Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 95 (Januar 1912)
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
DOI Artikel:
Adler, Joseph: Humoristen
DOI Artikel:
Beachtenswerte Bücher
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0318

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Schlittschuh augeschnallt, und ihn so mit fort-
Xerissen, es kam rrvir nicht darauf an. Ich
schriei» also den größten Teil meiner Briefe mit
dem großen Zeh; die Historie aber, kann man nur
mit dem Herzen schreiben; das Herz ist Kaiser.
Womit schreibe ich eigentlich meine Qedichte?
Was glaubt Ihr wohl? Die schreibe ich mit meiner
unsichtsbarsten Qestaitung, mit der Hand der
Seele, — mit dem Flügel. Ob er vorhanden ist —
Sicher! Aber gestutzt vom böswilligen Leben.
(Mystik.)

Lieber Herwarth, außerdem habe ich Direktor
Cajus-Majus = Dr. Hiller in seinem Qnutheater
am Vortragstisch auf der Biihne sitzend gezeichnet.
Er spricht vom gescheckten Mondgnukalb — in
seinem Hirne — elektrisch spiegelt sich die Bime.

0, Herwarth. o, Kurtchen, wie sich die Welt
verändert hat; irüher war die Nacht schwarz,
nun ist sie goldblond.

Liebes Kurtchen, weißt Du’s schon, eine Deiner
Klientinnen hat den Sturm aufgekauft und läßt sich
mit Deinem Bild ihr Schlafzimmer tapezieren:
Sie singt: ,.Ich hab dein Bild im Sturm gesehn!“

Jungens, nun hab ich’s raus mit den Künsten:
man muß zeichnen, wie man operiert. Ob man
ein Stück Haut zuviel skalpiert oder einen Strich
länger zieht, darauf kommt es ja gar nicht an! —
Und die Massenliebe des Publikums zur Musik,
rst mir auch klar geworden. Die Zunge hat am
meisten zu tun beim Hören, sie wächst sozusagen
gehöraufwärts, sie probiert; namentlich schmeckt
ihr die Nationalmusik: Deutschland, Deutschland
über alles, Volkslieder, prickelnde Operettenlieder;
Carmen, glänzendes Hochzeitsmahl; auch Wag-
ners heiliger Qral ist nicht zu verachten. Deine
Musik, Herwarth, aus Tanz und Schwertern. aus
Frühlenz und Schäfern, aus Mond und Nacht und
Sternen fnißt auch die Menge mal für Schild-
krötensuppe und indische Vogelnester — h o f f e
Ich!

Abends trinke ich ietzt immer Thee Cham-
bard, ein Qetränk aus Qoldkamillen, blauen
Glockenbliiten und Rosenblättern. Ich habe Peter
Altenberg das duftende Rezept geschrieben für
eine Fortsetzung seines Buches Prodromus. Ich
hörte, er spucke auf mein erlesenes Gedicht, auf
meinen alten Tibetteppich, er kann nur dadurch
antiker und wertvoller werden.

Peter Altenberg, der Dichter der Oestreicher,
hurrah!!!

Lieber Herwarth, wenn ich Professor Herr-
mann begegne, muß ich an tiefe Wolken denken;
wenn ich an Julius Hart denke, weiß ich, wo ich
einst Engeln begegnet bin! Max Herrmann und
Julius Hart sind (fort mit allem Hirn-Machd)
durchrankt von Seele.

mmmmmmmummmmmmmmmmmmmmmmmmmm

Humoristen

Nachwuchs

„Mit Ludwig Pietsch ist schon wieder eine
Säuie Alt-Berlins gefallen.“ Treffend gesagt. Und
so oft eine dieser ehrwürdigen Biedermeierzeit-
säulen fällt, erhebt ein Schmock ein fliichtiges Kla-
gelied iiber die zu schnelle, zu gewaltige Entwick-
lung der „jüngsten Weltstadt“.

Unter dem Strich eines Provinzialblattes spricht
er mit ganz „leisen, kußsanften“ Worten von der
Schönheit und Kultur des alten Berlin, aber in der
Presse des neuen, des modernen, des amerikani-
sierten Berlins bliiht der Provinzialismus, werden
Feuilletons und Kritiken hingelegt, so seicht und
kuiturarm, wie sie zur Zeit waren, als Pietsch und
Albert Traeger, Fritz Mauthner pnd Wippchen-
Stettenheim noch lange keine „gefeierten“ Fünfziger
waren. Insbesondere hängt noch der Qeist und
das Urteilsvermögen der Berliner Musikkritiker an
der zähen Nabelschnur des Mütterchens Vergangen-
heit. Ihr Musikverständnis verliert sich hinter
einem Strauß wie in einer Wüste, in der kein Bliime-
lein mehr wächst. Einer ist unter ihnen, Johannes
Doebber genannt, ein Mann, der dem Meister mit
fetten, gewichtigen Superlativen dient . Als aber
der „R o s e n k a v a 1 i e r“ in Berlin „unter rau-
schendem Erfolge seinen Einzug gehalten und für
alle daran Beteiligten einen „Sieg auf der ganzen
Linie“ bedeutet hat, wurde der ernste Johanne9
witzig und pikant. Ein Beweis mehr für die Be-
deutung der Straußschen Musik ist dem Johannes
Doebber der neue Vorhang, der für die Ro-
senkavalier-Vorstellungen angefertigt wurde.

„Er trägt auf blauem Qrunde zwei Medail-
lonbilder mit den beiden wichtigsten Szenen des
Werkes. Das Bett der Marschallin, das Voraus-
gegangenes mit großer Deutlichkeit erraten läßt,
ist ebenfalls belassen und der Szene nach Mög-
lichkeit entsprochen worden, soweit das die Qe-
setz der Kunst gestatten. Und dcM - Qesetze gibt's
viele, namentlich, wenn eine Behörde selbst dar-
über entscheiden kann!“

Aber es gibt leider keine Behörde, die Vergehen
gegen die Stilgesetze bestraft. Qäbe es eine, so
müßte sie Johannes Doebber auspeitschen lassen
für dieses:

„Da schon auf der Generalprobe der Kom-
ponist von einem Entzücken ins andere gefallen
ist, sein Werk gestern sehr gefallen hat, darf man
wohl annehmen, daß er nach der souveränen
Leitung des Orchesters durch Dr. Muck sich nicht
mucksen wird, noch irgendeinen Wunsch zu
äußern. Eine bessere Aufführung ist kaum zu
denken.“

Ein schlechteres Deutsch auch nicht. So darf
sich ein romantischer Musikschmock am lebendigen
Oeist der Sprache ungestraft versündigen, wenn
man nur

„auch auf die toten Gegenstände den Naturalis-
mus ausgedehnt hat. Wände und Decken sind
nicht aus Pappe, sondern fest aus Holz gefügt
worden; die Türen öffnen sich nicht wie von un-
sichtbarer Hand von selbst, sondern müssen von
den Darstellenden auf- und zugeklinkt werden.
Eine oben an der Decke angebrachte, mehrere
Zentner wiegende Kuppel ist ein kleines Meister-
stück.“

So eine mehrere Zentner wiegen-’e Kuppel fällt
für die Wertung der Straußschen Musik nicht leicht
ins Qewicht

— „und endlich die silberne Rose, die Octavian
seiner Braut Sophie im zweiten Akt iiberreicht,
ist nicht von Pappe, sondern aus schwer ver-
silbertem Eisen gestanzt. Kurz: „Das üanze ist
nicht von Pappe!“ wiirde der Berliner sagen.“
Aber ne Sache!

Schließllch vertrete ich diese Meinunt

Dem ürwin H o n i g, der es so bötter ernst
mit der Kunst nrmmt, hat die letzte Ausstellung der
Neuen Sezession bekanntlich sehr viel Spaß bcrei-
tet. Er fand ihre Darbietungen einfach ulkig und
schlecht, aber dem Doktor Lindau hält er für die
Aufführung Kletistens und Hebbels „zu gute, daß er
diesen Toten gegentiber die Qegenwart durch Su-
dermann und Lubliner vertreten sein läß t.“
Zwar:

„Ein entschlossener und von seiner Aufgab#
ganz durchdrungener Regisseur hätte freilich
inbezugauf das Personal eine gewisse Her-
kulesarbeit zu leisten. Er hätte zunächst Frau
Willig dahin zu senden, wo sie hergekommen
ist (es soll ein siidwestdeutsches Hoftheater ge-
wesen sein), und für die Kriemhild eine neue
Schauspielerin zu engagieren.“

Ferner:

„So wie König Qunther, den sich Herr
Qeisendorfer als degenerierten Merowinger-
enkel vorzustellen scheint, muß auch Volker,
der Spielmann, im dritten Teil, dem gewichtig-
sten des deutschen Trauerspiels, durch einen
Schauspieler vertreten seiin, und man
für die Vision vom Nibelungenhort mobfl
miißte zum Donnerstag noch Herrn Sommers-
torff machen.“

Ein entschlossener und von seiner Aufgabe
ganz durchdrungener Zeitungsverleger hätte frei-
lich inbezug auf das Persona! eine gewisse Her-
kulesarbeit zu leisten. Er hätte zunächst Herrn
Honig dahin zu senden, wo er hergekommen ist, es
soll ein siidostgalizisches Städtchen gewesen sein,
und keinen neuen Theaterreferenten zu enga-
gieren.

J. A.

Beachtenswerte

Bücher

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt

GOETHE

Wilhelm Meisters theatralische Sendung

Nach der Schustheßschen Abschrift herausgegeben vo
HARRY MAYNC *

J G Cottasche Buchhandlung Nachfolgar ( Stutt"
gart und Berlin

LA NOUVELLE REVUE FRANQAISE

Monatsschrift für Literätur und Kritik
Das Januarheft enthält unter anderem Beiträge von
Jean-Arthur Rimbaud / Paul Claudel / Henri
Gheon j Jean Schlumberger / Jacques Riviere
Verlag Marcel Riviere et Cie / Paris

MMe HUBERT BOURGIN / NEE DARCY
Trois petites Betes

Verlag Cahiers du Centre / Moulins (AUier)

Verantwortlich für die Schriftleitung

HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

760
 
Annotationen