts tnehr vorn Bischof er-
zähle? Ich spräche nur immer von mir, sagt er.
Ich glaub, er hat es iiber, Dabei entdeckte er nur
in mir ein kleines Dorf, nicht einmal eine meiner
Städte hat er erobert. Hunderttausend Meilen war
er immer von Bagdad entfernt. Aber wer weiß
von meinem Herzen? Alle nur immer auf der
Landkarte. Ich iiege zwischen Meer und Wüste,
ein Mamuth. Mein Bau ist furchtbar und vornehm.
Erschreckt bitte nicht. Aber ich muß mir wirklich
abgewöhnen, immer von mir zu sprechen, wie Ko-
koschka in Wien, der spricht darum gar nicht.
Denk mal, Herwarth, das Plakat der Neuen Sezes-
sion war im Cafe. Das ist ja Pechsteins Frau.
Eine Indianerin ist sie wirklich, des roten Aasgeiers
wunderschöne Tochter; sie ist malerisch wildböse,
sie trug ein lila Qewand mit gelben Fransen. Und
noch viele Maler waren heute im Cafd: Berneis,
Ali Hubert, der Himmelmater, und Fritz Lederer.
Der ist der Sohn von Rübezahl. Er und seine
nagelneue Frau zeigten mir ihr junge Wohnung;
ich mußte mit ihnen Thee trinken, Aus seinem
Atelier kams immer so frostig durch die Ritzen
der Türe. Er malt nur Schneebilder. Du kannst
Schneebälle machen von dem Schnee, der auf dem
Riesengebirge seiner böhmischen Heimat liegt.
Ich trink jetzt abends immer Tee dort.

Depesche. Walden-Neimaun. Norwegen.
Hötel Seehund. Hiller, Kurtz. Hoddis sind wieder
ausgesöhnt. Else.

Liebe Kinder. Ich kam ins Cafe, ich traute
meinen Augen kaum, saßen alle wieder ausgesöhnt
beisammen. Auch Blaß war unter ihnen und Golo
Qanges. Ich schlich schnell an der versammelte
Literatur vorüber. Rudi Kurtz sprach gerade vom
wilden Mythos meiner Wupper. Wie konnte ich
je auf ihn schimpfen! Da hört sich doch alles bei
auf! Soll noch einmal ein Mensch ein böses Wort
auf ihn sagen. Addio!

Aus ßerlin

Juryfrei

Im Ausstellungshaus, Potsdamerstraße 39, ist
die erste Berliner Juryfreie Ausstellung
eröffnet worden. Das heißt: jedes malende und
bildhauernde Gottesgeschöpf kann seiner Hände
Arbeit wohifeil an eine Wand der zwanzig zur
Verfügung stehenden Säle hängen. In Berlin hat
sich vor einigen Wochen ein „kleines Museum“ eta-
bliert, ein Geschäft, das Kopien nach berühmten
Bildern billig verkauft. Die Kopien sind nach An-
sicht des Professors L. P. so gut, daß „man“ sie
von den Originalen nicht unterscheiden kann. Die
juryfreie Ausstellung erweckt denselben Eindruck,
nur daß man die Originale kennt. Sie geht sogar
wesentlich weiter a!s das kleine Museumsgeschäft,
das sich nur auf bewährte a 11 e Meister beschränkt,
während in der juryfreien Ausstellung iiberhaupt
a 11 e s zu finden ist. Selbst Meister, die es noch
gar nicht gibt, haben hier schon ihre Epigonen ge-
funden. Von Raffael bis Max Pechstein ist alles
vertreten. Jeder kommt auf seinen Qeschmack,
den er nicht hat. Die „Korrektheit“ tnancher
Maler entzückt. Da hat einer eine alte Bibel ge-
malt und man kann sogar den Text genau lesen.
Ein anderer zeigt ein Stilleben, eine Weihnachts-
kiste, auf der man sämtliche Postvermerke genau
nachnriifen kann. Diese und ähnliche Bilder wer-
den ihre Käufer finden, denn das Publikum glaubt
noch immer, daß die besten Bilder die sind, die
„Natur“ vortäuschen. Dann gibt es Oelgemälde.
deren Poesie in ihren Titeln besteht. „Der Alte
aus dem Sachsenwalde“, „Ein Fichtenbaum steht
einsam“, „Erinnerungen“, „Abendstimmung“. Diese
Bilder werden auch ihre Käufer finden, denn das
Publikum sieht nicht mit den Augen, sondern mit
dem „Verstand“. Das heißt, die meisten Menschen
denken sich alles mögliche in einen farbigen Qe-
genstand hinein. Es entstehen Gefiihlserinnerungen
(man war mal in der Mark, oder am Meer, oder in
der Kirche), der Beschauer erinnert sich an fröh-
Iiche oder traurige Stunden und er unterschiebt
seine Qefühle nicht so sehr dem Bild, wie dem Tite!.
Die einzigen wirklichen Kunstwerke enthält der
Saal X. Hier haben auch eine größere Anzahf
Mitglieder der Neuen Sezession ausgestellt, die
selbst auf ihre Qegner in diesem Haus wie Offen-
barur.gen wirken. Es scheint mir überhaupt fiir
wirkliche Künstler (also für Menschen, die per-
sönlichen Erlebnissen selbständige Qestaltung ge-
ben können und nie vergessen, daß sie sich in be-
stimmten Material ausdrücken) das richtigste zu
sein, sich mit möglichst vielem Klitsch zu umgeben.
So wird das Publikum wenigstens stutzig. E m i I
Nolte stellt zwei vorzügliche Bilder aus. Mo-
ritz Melzer und ArturSegal sind mit guten
Holzschnitten vertreten. Von Neuen seien genannt:
Hanns Bolz, München, mit einem Bild Montmartre,
Friedrich Rosenkranz (Frau mit Tablett, Stilleben),
Leni Zimmermann-Heitmüller (Landhaus mit Lupi-
nenfeld), August Heitmüller(Bäuerin), Wilh. Morgner
(Lehmarbeiter). Alle diese Künstler sind durchaus
noch nicht unabhängig, namentlich in der Farbe,
aber es sind gute Maler, die wissen, was Malen
bedeutet. Die weitaus besten Qemälde (dekorative
Bilder) der Ausstellung stammen von L u d w i g
K a i n e r, den Mitarbeiter von Sturm und Sim-
plizissimus. Mit eigenen Farben gemalt und in
eigener Formgebung. — Besonders fällt die über-
aus zahlreiche Beteiligung von Frauen auf. Und
man muß sagen, daß sie im schlechten und im
guten den Männern ebenbürtig sind. Man kann
auf dieser Ausstellung nicht Entdeckungen machen,
denn die wenigen beachtenswerten neuen Namen
wären wahrscheinMch früher oder später von der
Sezession oder der Neuen Sezession gebracht
worden.

Wohl aber scheint mir diese Ausstellung eine
Lehre für aUe Jurys zu geben, nämlich die, Bilder

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