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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 57 (April 1911)
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Strindberg, August: Die Drangsale des Lotsen
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Döblin, Alfred: Mehr Kinder
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Unger, Erich: Nachts
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0008

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Mehr Kinder

Es werden hier weitere Antworten auf unsere Rund-
frage über die 'Zweckmässigkeit der Paragraphen 6 und 8
des vorgeschlagenen Gesetzes zur Bekämpfung der
Kurpfuscherei veröffentlicht. (Siehe Nummer 53 und 54,
55 und 56 dieser Wochenschrift.) Die Paragraphen
lauten:

§ 6 Der Bundesrat kann den Verkehr mit Gegen-
ständen, die bei Menschen die Empfängnis verhüten
oder die Schwangerschaft beseitigen sollen, beschränken
oder untersagen.

Soweit der Bundesrat den Verkehr mit einzelnen
Gegenständen untersagt hat, ist deren Einfuhr ver-
boten.

§ 8 .... Mit der gleichen Strafe (Gefängn s

bis zu sechs Monaten und Geldstrafe bis zu 1500 Mark)
wird, wenn nicht nach anderen gesetzlichen Bestim-
mungen eine schwerere Strafe verwirkt ist, bestraft,
wer öffentlich anzeigt oder anpreist, Gegenstände oder

Verfahren, die den Menschen.zur Verhütung

der Empfängnis oder zur Beseitigung der Schwanger-
schaft dienen würden.

Dr. med. Alfred Döblin:

Es liegt in Deutschland kein Anlass vor, für die
Volksvermehrung zu sorgen; der Menschenzuwachs
lässt nicht wesentlich nach.

Der Kaiser äusserte, den Selbstmord könne jeder
nur mit seinem Gott und sich selbst abmachen. So
die andere Absicht, sich. fortzupflanzen. Eine Vor-
schrift hier überschreitet das Gebiet des ri"''!n!ich Be
stimmharen <jrp;?+ dje Menschenwürde tn. Und der
Gesichtspunkt, es müsse jeder Kongressus seinen na-
türlichen, folgenreichen Ablauf nehmen, ist nicht moralisch,
"or.dern ifCn^Cd una uüiTHii.

Der :Jmndesrat wird der. Handel mit Schutzmittein
nicht hindern, auch nicht hindern können, aber er
wird ihn über kurz und lang in eigene Regie nehmen.
Denn der Bundesrat ist ein Institut, das an das National-
wohl denkt.

Man möge berechnen, wieviel Volksvermögen ver-
toren geht durch die Lues und Gonorrhoe. Es leidet
die Mehrzahl aller deutschen jungen Leute an einer
oder beiden dieser Krankheiten. Es werden jährlich
Miilionen Mark für die Behandlung dieser Krankheiten
und ihrer Folgezustände umgesetzt. Für Irrenhäuser,
vorzeitige Invalidisierung, Sieche werden aus öffentlichen
Mitteln ungeheure Summen, Jahr um Jahr wachsend,
aufgebracht. — Tausende Menschen sterben in Deutsch-
land in blühendem Alter an den Folgezuständen dieser
Erkrankungen. Die Gonorrhoe, besonders die Lues
zehren an der Volksgesundheit fast so schlimm als
der Alkoholismus und die Tuberkulose. Der Bundes-
rat ist ein Institut, das an das Volkswohl denkt; er
wird dies nicht lange mit verschränken Armen ansehen
können.

Die Fruchtbarkeit des Volkes wird durch die Lues
und Gonorrhoe in kaum absehbarer Weise beeinträchtigt.
Bekannt ist die Einkindssterilität der gonorrhoischen
Frauen, die zahllosen Aborte der luetischen Frauen.
Das Verbot und die Beschränkung des Verkaufs der
Schutzmittel ist ein zweischneidiges Schwert: es werden
vielleicht auf der einen Seite mehr Kinder produziert,
auf der anderen greifen die Infektionskrankheiten ver-
heerend um sich und schaffen eine Abnahme der Frucht-
barkeit, die den Geburten - Ueberschuss unzweifelhaft
weit übertrifft. Der Bundesrat weiss dies; ihm
gehören logisch feingebildete Männer an. Die Körper-
schaft, der so kenntnisreiche Organisationen zur Seite
stehen, wird bald eingreifen; zwar nicht katholisch,
aber hygienisch. Hier verwischen sich alle sonstigen
Parteiunterschiede; in den höheren Ständen fordern
die Krankheiten die schwersten Opfer. Die Anpreisung
und das Angebot wie der Verkauf der Schutzmittel
wird staatlich organisiert werden Zugleich mit der
sexuellen Aufklärung wird eine Aufklärung über Lues
und Gonorrhoe und ihre Verhütung erfolgen. Die
Mittel zu ihrer Verhütung müssen jedem Erwachsen
bekannt sein; der Bezug der Schutzmittel muss leicht

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und diskret erfolgen können. Die sanitäre Ueber-
wachung der Prostitution ist eine halbe Arbeit. Das
Genannte wird folgen Die staatliche Herstellung von
Diphtherieheilserum ist wichtig; die der Schutzmittel
nicht weniger.

Der Bundesrat wird über den § 6 den Kopf
schütteln, und lächelnd einen § 606 bestimmen.

Nachts

Von Erich Unger

Zwanzigtausend Menschen iaufen über den Pots-
damer Platz. Der Himmel ist vom Regen gewaschen
und ein kühles Blaugrün steht weitestens über der
Steglitzerstrasse. Ein dusterer Wolkenvorhang liegt da-
runter — wahrscheinlich über Süddeutschland.

Joseph Strassburger läuft die Bellevuestrasse, in der
es schon finster ist, nach dem Roland und denkt fort-
während: „Wie kann der Bernhard wahnsinnig geworden
sein. Um Gottes wiilen, ich weiss nicht — wenn der
Bernhard wahnsinnig ist, wer ist denn gesund. Ich
will ihn reden hören, ich werde die Möglichkeit, dass
er wahnsinnig ist, nicht dauernd denken können“. —-
sein gesamtes Sich-Fühlen wurde unsicher. Der Bern-
hard, an den er dachte, war sein Freund, dessen Er-
lebnisse er seit fünfzehn Jahren, seit sie kleine Jungens
waren, täglich mitgemacht hatte, und ebenso umgekehrt,
sodass also nicht einer von ihnen verrückt werden
konnte, ohne den anderen mitzureissen. Darum schwankte
Alles um Joseph Strassburger und er bekam grosse
Angst.

Er lief durch dte Siegesallee, um den Hafen an der
Alsensrrasse, üuer BruciOen, an einenr nuilauf vorbei
in die Luisenstrassc 13a in sein Zimmer

Dort sass er wie es arn uellsten war und blickte
auf die Strasse hinunter in die Charite und als es
ganz finster war, fasste er einen Entschluss, sah sich
um, schritt in das finstere Zimmer hinein und steckte
die Lampe an.

Er begann das „Bildnis des Dorian Gray“ zu lesen
und wagte nicht aufzusehen, sondern kauerte sich
körperlich und geistig in den Lichtkreis der Lampe und
das Buch. Das Daueite bis halb zwei, als schon alles still
war und es auf dem Korridor knackte. Entsetzt horchte
er auf, stand mit gelähmten Gliedern und wollte den
Wandschrank vor die Stubentür rücken, für den Fall,
dass jemand hindurchschiessen wollte. Aber er unter-
Iiess es, da er wusste, dass es keine Furcht vor Ein-
brechern war, die ihn befallen hatte.

Vielmehr merkte er, wie sich sein geistiger Blick
herumdrehte und Möglichkeiten zu sehen bekam, die
ihm gefährlich wirklich zu werden drohend, immer
näher auf den Leib rükten, und er war darauf gefasst,
ihre umheimiichen Gestaltungen durch die Tür treten
zu sehen.

Doch schon hatte er diese Möglichkeiten unter die
Perspektive seines sonstigen Denkens gebracht und sie
dadurch farb’oser und ungefährlicher gemacht, sodass
er sich schon etwas beruhigte, ais er plötzlich unter
wahnsinnigem Herzklopfen sah, wie die Korridortür —
das tote Ding — einen entsetzlichen Ausdruck annahm;
und als ob ihm an den unteren Augenlidern gerissen
würde, sah er, wie sie in drei Rucken aufging, den
schwarzen Gang sehen liess und wieder zuging.

In irrer Aufregung stürzte er an die Fensterwand
des Zimmers und langsam etwas gewahr werdend bog
er seinen Kopf vor und starrte nach rechts. Da sah
er seinen Freund Bernhard ruhig im Schatten des
Zimmnrs auf seinem Bett sitzen und in einem Buche
blättern.

Joseph sagt:

„Wie geht es Dir; ich habe gehört, Du sollst —
einen — Nervenchok — — oder so was — ^ehabt
haben.“

„Nein, keinen Nervenchok, sagte Bernhard, sondern
ich soll wahnsinnig geworden sein —

„Was ist das, was ist das für Blech?!“ sagt Joseph,
haib ehrlich, halb aus Vorsicht.

„Du weisst doch, entgegnet der andere, wenn zwei
sich gegenseitig des Wahnsinns beschuldigen, fehlt jedes
Kriterium.“

„Wahrhaftig, wahrlich“, lacht joseph ausgelassen,
während der andere ihn lächelnd scharf fixiert

„Ich will Dir verraten, sagt er, dass ich tatsächlich
wahnsinnig geworden bin, aber ich will Dir zuliebe
wenige Minuten noch die Pose annehmen die ich bis-
her gehabt habe.“

Joseph, ungewiss, ob er selbst überlegen oder
minderwertig sei, fragt mit einem Ton, indem ebenso-
gut psychiatrisches Tasten wie geistige Unterlegenheit
klingt:

„Du glaubst aiso, Bernhard, dass das ganze Ver-
nunftniveau der Menschen, ihr ganzes, auch ihr unbe-
obachtetes Denken eine Pose ist?I“

„Ja. — Das ganze Oberbewusstsein ist eine ange-
nommene Haltung“ sagt der andere.

„Höre mich an, Bernhard ist es das, was Du
meinst: Du redest beileibe nicht von dem faden Gegen-
satz zwischen dem „Tier im Menschen“ und der „Ver-
nunft“, keinesfalls davon, dass diese „Vernunft“, oder
besser Vernünftigkeit die Maske der ungezähmten ln-
stinkte sei. Du redest auch nicht von dem tieferen
Gedanken Nietzsches, dass die unterirdischen psychi-
schen Kräfte, dem Menschen, der ihr Werkzeug ist,
nicht ins Bewusstsein kommend, seinen wahren Willen,
der der ihre ist, maskieren —

„Nein, antwoitete der andere, nicht nur das ober-
bewusste W o 11 e n ist eine angenommene Haltung,
sondern sogar das Anschauen, die Wirklichkeit,
die Dinge der Aussenwelt — die so konstant, so ob-
jektiv, so unabhängig erscheinenden Empfindungen der
Sinne — sind eine Pose.“

Joseph fragt: „Was folgt aaraus ?“

„Wenn man erkannt hat, antwortete der andere,
dass die Empfindung der Wirklichkeit eine angenommene
Haltung ist, so kann man sie a u f g e b e n. Diese
Konstanz, diese Unveränderlichkeit, dieses Beharrungs-
vermögen der toten leblosen Dinge, die seit Jahr-
tausenden dieselben nbysikalischen Gesetze befoigen,
diese langweiligen (üesetzmässigkeiten. Eine anständige
unendiiche Wirklichkeit ist nicht so stupid gleichmässig.
Dahinter steckt das Entsetzen vor unnatürlichen Ge-
schehnissen, die Furcht vor unfassbaren Neuerungen,
die das Eintreten massloser Möglichkeiten verhindert
Die Menschen selbst, ihre unterirdischen psychischen
Kräfte bestimmen die Wirklichkeit, und diese tote Un-
veränderlichkeit der Aussenwelt ist eine Schöpfung der
Angst vor Umwälzungen.“

Von hier an sprach der andere mit iauter werden-
der Stimme:

„Erkenne ich, dass auch die Dinge der Aussen-
welt, nichts sind als eine wiilkürliche Haltung der
psychischen Kräfte, daraus entstanden, die Furchtbar-
keit des Daseins nicht aufkommen zu lassen, so gebe
ich diese Haltung auf und erfahre Ungeheuerliches.“
Joseph entgegnete leise:

„Die Ereignisse geschehen dann wie vor einem
Wahnsinnigen.“

„Ja“ sagt der andere, „aber dieser Wahnsinn ent-
flammte bei allen sogleich, wenn die Angst erstickt ist.“

ln dieser Nacht ist dem Joseph Strassburger das
widerfahren, das mit einem Ruck sein gesamtes bis-
heriges Leben verneinte. also dem Erlebnis des Todes
am nächsten kam.

Er glaubte nämlich zu sehen, wie sein Freund
Bernhard nach seinem Kopfe fasste, und ihn für die
Dauer eines Herzschlages abnahm, nach Verlauf einer
Sekunde aber ruhig ihn selbst fixierte.

Von Taubheit befallen, wie nach dem unhörbaren
Knall einer inneren Explosion, versagten ihm die Ge-
sichtsmuskeln und sein Unterkiefer sank herab. —
Einige Zeit nachdem er sich erhohlt hatte, sagte
der andere: „Komm wir wollen hinuntergehen, es ist
schon morgen.“

Sie gingen durch die Dämmerung der Luisenstrasse
bis es hell wurde durch den Tiergarten.

Die Drangsale des Lotsen

Ein MMrchen von August Strindberg

Schluss

Sie gingen über Felsenhügei und Baumwurzeln,
Moor und Geschwende, Gehaue und Meilengründe,
 
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