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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 77 (September 1911)
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Zerbst, Max: Bewegung: Grundlage einer neuen Weltanschauung, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0168

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Bewegung

Grundlage einer neuen Weltanschauung
Von Max Zerbst

V o r w o r t

Die herrschende Weltanschauung ist die des
„Atomismus“, das heisst die Lehre von kleinsten
körperiichen Elementen, von winzigsten unteil-
baren Stoffpunkten, den „Atomen“, die mit ge-
wissen Urkräften (Attraktions- und Repulsions-
krafi) begabt sind, und aus deren verschiedenen
Gruppierungen und Zusammensetzungen alle For-
men und Erscheinungen der von uns wahrge-
nommenen Welt hervorgehen. Der „Atomismus“
ist von allen philosophischen Systemen, von
allen Welt- und Wirklichkeitshypothesen diejeni-
ge, mit deren Hilfe man in der Erklärung und
Ergründung der Naturdinge und Naturgescheh-
nisse bisher am wejtesten zu kommen vermochte,
diejenige, die den Anforderungen strenger Wis-
senschaft gemäss, nach dem übereinstimmenden
Urieile fast sämtlicher wissenschaftlicher Auto-
ritäten, als die brauchbarste angesehen werden
muss. Trotzdem weist die Atom-Theorie man-
che Lücken und Unvollkommenheiten auf, trotz-
dein bleibt auch nach ihrer Voraussetzung noch
manches Elementarwichtige und Erkennenswerte
in Unklarheit und tiefem Dunkel, da die Grund-
lagen der Atomlehre sdbst noch eine Fülle von
Rätseln und Geheimnissen enthalten.

Wenn es nun als eines der vornehmsten und
höchsten Probleme der Naturerforschung gilt,
die Aiomhypothese durch eine andere Wirklich-
keitshypothese zu ersetzen, welche, ohne den
Boden der Empirie und sinnlicher Tatsächlich-
keit zu verlassen, alles Das aufklärt und ver-
ständlich macht, was der „Atomismus“ in ewi-
gem Dunkel lässt, lassen muss, — dann glaube
ich mit diesem Werke, dem Resultate mehr als
zehnjähriger Gedankenarbeit, dieses Problem ge-
löst zu haben.

Hierdurch sei die Bedeutung und Wichtig-
keit meiner Ausfiihrungen gekennzeichnet.

I

Wenn ein Feuerpünktchen schnell im Krei-
se bewegt wird, so erblickt man bekanntlich
eine zusammenhängende lückenlose Feuerkreis-
linie. Wird nun dieser Feuerkreis gleichzeitig
mit entsprechender Geschwindigkeit um seinen
Durchmesser als Achse gedreht, so erhält man
vollkommen das Bild einer feurigen Kugel.

Was ist da vorgegangen?

Antwort: Ein Punkt, das heisst in diesem
Falle ein punktueller Lichteindruck, von intensi-
ver nicht extensiver Grösse, hat sich durch Be-
wegung fiir unsere Sehwahrnehmung in die Kör-
pergestalt einer feurigen Kugel verwandelt, die
sich, wenigstens für unseren Gesichtssinn, von
einer wirklich stofflichen leuchtenden Kugel —
efwa einer glühenden Metallkugel — in nichts
unterscheidet.

So könnte man sich vorstellen, dass bei
enorm gesteigerter Geschwindigkeit aus einem
einzigen punktuellen Elemente von zunächst rein
intensiver Grösse eine ungeheure Anzahl ver-
schiedenartigster Körpergebilde fiir unser Auge,
für unsere Gesichtswahrnehmung (und zwar als
scheinbar gleichzeitig vorhanden) entstehen könn-
te. Wollte man diese Vorstellungsmöglichkeit auf
die ganze uns umgebende Welt anwenden, so-
weit sie überhaupt für das Auge existiert, so
käme man zu dem Resultate, dass die ganze
grossartige Welt, in der wir leben, insofern wir
ihr nur als sehende Wesen gegenüberstehen, tat-
sächiich nichts anderes zu sein brauchte, als ein

einziges winzigstes Lichtpünktchen, das sich mit
unermesslicher Geschwindigkeit bewegt und die
zahllos verzweigten uncl verschlungenen Linien-
und Flächenwege aller sichtbaren Formengebilde
ununterbrochen durchläuft. Alle linien- und flä-
chenhaften Formenunterschiede könnten dabei
zwanglos etwa auf Richtungsdifferenzen, alle Far-
ben- und Helligkeitsunterschiede etwa auf Ge-
schwindigkeitsdifSerenzen zurückgeführt werden.

II

Durch dieses Experiment des sich bewe-
gungsweise in eine Feuerkugel verwandelnden
Lichtpünktchens ist jedenfalls soviel bewiesen,
dass in der Sphäre unseres Gesichtsinnes das
Wahrnehmungsbild eines festen und ruhenden Kör-
pers aus reinen Bewegungsvorgängen resultieren,
das heisst Substanzvorstellung direkt aus Bewe-
gungswahrnehmung erzeugt werden kann.

m

Dagegen ist die erkenntnis-theoretisch funda-
mental-wichtige Tatsache zu konstatieren, dass es
umgekehrt zu den Dingen der Unmöglichkeit ge-
hört, Bewegungsvorstellung aus reiner Substanz-
vorstellung zu erzeugen.

Beweis: Der fliegende Pfeil des Zeno.

IV

Die sinnliche Wirklichkeit, das heisst die
Welt der Materie und der materiellen Gescheh-
nisse, ist ein Produkt unserer gesamten Sinnes-
wahrnehmung, ist das Resultat, das letzte Fazit
der Tätigkeit unserer sämtlichen Sinne.

Es wurcle festgestellt, dass die Wirklichkeit,
wie sie für unser Auge wahrnehmbar ist, dass
das Weltbild unseres Gesichtsinnes sehr gut als
entstanden aus Bewegung eines punktuellen Ele-
mentes gedacht werden kann, und zwar aus Be-
wegung von unvermesslicher Komplikation und
Geschwindigkeit.

Ebenso wissen wir, dass die Tatsachen un-
seres Gehörs-, Geruchs- und Geschmacksinnes
aus kleinsten und feinsten Bewegungsvorgängen
resultieren. Ja, man hat sogar tiefbedeutsame
Bewegungsbeziehungen zwischen einzelnen Haupt-
sinnesgebieten nachgewiesen indem man konsta-
tiert hat, dass zum Beispiel die Bewegungsfor-
men, die der Licht- und Schallwahrnehmung zu
Grunde liegen, sich nur durch die Grösse ihrer
Geschwindigkeit von einander unterscheiden.

Ist es demnach nicht vorstellbar, dass die
Wahrnehmung und Erkenntnis der stofflichen
harten Körperlichkeit, wie sie uns durch den
Gefiihls- und Tastsinn vermittelt wird, ebenfalls
etwa auf verborgene, ungeheure Bewegungsfor-
men eines einzigen punktuellen Elementes oder
auf andere grandiose, uns unbekannte Bewe-
gungsmöglichkeiten sich gründet?

Und könnte man dann nicht auch hier sich
denken, dass alle Unterschiede der Form, der
Dichtigkeit, der Schwere, der stofflichen Quali-
tät etcetera in kompliziertesten, noch unerforsch-
ten Richtungs- uncl Geschwincligkeitsdifferenzen
oder vielleicht sogar in noch anderen geheim-
nisvollen Bewegungsdingen ihre Ursache haben?

V

Die Substanzsynthese oder vielmehr Sub-
stanzbildsynthese aus Bewegungsvorgängen, wie
sie an dem Beispiel des rotierenden Feuerpünkt-
chens gezeigt worden ist, muss ergänzt werden
durch eine Substanzanalyse des rotierenden Feu-
erpünktchens oder Lichtpünktchens selbst, das
zunächst doch noch, zwar als nur punktuelles,
aber immerhin substantielles Element des ganzen
Bewegungsvorganges erscheint. Da finden wir
mit Hilfe der Lehre vom Licht, dass sich das
scheinbar einheitliche und substanzielle Bild des
Feuerpünktchens bei genauerer Betrachtung und
Forschung auflöst in eine Fülle feinster und

kleinster Bewegungisformen (Schwingungen) . Woll-
te man dann weiter den diesen feinsten Bewe-
gungsformen wieder zu Grunde liegenden schein-'
bar subsitantiellen Elementen nachforschen, so
wiirde man wiederum auf Bewegung stossen.

Hierbei ist es von symptomatischer Bedeu-
tung ersten Ranges, dass, je weiter man in die-
sem Prozesse der Substanzanalyse fortschreitet,
man zu immer unsubstanzielleren Formen schein-
barer Substanzelemente gelangt, das heisst zu
Substanzelementen, die immer mehr von dem
eigentlichen Kern und Grundcharakter der Sub-
stanz einbüssen, sich immer weiter von dem Re-
alitätsbilde der Substanz entfernen, immer mehr
an Dichtigkeit, Schwere, Qualitäts- und Formen-
reichtum etcetera verlieren (Atom), dass man
andererseits dagegen immer zahlreichere und kom-
pliziertere Bewegungsformen und Bewegungs-
möglichkeiten entdeckt. Das heisst kurz und grob
ausgedrückt: dass die Substanz in dem Masse
abnimmt, in welchem die Bewegung wächst.

VI

Es ist charakteristisch, dass die exakteste Er-
forschung der Körperlichkeit, der materiellen
Wirklichkeitswelt, wie sie von Physik und Na-
turwissenschaft betrieben wird, ihre Zuflücht
schliesslich zu der Hypothese des „Atomismus“
nehmen musste, um die natürlichen Erscheinun-
gen und Geschehnisse um das ganze „Sein“ und
„Werden“ der sinnlichen Welt etwas befrie-
digend erklären und interpretieren zu können.
Der Atomismus erblickt bekanntlich die unterste
und letzte Wirklichkeitstatsache in dem „Atom“
oder, besser gesagt, in der Bewegung und den
Bewegungsursachen (Kräften) des Atoms, das
heisst des letzten, dünnsten Destillates des Sub-
stanzbegriffes. Das Atom musste aber, wollte
man zu einer dem strengen wissenschaftlichen
Gewissen genügenden und glaubhaften Naturer-
klärung kommen, alle wesentlichen Eigenschaf-
ten der Materie, der sinnlichen Substanz ent-
kleidet werclen — es wird „punktuell-unteilbar“,
also auch „ausdehnungslos“ gedacht — bis auf
die Eigenschaft der Bewegung. Diese konnte
ma i ihm nicht nur nicht nehmen, sondem sie
musste sogar und muss als wichtigste Geltung
haben wegen der Funktion, die dem Atom
gleichsam als dem „Weltelement“ zufällt. ja
man war sogar genötigt, das Atom nicht nur
im höchsten Grade „bewegt“ oder „bewegüch“
sich vorzustellen, sondern in das „Atom“ selbst
hinein noch Bewegungswerte (Kräfte, Atfraktions-
und Repulsionskraft) Bewegungsursachen zu le-
gen, die demnach als primae causae, als letzte
vorstellbare Ursachen aller körperlichen Dinge
und alles sinnlichen Weltgeschehens zu betrach-
ten wären.

VII

Bei alledem ist nicht zu vergessen, dass der
Atomismus im „Atom“ immer noch die „Sub-
stanz.“ anerkannt und geschätzt wissen will und
zwar als Realitätswert ersten Grades, von dem
die „Bewegung“ als solche gleichsam nur einen
gewissen „Zustand“ bezeichnet, im Vergleich mit
dem die Bewegung nur einen Realitätswert zwei-
ten Grades besitzt. Das „Atom“ gilt als ele-
mentarste Substanzrealitätsform, gleichsam als
Träger und Ausgangspunkt aller Bewegung, von
ihin als unveränderlichen Realitätspol aus wird
in unserer Schätzung die Bewegung als etwas
„Hinzukommendes“, mehr „Zufälliges“ visiert,
und so das „Atom“, das heisst die Substanz-
vorstellung, an die wichtigste Stelle in unserer
Erkenntniswertung gerückt.

Die Autorität der Substanz ist noch einmal
gerettet! — Die grosse Bewegungserkenntnis der
fortgeschrittensten Wissenschaft macht Halt —

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