Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 89 (Dezember 1911)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Literatur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0266

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Literatur

Der Zeit—Geist Kleist

Dt'r Ulkredakteur Herr Fritz Kngel, der auch
den Zeitgeist beherrscht, ist iiber die Bedeutung
des Dichters Heinrich von Kleist nicht klar. Er
wandte sich in dieser Verzweiflung an die be-
deutendsten Vertreter der deutschen Nation, näm-
lich an die Herren Fiirst Bülow, Paul Lindau, Fritz
Mauthner, Otto Brahm, Ludwig Fuida, Hermann
Sudermann, Herbert Eulenburg, Max Dreyer,
Friedrich Dernburg, Wilhelm v. Scholz, Wilhelm
.Schmidtbonn, Otto Erler, J. Minor, Richard M.
Meyer, Fians Kyser. Alle diese Herren bestätigen
„teils per Vers teils per Prosa“ dem Herrn Engel,
daß Kleist etwas gekonnt hat. Ich finde die Auswahl
äußerst gliicklich. Man gewinnt durch sie zwar
keine Vorstellung von Kieist, aber Herr Engel ver-
iiert durch sie das Recht auf den Ulk. Er wirkt
nämlich plötzlich komisch. Hingegen liätten die
Antworten kaum witzloser ausfallen können. Fürst
Biiiow, der von Literatur nichts zu verstehen
braucht, findet das Schicksal Heinrich von Kleists
„tragisch“. Aber „glücklich zu preisen sei Theodor
Körner, der, das Schwertlied auf den L i p p e n und
den Befreiungskrieg vor A u g e n den schönsten
Tod fand.“ Kleist sah den Befreiungskrieg nicht
mehr vor Augeri, doch, sagt Fürst Bülow. „er
schrieb den herrlichen Sang Qermania an ihre
Kinder, für mein Qefiihl den schönsten und mäch-
tigsten Schlachtgesang, der je von einer d e u t -
schen Lippe flo ß.“ Koerner konnte sein
Schwertlied wenigstens auf den Lippen halten. Es
ist nicht gut, wenn ein entflossener Reichskanzler
mal eine deutsche Lippe für die Literatur riskiert.

„Wenn ich ganz aufrichtig sein soll, darf ich
wohl sagen, daß ich fiir keinen unserer Dichter ein
stärkeres persönliches Gefühl liege, als für Heinrich
von Kleist.“ Mehr kann Kleist wirklich nicht ver-
Iangen, als daß Herr Paui Lindau seinetwegen im
Zeitgeist ganz aufrichtig ist. Man weiß, wie sich
solchc Aufrichtigkeiten fortsetzen: Kein anderer
hat so wie er — gewisse eigentümliche Wendungen
— dieselben Empfindungen wie vor 50 Jahren —
ungesuchte Schönheiten, denen sicli noch viele
Dutzende gleichwertige anreihen ließen — ich fühle
nur: es ist so.“ Es muß wohl so sein, da Paul
Lindau sich bei dieser Gelegenheit, wie er nun
«inmal ist. die Aufrichtigkeit nicht nehmen läßt.

Nach dem Dichter der Philcsoph. Herr Fritz
Mauthner liebt Kleist. Qleich der Beginn seiner
Erklärung führt in' die Tiefe: „In einem reichen
Hause des Berliner Tiergartenviertels plauderten
unserer drei, nachdem wir ausgewählte Speisen und
Oetränke zur Qenüge genossen hatten.“ Die Liebe
geht durch den Magen. Und man ist beruhigt, daß
der ausgewählte Philosoph sich den Magen ge-
nügend vollgepumpt hat. „Der Hausherr hatte zur
Unterhaltung seiner Qäste unbezahlbare seltene
Handschriften vorgelegt, zuletzt die beiden Blätter.
auf welciie Kleist vor seinem Freitode einige An-
ordnungen niedergeschrieben hatte.“ Ein Philosoph
zu Tische verpflichtet. Und der Hausherr aus dem
Tiergartenviertel nimmt alies vom Besten. Riih-
mend bernerkt Herr Mauthner: „Der Sammler

nannte den Preis, den diesc Blätter heute unter
Brüdern wert wären: ,Soviel hat der g u t e Kleist
niemals für eines seiner unsterblichen Werke er-
halten 1.“ Nicht einmal zu Tisch wurde der gute
Kleist eingeladen. Hätte man mir nach Tisch von
Preisen unter Brüdern und vom g u t e n Kleist ge-
sprochen, so wiirde ich ohne weiteres dem aus-
gewählten Tischherrn eine Ohrfeige versetzt haben.
Ein Philosoph kann offenbar mehr vertragen, er ist
mit dem reichen Hausherrn und dem guten Kleist
gleich intim. Der dritte Mann zum Skat war „ein
Manh von internationaler Tagesweltberühmtheit.“
Tageswelt soll wohl eine bescheidene Umschrei-
bung für Zeitgeist sein. Denn der Tagesweltbe-
rühmte „sprach davon, wie der g u t e Kleist den

Ruhm gesucht, aber nur Nachruhtn gefunden habe.
Und daß es u n s zum Ruhm gereiche, ihm ein
Denkmal errichtet zu haben.“ Auch der Tages-
weltberühmte hätte die Ohrfeige verdient. Aber
Fritz Mauthner kann selbst diesen Reichtum an
Qeist „würdigen“, und er bemerkt lyrisch: „Es
klang wie das Knallen eines Chatnpagnerpfropfens“.
Der gute Mauthner liebt Kleist. Da ist Kleist nicht
mehr zu helfen.

Otto Brahm fordert ein Monument Kleists für
die Reichshauptstadt. Der hundertjährige Todes-
tag „mahnt an eine alte Schuld“. Warum eigentlich
alle Leute bei solchen Anlässen an unbezahlte
Rechnun-gen denken müssen.

Und nun der gute Fulda: natürlich per Vers:

Ewig werden wir weinen
Wir Kleinen
Um diesen Einen.

Das blinde Geschick, das ihn erschlug

Den Ungeduldigen

Mit rauhen Schlossen

Nie — nie hat ein zerbrochner Krug

Edleren Trank vergossen.

Ein echter deutscher Dichter, der gute, gerührte
Fulda. Wenn er vom zerbrochenen Krug hört,
muß er an den Suff denken und ist begeistert.

Anders der gute Sudermann. „Kleists unseli-
ges Sterben hätte den deutschen Dichtern ein
Opfer- und Erlösungstod werden können und rnüs-
sen.“ Sudermann ist ein moderner Mensch. der
durch sein zahlreiches Dabeigewesensein bei Wohl-
tätigkeitsfesten aller Art etwas für die soziale
Frage übrig hat. Kleists Tod, meint er, „wäre dazu
angetan gewesen, die Ausgereiften daran zu ge-
mahnen, wie man dichterische Sämlinge mit leiser
Hand hegt und hochzieht.“ Es wird nicht ganz
klar, ob sich der Sudermann zu den Ausgereiften
oder zu den Sämlingen rechnet. Immerhin wühscht
er, daß w i r a 11 e Einkehr halten mögen.

Herr Herbert Eulenberg glaubt sich berechtigt,
im Namen Kleists Klage gegen das deutsche Volk
wegen nicht geniigender Anerkennung zu erheben.
Er behauptet zu wissen, daß Kleist „am kalten
Ruhm im Sarkophage friert“:

Ihr seid erst halb das Volk, das ich ersehnt,

(habe fehlt)

Ihr lerntet mich zu achten, mich zu lieben,

Die Glut, die Euch in meinem Werk verblieben,

(ist fehlt)

Hat wenigen nur beglückt die Brust gedehnt.

Schade, daß Eulenberg vor Abfassung der Qe-
dichtes mit den fehlenden Hilfsverben die Fahnen
des Zeitgeistes nicht schwingen konnte. Er hätte
sonst gewußt, daß Heinrich von Kleist wenigstens
von Fiirst Bülow, Liridau. Mauthner. Fulda und
Sudermann geliebt wird. Er hat sogar den Besten
u n s e r e s Zeitgeists genug getan.

Also auch dem guten Max Dreyer. Der ist
ganz geriihrt, wie der gute Fulda. Das bringt die
Seelenverwandtschaft mit sich. Schori mit neun
Jahren versprach Herr Dreyer feierlich, sich nicht
durch Tränen auf dieser Erde zu beflecken. AIs
er aber das Kätchen von Heilbronn las, konnte er
nicht umhin, zu zerfließen. Es geht nichts über
ein deutsches Dichtergemüt.

Friedrich Dernburg über Heinrich von Kleist:
„Ein Dramatiker aus der Heroenzeit. S p e z i a 1 -
marke: Der preußische Leutnant in der Welt-
literatur.“

Auch die Literaturhistoriker äußern sich, um
Herrn Fritz Engel zu beruhigen. Herr J. Minor aus
Wien: „Kleist ist das schwierigste Problem der
Literaturgeschichte, je weiter die Forschung fort-
schreitet, um so schwieriger wird das Problem.“
Was Herrn J. Minor beweisen sollte, daß er
besser daran täte, nicht weiter zu „forschen“, son-
dern lieber völlig aus der Literaturgeschichte fort-
zuschreiten.

Abgründig bemerkt Herr Professor Richard
M. Meyer zu Berlin: „Die Entwicklung des la-
halts und die Ausbildung der Form gehen gerade
bei einer so ungemein selbständigen Persönlichkeit
notwendig auf gemeinsame tiefere Ursachen zu-
riick.“ Damit Professor Richard M. Meyer die un-
gemein tiefe Meinung bekommen konnte, mußte
Kleist erst hundert Jahre tot sein.

Herr Fritz Engel, der dieses „üedenkblatt“
zum hundertsten Todestage Heinrichs von Kleists
am 21. November 1911 herausgab, hat einem großen
Dichter alles angetan, was er kleinen Dichtern der
Qegenwart antun kann: ihn durch Tagesweltbe-
rührntheiten lieben und loben zu lassen. Die gro-
ßen Dichter der Qegenwart werden erst nach
hundert Jahren von ihm auf dieselbe Weise be-
leidigt werden.

Der Tfgcr — kein ehrlich ringender Mensch

„Jeder ehrlich ringende Mensch hat Stunden
der Bitterkeit. Künstler sind, sofern sie ihren Na-
men verdienen, ehrlich ringende Menschen.“ Diese
Psychologie und diese Verlierrlicliung des Künst-
iers verdankt man keinem Qeringeren als Herrn
Qe-org Hirschfeld. Herr Hirschfeld muß es wissen.
Ihm sipd schon viele Stunden der Bitterlreit he-
reitet worden, er lebt in Dachau, wo die Klin-stler
nur so herdenweise zu fiuden sind, und er ringt so
ehrüch, daß ihm eine Prämie aus der Kleiststifumg
ziemlich sicher ist. Die Künstler haben es schwer
im Leben. „Sie sehen Nichtkünstler vor sich, die
sie mit Zähnen und Tatzen angreifen, was der
Lövre, wic die Naturgeschichte lehrt, nie tut. Der
T t g e r t u t e s , d e r i s t a b e r a u c h k e i n
e h r 1 i c h r i n g e n d e r M e n s c h.“ Der Löwe
und der Hirschfeld sind es. Sie wollen zwar die
Kunst, aber die Kunst will nicht auf sie anbeißen.
Wie es ja auch in der Naturgescihchte schon ganz
richtig steht. Herr Hirschfeld ist gegen die Thea-
terkritiker. Icb auch. Ich bin aber auch gegen
Herrn Hirschfeld. Alle Theaterkritiker, sagt Herr
Hirschfeld, haben Dramen in der Schublade und
sind auf die Dichter wütend, die aufgeführt werden.
Herr Hirschfeld unterscheidet Schauspielerstücke,
Kritikerstücke und Dichterstücke. Und er be-
bauptet, daß von diesen dreien ein Dichterstück-
werk stets das Beste sei. Man wird eitel, wenn
man Stiickwerk dichtet. Aber Herr Hirschfeld
bleibt den Beweis für seine Behauptungen nicht
schuldig. Er präsentiert zwei Kritiker, die schlechte
Stiicke geschrieben haben. Diese Kritiker heißen
Karl Ettlinger aus München und Ludwig Bauer
aus Wiep. Nun wird niemand, außer dem Herrn
Hirschfeld und den Preisrichtern der Kleiststiftung,
diese beiden Herren für Kritiker halten. Sie sind
vielmehr durchaus Schaffende, wie Herr Hirsch-
feld. Karlchen in der Jugend und Bauer in Wien.
Trotz seinem Kritikeramt ist Karlchen bei Hcrrn
Hirschfeld beliebter als der rolie Bauer. „Karl
Ettlinger hat den düstern, blutbespritzten Mantel
des Kunstnchters nie getragen.“ AIso, was will
denn Hirschfeid von ihm. Wo doch Karlchen „ein
bischen menschliche Qüte und ein Schätzungs-
vermögen ohne Haß (fiir Herrn Hirschfeld) hat.“
Warum muß er dann Karlchen nocli so bitteres
nachsagen, daß der „ein tieferes Verhältnis zur
Kunst hat.“ Wenn schon dem Kritiker die Ein-
mischung in Privatangelegenheiten übelgenommen
wird, warum muß der Dichter solche erweislich
unwahre Tatsachen verbreiten. Aber Herr Hirsch-
feld ist doch ein guter Mensch. Er denkt „an eine
Rührung zuriick, die ich empfand, als ich in Ett-
lingers Schwankgeplauder plötzlich das Wort hörte:
„Einen Menschen g e n a u kennen, heißt ihn ver-
loren haben.“ Man ist gleichfalls gerührt, rnan
atmet auf, daß Hirschfeld seinen Ettlinger wenig-
stens nicht verlor, und daß es wenigstens drei ehr-
lich ringende Menschen auf der Welt gibt: den
Löwen, die Hirschfeld und — das Karlchen.

Tmst

708
 
Annotationen