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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 59 (April 1911)
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Döblin, Alfred: Mehr Kinder: Entgegnung auf die Antwort von Eduard Bernstein
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Peledan, Sar: Gedanken
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Hiller, Kurt: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie und seine Überwindung durch die Restitution des Willens, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0024

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Mehr Kinder

Entgegnung auf die Antwort von
Eduard Bernstein

Von Dr. med. Alfred Döblin

Lieber Walden I Sie müssen mich meinen Ärger
über diesen Bernstein expektorieren lassen. Was dieser
Mann in lhrer letzten Nummer produzierte, ist einer-
seits so instinktlos und andrerseits mit solcher pro-
fessoralen Arroganz vorgetragen, dass ich ihm seinen
Klaps auf die Finger mit einem herzlichen Hieb unter
das Kinn und vergnüglichen Stoss gegen den Magen
beantworten muss. Muss, muss; Sie werden mich nicht
in Hemmung und Verschleimung verrecken lassen

Eduard Bernstein lispeit, er könne in § 6

und § 8 „nichts entdecken, was als Ermächtigung zum
Eriass eines Verbots jeder Konzeptionsverhütung aus-
gelegt werden kann“. Ne, ne, wie sollte man auch
sowas entdecken! Die Paragraphen sind ja ausdrück-
lich zum Schutz der Qummihändler verfasst. Die Para-
graphen wollen ja ausdrücklich in ihren Motiven dem
grässlichen Ueberfluss an Qeburten steuern und tun
das so gut. dass jede andere Auffassung nur eine un-
berechtigte Verdächtigung eines in seiner Qrundidee
durchaus zu billigenden Gesetzentwurfes bedeutet. Herr
Bernstein, Sie müssten sich einmal in das Haus Kröcher
wählen lassen. Wenn der Mann Ihnen auf den Fuss
tritt, werden Sie ihn um Verzeihung bitten, wenn er
Sie eine traurige Jungfer nennt und hinaussetzt, werden
Sie seine Sanftmut bewundern, und wenn ich Ihnen
jetzt empfehle, sich Ihr Schulgeld wiedergeben zu lassen,
werden Sie sicher staunen, wie sehr ich mich be-
herrsche.

Diese männliche Gouvernante, lieber Walden, will
uns belehren, dass das Recht der Konzeptionsverhinde-
rung nicht bestritten wird, nur um „die Frage der
Freigabe des Verkaufs“ handle es sich. Mache er uns
das vor I Wie sieht das aus; — man kann die Kon-
zeption verhindern aus dem „Recht der Persönlichkeit“,
aber man kriegt die Mittel aus dem Recht der § 6
und § 8 niclit zu kaufen? Geben Sie einem Frosch
die Erlaubnis, Luft ungehindert zu schnappen, und
setzen Sie ihn ins Vakuum! Qeben Sie, Sie Volks-
vertreter, Sie Vertreter der ärmsten Bevölkerung, ihren
Wähiern freiestes Recht auf Luft und Brot, und ver-
teuern Sie das Brot bis in die Puppen, dass die Bäcker
nur so aufgehen wie ein Kuchenteig; lassen Sie sich
rnai dänn von Ihren bedauernswerten Wählern das to-
bende Kapitel lesen von der überfeinen Logik des
Tüftlers und dem Hunger im Magen, der alle Logik
übertönt!

Was dieser Herr blind ist, wie er offenbar jeder
eigenen Erfahrung über die Dinge in den niederen, von
ihm selbstvertretenen Kreisen entbehrt! Wie er die
Banalität vorbringen kann, dass „wenige Kinder ge-
bären noch nicht schlechthin heisst, lebenskräftigere
gebären“; wie er ganz nebenbei sagt, dass „die Frage
der Beschränkung der Kinderzahl im wesentlichen unter
dem Gesichtspunkte der möglichen Fürsorge für die je-
weilig schon geborenen Kinder zu werten“ sei, und
dann dicht hintereinander stottert, dass die meisten
Eltern nicht die Qualität des Nachwuchses haben wollen,
sondern dass sie ihn nur standesgemäss aufziehen
wolien; — als ob das für unsere Frage nicht völlig
identisch wäre! Ihm ist aber nicht zu helfen, dem
Herrn Bernstein, dem Eiertänzer, dem Pseudologiker
und Sophisten. Er ist gar kein Logiker; er ist ein
unklarer Kopf.

Die einfachste Logik, die über allen intellektuellen
Funktionen steht, hätte ihm sagen müssen: erst die
Taktik, dann die Spiegelfechterei. Erst helfen, sich
wehren und fechten, dann spintisieren und Vor-
würfe.

Herzlichen Gruss, lieber Waldenl

Qedanken

Von Sar Peladan

Einst war die Religion ein Gebiet, wo alle das
heilige Abendmahl nahmen. Heute gibt es keine Ge-

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samtheits-Sittlichkeit. Die Nachmittagsgottesdienste sind
Kurse ä pari, und das Einanderdurchdringen der Rassen
durch den ungeheuer erleichterten Verkehr führt eine
niederschmetternde Einförmigkeit herauf. Ausser dem
Haupt der Kurden und dem Fez ähnelt die Strasse
von Pera einer von Paris, ein wohlhabender mischt
sich mit einem Bourgeois des Pariser „Marais“. Die
abendländische Seele, vorn Bosporus bis Kap Finisterre,
von den Fjorden zu den Balearen feilt sich nicht mehr
durch Rasse sondern durch Kultur. Es gibt die, die
ihre „Menschheit“ schufen und die — Anderen.

Der schwere, langsame, fleissige Humanist am
Ufer der Spree, der oberflächlich glänzende am Arno,
der rein lebhafte jenseits der Pyrenäen, der Individua-
list in London, haben den gleichen Boden des Stu-
diums und der Prinzipien Die Leute zu Pferd, zu
Rad stellen sich überall als die gleichen dar Die
ethnischen Unterschiede verschwinden, man kann die
Wesen nur einteilen nach ihrem Instinkt und ihrer
sittlichen Lebensart. Marschall Mac - Mahon und Abt
Lacuria sind Zeitgenossen von gleicher Sprache, De-
lacroix und Herr von Neuville vom gleichen Handwerk,
und doch unterscheiden sich diese Männer von ein-
ander mehr, als Iberer vom Eskimo, der Irone vom
Feuerländer. Es gibt keine Rassen mehr, aber es gibt
Kasten. Die Nationalitäten sind zu Ende, die Brüder-
schaften nach Tüchtigkeit ersetzen sie.

* *

*

Auf dieser Höhe, wohin ich steige, wo sich der
Horizont des Christen panoramisch entschleiert, werdet
ihr das Gemälde des Menschheits - Dramas selbst auf-
decken. Mit den Wogen des Staubes stagniert ein
Ozean des Vergessens. Aus den Vaterländern, von den
Vaterlandsfremden Kriegswagen und Fortschritts - Ma-
schinen, die mehr Nichts als die Atome aus Nichts
sind, mehr Nichts als Staub im Vergessen. Die heilige
Rose allein erblühte lebendig, sie schliesst ungeheuer
mit den frommen Kelchwindungen inne und küsst das
Erlöser-Kreuz.

* *

*

O, du Anderer den ich schon beobachtete
der du Magier sein wirst, heil, heil teure Seele
die du pochtest beim Schwung der gebenedeiten

Glocken

Seele der Süssigkeit, der Kraft

Seele des Heiligen, des Künstlers

Zukünftig Allerheiligstes der göttlichen Barmherzig-

keit

du, den die Leidenschaften auf immer verlassen

werden

hei! heil edler Geist, der du das anbetungswerte
Lichtweiss des Ideais durch meine bleiche Sprache

aufstrahlen erkanntest,
Geist der Zartheit, des Friedens
Geist des Ruhrns, verliebten Geheimnisses
Zukünftiger Scheinwerfer des Absoluten,
du, der bald den goldenen Kreis krönen wird
mit der vollkommenen Wahrheit, heil
heil, zu den Prüfungen, zu den Werken, zur nosis
nun öffnete ich dir den Tempel gleich Gurnemanz
ich kann nichts mehr.

Dereinst, nach dem Leiden, dem Weinen, dem

Schreien

wirst du tragen das schwarz — und weisse Kreuz
das die heilige Rose gestirnt.

Deutsch von Adolf Knoblauch

Der Relativismus in der
Rechtsphilosophie und
seine Überwindungdurch
dieRestitution desWillens

Von Kurt Hiller

G e 1 e i t - W o r t:

Man macht sich bei den Fachzöpfen unbeliebt,
wenn man ihre vorgeschnebenen Fragestellungen be-
anstandet; wenn man Vciknupfungen herstellt zwischen
ihrer Spezialproblematik und dem, was erlebnishaft

durch den Geist geistiger Menschen zieht; wenn mart
in deutscher Sprache redet.

Man macht sich bei den Chaotikern unbeliebt, wenn
man, unter Ausschaltung jeglicher Mystagogie, Denk-
probleme analytisch, logisch, pedantisch anfasst un«
durchaus dem Verstande gibt, was des Verstandes ist.

Man macht sich bei den Aestheten unbeliebt, wenn
man kundtut, dass man rioch andere Phänomene auf
dieser Kugel sichtet als die Kunst, und wenn man es
wagt, sich zur Welt gelegentlich nicht wie zur einer
Geschmackssache zu stellen.

Man macht sich bei den Gründlichen unbeliebt,
wenn man eine Frage in einigen Seiten, statt in einigen
Schinken, erledigt; und bei den Dandys, wenn man sich
iiberhaupt auf Fragen einlässt. Kurzum: man wird
immer auf zwei Fronten bekämpft: von den Kaffern
als Dilettant, von den Dilettanten als Kaffer ver-
schrieen. So setze ich mich denn getrost zwischen
zwei Stühle und; harre der Giftknirpse, die da kommen
werden.

K. H.

Rechtsphilosophie, sofern wir alles empirische For-
schen und alle auf gelieferten Dogmen sich aufbauende
Erkenntnis aus. dem Begriff der Philosophie ausschalten,
kahn keine andere Aufgabe haben als die: gegebenes
Recht zu bewerten. Rechtsphilosophie ist weiter
nichts als materiale Rechtskriti k, samt ailen
formalen Vorfragen. Der Gemeinplatz, Rechts-
phiiosophie zerfalle in zwei grosse Gebiete, Rechts-
wesenslehre und Rechtswertlehre, erweist sich, wie
die Mehrzahl seinesgleichen, als irrig; denn über das
„Wesen“ des Rechts kann man sich lediglich durch
geschichtliche und vergleichende Studien, also empirico
modo, unterrichten; es sei denn, dass man sich auf
mystische Spekulationen von nur privater Giltigkeit ein-
zulassen beliebt. Kenntnis vom „Wesen“ des Rechts
gewinnt man, auf abstraktive Methode, in der Wissen-
schaft „allgemeine Rechtslehre“ *), und wenn man nicht
in den Fehler des (sonst sehr ehrwürdigen) Naturrechts
verfallen will, dann hat man bei diesem Geschäft das
Phiiosophieren hübsch beiseite zu lassen Der hohe
Misskredit, dessen sich rechtsphilosophische Bestrebungen
in unserem technologisch-ökonomisch interessierten Zeit-
alter gemeinhin erfreuen, rührt sicherlich zum grossen
Teil her von jener trotz Savigny bis heute nicht aus-
gerotteten Unart, über Dinge, denen nur eine nüchterne
Tatsachenforschung angemessen ist, trübe Fluten tief-
sinnigen Geredes zu ergiessen und das Ganze dann,
mit dem Gestus der lmportanz, als Philosophie auszu-
geben. Gerade wer es, aus Liebe zur Philosophie und
und zur Politik, zur geistigen und zur staatlichen Be-
weglichkeit, fiir unumgänglich erforderlich häit, gegen
keine Schule mit so wütender Wucht und Dialektik
zu kämpfen wie gegen die historische, gerade der wird
gut daran tun, die Fehler sorgsam zu vermeiden, die
vom Rationalismus des Settecento begangen worden
sind, und wird der historischen Schule mit Nachdruck
d a Recht geben müssen, wo sie nun einmal Recht h a t.

Die Philosophie mithin ist, innerhalb der gesamten
juridischen Problematik, nur bei der Wertung am
Platze Hier freilich wird sie nicht bloss geduldet etwa,
sondern gefordert; und kann zeigen, vvie sehr sie
— trotz den Vorurteilen eines Maschinen- und Banausen-
zeitalters — mit den Bedürfnissen des pulsierenden
Lebens verknüpft ist. Freiiich zählt sie zu ihren Adepten
manchen, der stolz ist auf die Mängel, die ihre Feinde
ihr vorwerfen, und der, gebläht von esoterischem Hoch-
mut, ihr das Hineingreifen ins Konkrete und in die
flirrende Buntheit des Tages durchaus untersagen will:
es ist eine ebenso fashionable wie unbegründete An-
sicht, dass die Philosophie sich nicht mit aktuellen
Fragen der Legislative befassen solle. Diese Mode-
meinung, ein rechtes Decadence-Symptom, nämlich die
Pose missmutig gewordener Begriffsspalter, ist
eminent lebensfeindlich und imgrunde auch antiphilo-
sophisch; denn begibt sich die Philosophie ihres uni-
versalen, überfachlichen Charakters, ihres Papsttums über
alle Geistigkeiten, macht sie sich selber zur „Dis-
ziplin“, so kann sie nicht mehr verlangen, von anderen
Disziplinen gehört zu werden; versagt sie sich den
Zwecken des Lebens, so verdient sie überhaupt nicht,
dass man sie ernstnehme — am allerwenigsten so-
lange sie sich selber sehr ernst nimmt, solange

') Vergleichen Sie: Kurt Hiller: „Experimentaljuris-
prudenz“ (H. Gross’ Archiv für Kriminalanthropologie
und Kriminalistik, Band 37), Seite 310
 
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