Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 58 (April 1911)
DOI Artikel:
Bernstein, Eduard: Mehr Kinder
DOI Artikel:
Hallström, Per: Adonia, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0016

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Mehr Kinder

Es werden hier weitere Antworten auf unsere Rund-
frage über die Zweckmässigkeit der Paragraphen 6 und 8
des vorgeschlagenen Qesetzes zur Bekämpfung der
Kurpfuscherei veröffentlicht. (Siehe Nummer 53, 54,
55, 56 und -57 dieser Wochenschrift.) Die Paragraphen
Jauten:

§ 6 Der Bundesrat kann den Verkehr mit Gegen-
ständen, die bei Menschen die Empfängnis verhüten
oder die Schwangerschaft beseitigen sollen, beschränken
oder untersagen.

Soweit der Bundesrat den Verkehr mit einzelnen
Gegenständen untersagt hat, ist deren Einfuhr ver-
boten.

§ 8 . . . . Mit der gleichen Strafe (Gefängn s

bis zu sechs Monaten und Geldstrafe bis zu 1500 Mark)
wird, wenn nicht nach anderen gesetzlichen Bestim-
mungen eine schwerere Strafe verwirkt ist, bestraft
wer öffentlich anzeigt oder anpreist, Gegenstände oder,

Verfahren, die den Menschen.zur Verhütung

der Empfängnis oder zur Beseitigung der Schwanger-
schaft dienen würden.

Eduard Bernstein:

1. Der Zustand, wonach jedem die Verhinderung
der Konzeption freisteht, ist meines Erachtens beizu-
behalten, soweit es sich dabei um das Recht der
Persönlichkeit iiber sich selbst handelt, mit welchem
Recht jedoch die Frage der Freigabe des Verkaufs
oder Feilbietens von Mitteln zur Verhinderung der Be-
fruchtung keinen notwendigen Zusammtnhang hat.
Das Recht, Gift zu nehmen, und das Recht, Gifte zu
verkaufen, sind zwei grundsätzlich verschiedene Dinge.

2. lch kann in den §§ 6 und 8 des vorgeschlagenen
Kurpfuschergesetzes nichts entdecken, was als Ermächti-
gung zum Erlass eines Verbots jeder Konzeptions-Ver-
hütung ausgelegt werden kann, sondern betrachte diese
Auslegung als unberechtigte Verdächtigung eines in
seiner Grundidee durchaus zu billigenden Gesetz-

n Angesicht der Tatsache, dass die Geburten-
ziffer bei uns zwar langsam, aber stetig zuriickgeht
dass sie von 40,7 Prozent im ersten Jahrzehnt des
zwanzigsten Jahrhunderts gefallen ist (1908 war die
Ziffer 33 Prozent) halte ich die Frage, ob darauf hin-
zuwirken sei, dass weniger Kinder geboren werden,
fiir ziemlich gegenstandslos. Auch heisst weniger
Kinder gebären noch nicht schlechthin, lebenskräftigere
Kinder gebären. Oft sind die jiingeren Kinder eines
Elternpaares lebenskräftiger als die erstgeborenen. Die
Frage der Beschränkung der Kinderzahl ist im wesent-
Jichen unter dem Gesichtspunkt der möglichen Fürsorge
für die jeweilig schon geborenen Kinder zu werten.
Dass man keine Kinder zeugen soll, wenn die Konsti-
tution der Eltern (erbliche Belastung usw.) oder son-
stige Umstände, die Prognose auf ungesunde Nach-
kommen stellen, ist selbstverständlich. 1m Uebrigen
ist aber der Gesichtspunkt massgebend, ob die Mittel
vorhanden sind, die erzeugten Kinder genügend zu er-
nähren und zu pflegen, wobei es für die zu beant-
wortende Frage prinzipiell gleichwertig ist, ob die All-
gemeinheit oder die lndividuen die Mittel zu liefern
haben.

4) Solange die allgemeine Sterblichkeit stärker ab-
nimmt, als die Ziffer der Geburten, wie das in Deutsch-
land in den letzten Jahrzehnten der Fall war, kann
selbstverständlich Verringerung der Geburten stattfinden,
ohne dass zugleich Abnahme der Bevölkerung erfolgt.
Aber es kann infolge ihrer Verlangsamung des Be-
völkerungszuwachses eintreten. Wie stark dies in
Frankreich der Fall ist, ist bekannt In England sieht
man mit Angst die Rate des Geburtenüberschusses
rasch fallen, ebenso haben Belgien, ltalien, Schweden,
die Schweiz, Spanien einen erheblich geringeren Ge-
burtenüberschuss als Deutschland Wenn Deutschland
eine höhere Rate der Säuglingssterblichkeit hat, als
mit Ausnahme Spaniens alle die genannten Länder, so
ist noch sehr zu untersuchen, ob dies nicht wesent-
lich dem Umstande zuzuschreiben ist, dass bei grösserem
Kinderreichtum wie er beim Volke in Deutschland vor-
liegt, den Säuglingen nicht die gleiche Pflege zuteil
wird, als wie dort, wo in der Familie nur wenige
Kinder geboren werden, bevor man die Folgerung
zieht, dass Quantität und Qualität des Nachwuchses

im umgekehrten Verhältnis zu einander stehen. Die
wenigsten Eltern, welche Mittel zur Verhütung der
Befruchtung anwenden, tun es, um die Qualität ihres
Nachwuchses zu heben. Im Gegenteil, die meisten
davon machen mit der Fortpflanzung S.chluss, wenn
soviel Kinder da sind, als sie standesgemäss glauben
aufziehen und versorgen zu können, gleichviel ob diese
Kinder gute oder schlechte Rasse sind. Der Neu-
malthusianismus unserer Tage hat mit Sorge für die
Qualität der Rasse in neunhundertundneunzig von
tausend Fällen, nicht das Geringste zu tun.

Adonia

Von Per Hallström

Abisag von Sunem träumte in König Davids Um-
armung. Mit offenen Augen träumte sie. Und starrte
hi;iaus in die Nacht.

An ihrer Brust lag das Haupt Davids und schlief,
das schwere weisse Haupt. Sie fühlte den spröden
Bart, den matten Atem des Greises; um ihren Leib
lag sein Arm, an ihrem Körper sein Körper, an ihrer
warmen goldenen Haut seines Blutes Erstarrung.

Sie lag wie auf einem Bett von Kröten und Schlan-
gen, den widerlichen kalten Tieren des Dunkels, sie
ekelte sich vor sich selbst.

Aber sie riss sich nicht von ihm los. Denn sie
war geholt, den König zu erwärmen, dessen Glieder
zu erstarren begannen. Vor ihm, dessen Augen sich
niemals mehr ganz öffneten, zu lachen und zu gaukeln,
die Frische ihras Blutes wie ein Bad über sein Ver-
welken zu ergiessen. Dazu hatte man sie, die schönste
Jungfrau des Landes, ausersehen

Und sie lächelte in Ergebenheit, als man sie von
Sunem fortführte, und sie lächelte und kniete nieder
vor dem König und wärmte seine Hände mit ihren
Küssen und tanzte zu seinem Ergötzen.

Ihr Tanz war wie das Beben eines Baumes, wenn
der heisse Abendwind ihn packt, wenn Blumen und
Kräuter rings umher ihren Duft in Flammen ergiessen
und die Erde in der Drohung des heranrollenden Don-
ners erzittert In Angst und Freude strecken sich die
Blätter, doch die Wurzeln klammern sich ans Erdreich,
und die schwarze Luft funkelt in einem Blitz auf. Es
war Weinen in ihrem Tanz und zu Herzen drängendes
Blut, es war Sehnsucht und Unruhe in den keuchen-
den Atemzügen und Verzweiflung in ihrer erstarrenden
Ruhe. Die Ringe um ihre Handgelenke klirrten in lang-
samen Rhythmus wie die Waffen von Besiegten und
kreuzten sich kühlend über ihrer Brust Aber die
Augen richtete sie in Anbetung und Scheu auf ihren
Herrn.

Da wollte der König ihre zarten Schultern fühlen
und ihren Hals streicheln und das Antlitz, das sich
zum Teppich senkte, und seine steifen Finger glitten
in Liebkosungen über ihre Wange, während der Blick
nach einem freundlichen Aufleuchten wieder leer
wurde und die Lippen sich in sinnlosem Gemurmel
regten.

Doch nun träumte Abisag, träumte sich frei, in-
des das Dunkel sie umwob und die runde, rote
Flamme der Lampe wie das ängliche Herz der Nacht
war . . .

Auf einer zackigen Klippe sitzt sie, von Sonne um-
schlossen, und die rote Fläche des Steines brennt ihren
Arm schon am Morgen. Sie lehnt sich zurück Die
Sonne scheint über ihre Wimpern. Zwei Adler kreisen
langsam umeinander, sie leuchten wie Bronze gegen
das grelle Blau.

Sie folgt ihnen mit Wohlbehagen, trotzdem ihre
scharfen ruhigen Augen nach unten gerichtet sind
Sie hat einen Stein ergriffen, um sie zu ver-
scheuchen, wenn sie nach ihren Schafen lüstern
wären.

Da klingt die Luft von Freude, Zuar steht auf einem
Felsen, ganz nahe:

„Abisag, Abisag, auf und eilel“

Seine Rufe hallen von den Bergen wieder, wie
hurtige Vögel schwingen sie sich empor.

Und Abisag steht auf und eilt, vor sich das Hüp-
fen der einjährigen Lämmer und den schweren Gang

der Mütter; in einem Tal tritt Zuar ihr entgegen und
küsst herabgeneigt ihre Wangen und Schultern und
hält ihre Hand, während die weissen Herden sich in-
einander zerstreuen Seine Kleider riechen nach Thymian
und Ysop und nach der warmen Schweisswolle, sei«
Haar liegt in schmalen schwarzen Flechten wie die
Kopffedern eines Geiers, sein Hals leuchtet wie Gold,
er wirft den Nacken zurück und folgt mit dem Blick
dem Flug der Adler. Seine Worte liebkosen ihr Wangen
und Ohr wie flattende Tauben.

„Abisag,“ sagte er, „Abisag, folge mir nach und
Spring“!

Sie hüpfen von Stein zu Stein und erreichen in
einem Kreise die höchste Zinne des Felsens, die den
Adlern am nächsten ist. Zuar löste seinen Gürtel und
ergreift einen Stein und schleudert Sie wissen, dass
er die fernen starken Tiere nicht erreichen kann, aber
sie freuen sich an seinem Schwung; jäh steigt der
Stein empor und saust, glänzt in der Sonne und fällt.
Die Adler, die sich beobachtetet wissen, strecken in
ein paar langen Schlägen ihre Flügel und setzen über
einen anderen Felsen ihr ruhiges Kreisen fort Zuar
lässt sich nieder und zieht Abisag zu sich hinab und
lacht und singt; wie weisse Steine im Bach glitzern
seine Zähne im Lächeln, wie Sonne im Wasser seine
Augen. Sie sprechen beide von ihren Schafen, deren
woliige Rücken unten im Gestrüpp schimmern, sie
können sie unterscheiden Sie streiten über die Grösse
der Lämmer, und Worte fliegen wie Bälle beim Spiel,
sie leuchten gegeneinander wie Stern gegen Stern.
Zuweilen beugt Zuar sich hinab und küsst Abisags
Knie.

Oft sprach er von David, dem Hirtenknaben, der
mit einem einzigen Wurf seines braunen Armes des
Glückes und der Ehre Frucht herabschleuderte. Das
will Zuar auch erreichen und seine Königin soll Abisag
heissen. Und im Licht des Tages wollen sie Hand
in Hand gehen, und sein Harnisch soll glänzen, und
die Purpurseide Abisags Schritte umschmeicheln und
umkosen, und goldene Münzen sollen um ihre Schläfe
klirren, und die Luft der Berge ihren Ruhm dahin-
tragen, und die Adler horchend ihr Haupt wenden.

Sie sind sich den ganzen Tag nahe und helfen
einander die Herden zu sammeln und treffen sich mit
Stimmen, die von der Jagd nach verlaufenen Lämmern
keuchen, und schütteln sich die blassroten Knospen-
biatter der Bäume und ihren gelben Regen von Sonnen-
flecken übers Haupt . . .

So träumt Abisag aus Sunem in König Davids
Umarmung und träumte weiter und bebte vor Sehnsucht
und weinte im Dunkel.

König David träumte nicht, aber oft lag er wach
und starr, und die Kälte ergriff seine dunkelgeäderten
Hände. Er dachte nicht viel Wie ein abgenutztes
Goldgeschmeide lag seine Jugend vor seinem Sinn; er
konnte nichts mehr ergreifen, kaum einen unruhigen
Glanz unterscheiden; es kümmerte ihn wenig, wer nach
ihm König werden sollte.

Aber dort draussen war die Luft schwül von Ge-
rüchten, Adonia, Haggithis Sohn, trachte nach der
Krone, sammle Männer in Harnisch um sich, und be-
unruhige das Volk der Strasse durch seine Pracht.
Salomo schwieg, aber die Priester sprachen vor ihm
und neigten sich tief, wo er ging. Jehova schwieg und
sog den Rauch aus den Opferfeuern beider ein.

Adonia schmachtete nach der Krone wie ein
Durstender nach Wasser; er Iehnte sich an Joabs
Brust:

„Liebster, ich sterbe, wenn ein anderer als ich
König wird.“

Er fuhr durch die Stadt so schnell, dass die Kupfer-
räder seines Wagens gleich rollenden Feuerkugeln
giänzten, er jagte in Unruhe dahin und trank die
Glut der Wüste mit bebenden Nüstern, er schlief
nachts auf den Bergen, deren scharfe Luft ihn leicht
wieder erwecken liess Er hatte Wachen aus Ghaza
und Karien mit grinsenden Löwenköpfen auf den Knie-
schienen und Schilden und langen Lanzen in der
Hand, und sie folgten ihm, wohin er ging. Er hatte
Weiber mit glimmenden Augen und bernsteingelbem
Hals, aber er fand keine Ruhe bei ihnen. Da ging
er zu David, um von ihm die Verheissung der Macht
zu erangen.

Adonia hatte langes, welliges Haar, glänzend dun-
kel und schwer wie geschwärztes Silber, es fiel breit
über seine Schultern, weil er das Haupt hoch erhoben
hielt; sein Antlitz bebte, seine Augen hatten des wolken-
iiberstreuten Himmels wechselndes und brennenden

460
 
Annotationen