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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 79 (September 1911)
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Zerbst, Max: Bewegung: Grundlage einer neuen Weltanschauung
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Friedlaender, Salomo: Der kommende Mann: eine Vision
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0187

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tera, die man bis jetzt nicht genügend von Grund
aus erklären konnte, weil man in alle Erklärungs-
versuche noch das alte Substanzvorurieil hinein-
trug, weil man den letzten Rest der Substanz-
liige, das „Atom“, nicht los wurde, sondern aut
allen Wegen und Gängen der Forschung als
Ballast und Hindernis der Erkenn'nis mitschlep-
pen musste! — Wie verständlich wird alles,
wenn wir wissen, dass es sich im Grunde im-
mer nur um „Bewegung“ handelt, um Bewe-
gungsformen und Bewegungsbeziehungen! —
Die vollständige Ueberwindung des uralten Sub-
stanzvorurteiles, die grosse Einsicht in die Wirk-
lichkeit der Bewegung bedeutet eine ungeheure
Befreiung der Erkenntnis, bedeutet die Befreiung
der Erkenntnis!

Und welchen unberechenbaren Einfluss wird
der grosse Bewegungsgedanke erst haben auf
die Dinge und Vorgänge unserer inneren Sinn-
iichkeit, die wir „Geist“ oder „Seele“ nennen,
welche Bedeutung für die Beurteilung und Wer-
tung ihrer Wirksamkeit!

Sind doch hier bisher alle mächtigen Grund-
werte auf den Glauben an die „Substanz“, an
„Beharrliches“ und „Unveränderliches“,auf denAber-
glauben der „Einheit“ getauft und geweiht worden:
„Gott“, „Ursache“, „Willensfreiheit“, „Ewigkeit“
et cetera! Sind doch hier unerklärliche und
geheimnisvolle vermeintliche Elementarformen der
Erkenntnis entstanden, wie: „Endlichkeit“ und
„Unendlichkeit“, „Raum“, die nur irrtümlichen
und falschen Auslegungen und Beziehungen von
„Einheits“- und „Substanz“-Vorstellungen ihr
Schein-Dasein verdanken.

Begnügen wir uns vorläufig damit, über die
Hauptsache klar zu werden, dass die neue gro-
sse Bewegungsumwertung die gewaitigste Revo-
lution zur Folge haben wird, die je im Geistes-
leben der Menschheit stattgefundcn hat.

X

Bewegung ist die erste und unmittelbarste
Tatsache, die uns gegeben. Unsere erste Er-
fahrung, unser erstes Wirklichkeitsmoment über-
haupt, sobald wir geboren sind, ist ein dunkles
Bewegungsgefühl, ein Gefühl von Bewegung,
aus dem heraus dann, wiederum durch Bewe-
gung, durch Bewegungszunahme, sich allmäh-
lich unsere ganze Bewusstseinswelt entwickelt.

Die höchste und eigenste Tatsache unserer
Erfahrungswelt, die wir „Leben“ nennen, ist
ihrem Wesen nach: Bewegung.

Was sich nicht mehr bewegt -- nicht inehr
zu bewegen scheint — ist tot.

Je tiefer wir auf dem Wege des Erkennen-
Wollens in das Reich der „Substanz“ einzudrin-
gen versuchen, um so stummer und dunkler wird
es um uns her; je mehr wir dagegen von der
wunderbaren Welt der „Bewegung“ entdecken
und erforschen, um so lichter und lebendiger wird
rings die Landschaft, um so deutlicher und un-
inittelbarer spricht zu uns — die Wirklichkeit.

XI

Dieses Buch soll nichts anderes sein als eine
Skizze, eine Anregung. Es enthält im wesent-
lichen nur Andeutungen.

Ein einziger grosser Grundgedanke ist in
ihm niedergelegt, der der denkbar reichsten Ent-
wicklung und Vertiefung fähig ist.

Dieses Buch ist der Keim zu einer neuen
Welt.

Möge die neue Welt aus ihm hervorgehen.

Briefenach Norwegen

Von Else Lasker=Schüler
Liebe Jungens

Ich habe hier nun keinen Menschen, dem
ich das alles erzählen kann, kommt bald wie-
der! Der Peter Baum ist ein Schaf, er grast
immer auf der Wiese bei seiner Mutter und
immer kann er nicht loskommen von Hans oder
von einem anderen Cousin des Wuppertals. Oder
seine Schwester lässt ihn nicht fort, oder Maja,
sein Weib, ist zurückgekehrt von der Reise. Ohne
Peter Baum kann ich nicht leben. Er rügtmich
nie, er findet, alles passt zu mir, was ich tu.
Aber vor Dir hab ich Angst, lieber Herwarth,
eine Backpfeife wäre mir lieber als dein stren-
ges Gesicht. Den Geschmack habe ich noch von
der Schule her. Und ich werde lieber in Dei-
ner Abwesenheit diese Briefe an Dich und
Kurtchen an deine Druckerei schicken. Du
sagst ja doch, es geht nicht, aber es geht alles,
was man will. Peter Baum findet auch nichts
dabei. Den ganzen Tag hab ich gestern auf ihn
gewartet, ich schrieb dreimal denselben Brief an
ihn, einen sandte ich an seine erste Wohnung,
den zweiten an seine neue Wohnung und den
letzten an seine Mutterwohnung nach Friedenau.
Auf Wupperthaler Platt. „Lewer Pitter Boom,
dat letzte Mol, dat eck Deck schriewen tu:
kömm oder körnm nich, ollet Mensch. Eck han
Deck so völl tu verzählen, eck wees jo nich,
wat eck met a!l die Liewe donn soll. Eck
weess nich, wän eck vön de dree Arbeeter liewe,
den Frederech oder den Willem oder den Ost-
Prösen. Du söllst meck helpen tu sinnen, dom-
met Rendveeh. För wat böss De denn geborn?
On leih meck een Kastemännecken, eck han ver-
deck keene Kartoiiel mähr em Hus, on necks tu
freien. Eck gew et Deck weher, so wie ming
Gelägenheetstrauerspeel, Pastor Kraatz, opge-
föhrt wörd. Der Derektör han et meck ver-
sproocken optuföhren; wenn meck ens nur der
olle Grossvatter em erschten Akt vörher nich
sterben dut; hä leid on die Luft. Det weest
De jo. On de Döktor Rodolf Blömner vom düt-
schen Triater söll emm speelen, ewwer wat söll
eck anfangen, wenn hä sinne spassegen Opern
makt, on eck kann nich henkicken, weel wir bös
sinn. Du gönnst et meck wohl nich, fiser Peias.
Kömmst De nu, oder nich? Kömm ens wacker!
Ding Amanda“.

Denkt mal, er ist abgereist mit seiner Schwe-
ster Julie nach Hiddensee, am Hohenzollerndamm
wohnt seine Frau, die Matja, mit ihrer Freundin
Jenni, in der alten Ringbahnstrasse hat Peter Baum
seinen Roman liegen lassen. Die Tapezierer haben
die Hälfte Blätter schon mit Kleister beschmiert, um
sie unter die neue Tapete zu kleben. Aber was
geht das uns an. Hast Du Dir den Brief von
der Post in Kristiania abgeholt, lieber Herwarth?
Was sagst Du dazu, dass Deine Pantomime in
ganz Luxemburg angenommen worden ist? Ich
singe immer seitdem, ich bin der Graf von Lu-
xemburg und hab mein Geld verjuxt, verjuxt.

Lieber Kinder, ich habe Euch schnell was
furchtbar schmerzliches zu sagen, der Marroka-
ner ist entführt worden von einer Undame.

Herwarth, gestern war ein Monstrum i'u
Cafe mit orangeblonden, angesteckten Locken,
und wartete scheints bis. Mitternacht auf Dich,
Herwarth. Leugne nur nicht, Du kennst sie; sie

sprach genau so im Tonfall wie Du, überhaupt
ganz in Deiner Ausdrucksweise. Nachher ging
sie in die Telephonzelle; ich und Zeugen hörten
sie unsere Nummer rufen, aber Deine Sekretärin
musste wohl schon gegangen sein, denn das
Monstrum stampfte so wiitend mit dem Fuss,
dass die gläserne Tür des kleinen Kabinetts
klirrte. Und so stampfen nur Verhältnisse. Es
wäre doch eine Gemeinheit von Dir, wenn Du
mir untreu wärst. Jemand hat hier im Cafe ge-
sehn, wie sie Dir unter dem Tisch eine ihrer
künstlichen orangefarbenen Locken schenkte. Aber
was wollt ich noch sagen, heute Morgen war
Minn bei mir in der Wohnung, auf seiner stoJ-
zen Schulter trug er einen grossen Reisekorb,
mich darin sofort einzupacken nach Tanger. Ich
will es mir noch überlegen mit dem Bischof;
natiirlich wenn der mich wirklich liebt, kann
ich ja nicht weg. Aber eins, Niemand schwärmt
so für Deine Pantomime wie der Erzbischof und
der Slawe. Also bleibe noch ruhig am Nordpol.
Du und Kurtchen.

Lieber Herwarth, zum Wohlsein Kurtchen,
gestern sind meine Grete und ich fast überfallen
worden! ! Sie flickte mir gerade meinen Rock.
Ihr Willy war es, der doch so ungefährlich aus-
sieht Sie hat ihm in der letzten Zeit dieselben
Briefe geschrieben, die ich ihr an Dich und

Kurtchen vorlas. Was wir so alles durchmachen,
auch geht es mir materiell schlecht. Im Cafe

habe ich grosse Schulden, beim Ober vom Mit-
tag: ein Paradeishuhn mit Reis und Apfelkom-
pott; beim Ober von Mitternacht: ein Schnitzel
mit Bratkartoffeln und Preisselbeeren und ein
Vanilleneis, ein ganzes zu fünfzig Pfennig. Mar-
tha Hellmuth, die Zauberin Hellmüthe in mei-

nem St. Peter-Hille-Buch, lieh mir einen Gro-
schen fürs Nachhausekommen, sonst hätte ich
Dir wieder mein Wort nicht halten können.
Und nachher kam Rechtsanwalt Caro, er ist di-
rekt ein gentleman, er gab mir für dich zehn
Mark; er sei Dir das schuldig. Als ich dann
Lachs mit Buttersauce gegessen hatte, fiel mir
ein, es war eine elegante Ausrede von ihm. Was
man doch an Keingeld zu Grunde geht, zwar
Kleingeld vertrag ich noch weniger, ich bin

von Hause nicht en miniature gewöhnt. Macht
Euch keine Sorgen um mich, so lang ich noch,
im Fall einer Mobilmachung, was zu versetzen
hab — Euer Krösus.

Schluss folgt

Der kommende Mann

Eine Vision
Von Mynona

Zibulke aus der Osteroder Chaussee sagte:
„Haben Alexander gehabt. Wir haben Muchler,
den General Wunk, naben Napoleon, den Affen
Konsul, den Musiker Thoendling, den Theater-
direktor Turl gehabt, sowie den Grafen Durak,
den Schiffskommandanten Goethe, den Steuer-
mann Schiller, den Bureauchef Kohn XXI, ta-
dellos grossen Mannsen, die Dame Schpela,
den Zirkusdirektor Nietzsche, den genialen Bör-
sianer Buddah, den Dynamitarden Muhamed,
Professor Roda-Roda, vor allem den grandiosen
Kammerjäger Shakespeare — eh bien! voila!
Halloh! En avant! Ziehen wir das Fazit: wie
wircl der kommende Mann aussehen?“

Zibulke holte ein Büchlein aus der Tasche,
dessen Rückseite die Gesichtszüge aller genann-
ten grossen Menschen reklamemässig zierten;
ein Büchlein aus dem Verlag Schneemann. Er
schnitt sich die Bilderchen heraus, und setzte sie

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