sie sich hoch erhaben vorkommt über den „Lärm des
Tages“ und die „Genieschwünge der Utopisten“, so-
lange sie das beschauliche Dasein eines bebrillten
Snob fiihrt und vor Wiirde behutsam ganz fett wird. . .
Wenn Platon in seiner Politeia den Ammen anempfiehlt,
mit den ßabys nie stille zu stehen, sie vielmehr dauernd
auf aen Armen zu schaukeln, und wenn sich G. W. F.
Hegei deswegen über Platon lustig macht, so bin ich
keinen Augenblick dariiber im Zweifel, wer von den
beiden der bessere Philosoph sei.
Darin allerdings muss man den Verfechtern der
Vornehmheit in der Philosophie vollauf beistimmen,
dass ein willkiirliches Zensurenerteilen und Herum-
kritteln an den rechtlich-politischen Gegebenheiten (wie
es in der Tagespresse und in den Parlamenten meist
geiibt wird) zunächst noch bei weitem keine Philosophie
ist. Erst dadurch in der Tat wird Kritisieren von
Rechtsbestimmungen zur „Rechtskritik“ (das heisst zur
Philosophie), dass die spezielie Beurteilung sich auf-
baut auf generellen Prinzipien. Damit dies aber mög-
lich werde, muss erst die Vorfrage gelöst sein, welches
jene generellen Prinzipien sind und auf welchem Wege
man sie findet. Es ist beschränkt, in der Diskussion
dieser Vorfrage die alleinige Aufgabe der Rechts-
kritik zu erblicken (wie gerade die klügsten Köpfe in
der jungen kritischen Schule es leider vielfach tun); aber
die erste Aufgabe der Rechtskritik ist die Methodo-
logie allerdings.
Hier nun begegnen dem Forschenden sogleich un-
überwindliche Schwierigkeiten. Es ist bisher noch
keinem lebenden Wesen gelungen, oberste Wertprin-
zipien, Soll-Sätze, Kriterien des Richtigen zu finden,
deren Notwendigkeit und Allgemeingiltigkeit nachweis-
bar wäre. Alle Versuche, dieses Kardinalproblem
(übrigens nicht bloss .der kritischen Jurisprudenz, son-
dern auch der Ethik) zu bewältigen, sind fehlgeschlagen
Da ist zunächst der von allerhand gedankenlosen
Vielwissern täglich verübte, durch Franz von Liszt’s
geistreiche, aber unglückliche Theorie gestützte
Positivismus, der das Seinsollende aus dem Seien-
den glaubt ableiten zu können und, als „Synthese aus
Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung“ '), vermittelst cau-
saler Untersuchung der Gegenwart Prognosen für die
Zukunft aufstellt, denen er normativen Charakter vin-
diziert. Hierbei wird der logische Schnitzer begangen:
die wah rsc h e i n I i ch e Entwicklung unter allen Um-
ständen mit der wünschenswerten Entwicklung zu
identifizieren; die simple Veränderung, kraft einer
völlig unbegründbaren Teleologik, durch geographische
Quantität zuin Fortschritt werden zu lassen; in den
empirischen Teig überempirische Rosinen einzu-
schmuggeln. Dieser Schnitzer ist weit ärger als der
Optimismus, mit dem man sich einredet, aus dem be-
ängstigenden Wirrwarr der gegenwärtigen Kultur, aus
dem irritierenden Bellum omnium contra omnes, das,
auf dem Welttheater von heute, Philosophien, Religionen,
politische Systeme vor den Augen aller Geistigen auf-
führen, überhaupt wissenschaftlich sichere Prophezei-
ungen treffen zu können. Diesen Optimismus mag
man noch hingehn lassen; schärfste Zurückweisung
jedoch, seitens aller derer die denken können, verdient
das Beginnen, Wert und Wirklichkeit „synthetisch“ mit-
einander zu vermengen — zwei Kategorien, welche, nach
Simmel a), einander so fremd gind wie bei Spinoza das
Denken und die Ausdehnung, die sich nirgends berühren,
„weil sie die Begriffe der Ding enach völlig Verschie-
denem fragen“. * * * * * * 8 * *)
Es ist erstaunlich, dass eine Richtung, deren
Verkehrtheit so auf der Hand liegt, derartig viele An-
hänger zählt. Seine neuesten Triumphe feiert der
Positivismus ja in den wissenschaftlichen Präliminar-
’) Vergleichen Sie: v. Liszt: Strafrechtliche Auf-
sätze und Vorträge II, 422; Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft XXVI, 553; yergleichende Dar-
stellung des deutschen und ausländischen Strafrechts,
besonderer Teil, Band V, Seite 4 6
a) Philosophie des Geldes, Seite 7
8) Vergleichen Sie gegen den Positivismus (oder
Pseudo-Empirismus):
Radbruch, Aschaffenburgs Monatsschrift für
Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform
II, 423
Kantorowicz, Aschaffenburgs Monatsschrift
IV, 92 ff
R. Wassermann, „Begriff und Grenzen
der Kriminalstatistik“, 1909, § 2
S o m 1 ö, Archiv für Rechts- und Wirtschafts-
philosophie III, 510 ff
H i 11 e r, Aschaffenburgs Monatsschrift VI,
624 ff
arbeiten zum Vorentwurf für ein Deutsches Strafgesetz-
buch. Diese Arbeiten bestehen bekanntlich in einer
zahllose Bände umfassenden „Vergleichenden Darstellung
des deutschen und ausländischen Strafrechts“. Ich
bin Ketzer genug, die Ströme Schweisses, die sitzsame
Gelehrte bei dieser Gelegenheit vergossen haben, für
annähernd umsonst vergossen zu halten. Denn über
die Richtigkeit der von einem idealen Strafrecht anzu-
strebenden Zwecke kann die Vergleichung nicht das
mindeste lehren; ob Fruchtabtreibung beispielsweise
strafwürdig sei, geht nicht daraus hervor, dass sie in
Oesterreich, Luxemburg, Siam oder Venezuela tatsäch-
lich bestraft wird. Ueber die Tauglichkeit der Mitte
aber zu (unprobiematisierten) Zwecken kann man sich
doch nur ein Urteil bilden, wenn man die Erfolge
der in den verschiedenen Staaten angewandten Mittel
miteinander vergleicht (Kriminalstatistik), aber nicht
durch bruten Vergleich der die Mittel angebenden
Normen. Von Kriminalstatistik jedoch bemerkt man
in dem Werke wenig. Somit ist sein einziger Wert
der: dass eine Reihe von Fachleuten sich zu den wichtig-
sten de iege ferenda-Problemen ausgesprochen haben. Dies
aber war durchaus auch ohne den „vergleichenden“
Apparat möglich. Der Positivismus ist zeitraubend;
weiter nichts; sowohl für die, die ihn ausüben, als
auch für die, die seine Produkte lesen müssen Er
vermehrt (überflüssigerweise) die Kenntnisse, und be-
reichert nicht die Erkenntnis. Es wird Zeit, dass ein
homerisches Geiächter ihn hinwegfegt.
Unzureichend für dle Beantwortung der Wert-Frage
ist auch der U t i 1 i t a r i s m u s. Auf die Zweck-
haftigkeit alles Rechts hinzuweisen, war vielleicht zu
Iherings Zeiten verdienstvoll; heute ist das selbstver-
ständlich und platt (in keinem Punkte hat Joseph
Kohler mehr Recht als in diesem) — wiewohl nicht
geleugnet werden soll, dass es auch gegenwärtig noch
Esel gibt, die bestreiten, dass das Recht einen Zweck
habe, und offenbar meinen, es sei zum Vergnügen
oder aus Mystik da. Jedenfalls bedeutet „nützlich“
überall „nützlich irgendwozu“; und wenn uns
der Utilitarismus schon allenfalls die richtigen M i 11 e 1
zu vorausgesetzten Zwecken anzugeben vermag, so
lässt er uns doch im Stich, sobald wir ihn nach der
Richtigkeit der Z w e c k e fragen; es sei denn, dass
er diese Zwecke wiederum als Mittel zu höheren
Zwecken nachweist; dann aber ’oleibt der Wert dieser
höheren Zwecke eben problematisch! Der Utilitaris-
mus eröffnet uns lediglich, dass überall das Nützliche
geschehen soll; w a s aber nützlich sei — das ver-
schweigt er. Er ist keine f a 1 s c h e Werttheorie, in-
clessen eine unzulängliche.
Völlig verfehlt sind die Versuche der Material-
Ethiker, Begriffe wie Glück, Lust, Freiheit,
M a c h t, K u 11 u r in die Formel des obersten
Wertes einzusetzen. Das Recht ist eine soziologische
Erscheinung; diese Begriffe aber sind aufs Soziolo-
gische garnicht anzuwenden, denn sie sagen nichts aus
über den typischen Fall des Rechts, den der K o 1 -
I i s i o n. Im übrigen bezeichnet jeder dieser Be-
griffe individuell verschiedene Zustände (Meier fühlt
sich unter anderen Bedingungen „glücklich“ alsMüIler;
die „Freiheit“, die i c h meine, ist nicht die Freiheit, die
d u meinst), und selbst über die formale B e d e u -
tung der Begriffe ist man sich keineswegs einig:
Lorenz Brütt zum Beispiel, welcher die „Kuitur“ in
das Zentrum seiner politischen Philosophie gestellt
hat, hat gewiss etwas ganz anderes darunter ver-
standen, als Simmel oder Breysig darunter verstehen. J)
Vor allen Dingen jedoch sind diese Werte u n b e -
gründbar; so wenig ein Kenner der menschlichen
Seele ihre tatsächliche Wirksamkeit in
den Subjekten leugnen wird, so wenig wird der
Kritizist ihre Legitimiertheit zugestehen
können, als welche nur dann vorhanden wäre, wenn
sie sich aus jeweils übergeordneten, allgemeineren, dem
Begriff nach umfangreicheren Werten ableiten liessen,
Diese bedürften dann wieder der Legitimation aus
noch höheren: und der Regressus verliefe in infinitum.
Simmel, in seiner prachtvollen „Einleitung in die Moral-
wissenschaft“, schreibt: 3)
„Immer nur ein Inhalt des Sollens kann auf einen
andern zurückgeführt werden, aber an irgend einem
bleibt es schliesslich als an dem ursprünglichen haften,
von ihm entlehnen alle andern die Würde des Sollens,
ohne dass er selbst sie von einer andern Instanz her-
*) Ueber den Begriff der „Kultur“ vergleichen Sie: Hil-
ler, in der Wochenschrift „Der Sturm“, 1910, Num-
mern 24—26. — Gemeint ist übrigens Brütts Werk „Die
Kunst der Rechtsanwendung“, 1907, darin besonders § 8.
3) 1892, Band I, Seite 13—15
leitete. Identifizieren wir das Sollen mit irgend einem
Inhalt und sei es selbst nur der des kategorischen
Imperativs, so nimmt dieser an der ganzen Unbegründ-
barkeit teil, die dem Sollen selbst eigen ist. Wenn
der Metaphysiker eine letzte Substanz aufgefunden hat,
aus deren Wesen sich alle Erscheinungen des Kosmos
folgern lassen; wenn wir eine ursprünglichste Summe
der Kraft entdeckt haben, die die Quelle für alle auf-
zeigbaren Kraftwirkungen im Weltgeschehen bildet: so
können wir weder fragen, woraus sich das Wesen
jener Substanz erklären lässt, noch was die Ursache
dieser Kraft sei, ohne unsere eben gewonnene Er-
kenntnis selbst wieder in Frage zu stellen. Und ganz
ebenso können wir nicht fragen, woher der letzte
gesollte Inhalt, auf den wir kommen, sein Sollen be-
gründen könne. Auch operiert alle Zurückführung der
sittlichen Mannigfaltigkeit auf ein letztes Prinzip nicht
eigentiich mit dem Sollen; sie schiebt es vielmehr von
einem Inhalt auf den andern, indem sie nachweist,
dass die einzelne Pflicht ihr Sollen nicht in sich, son-
dern von jenem tiefsten zu Lehen trägt, zu dem sie
!m Verhältnis des Mittels steht. Nicht dass irgend
eine bestimmte Handlung, zum Beispiel Fürsorge für
die Familie, an sich Pflicht sei, beweist der monis-
tische Ethiker, zum Beispiei der Utilitarier; sondern
nur dies, dass jene Handlung das Glück der Gesamt-
heit steigern helfe und sein soll, weil diese Glücks-
steigerung sein soll; das Gesolltwerden dieser aber
lässt sich nirgendwoher Ieiten, sondern nur als Tat-
sache oder als Dogma aussprechen. Das Sollen be-
gleitet die ganze Reihe von Ursachen und Wirkungen,
die etwa von dem Geldverdienst für die Familie bis
zur Glückssteigerung für die Allgemeinheit oder zur
Erfüllung der kantischen Formel oder zur Realisierung
einer Herbartschen Idee führt, ohne in ihr selbst eine
Erklärung zu finden Jedes Glied vielmehr erklärt
sein Sollen aus dem GesoIItwerden des folgenden, und
wo wir an dasjenige kommen, welches das Sollen
nicht wieder von sich abwälzen, seine Dignität nicht
mehr von einem andern herleiten kann, da bricht die
Reihe ab und lässt es an diesem genau so unerklärt,
wie es an dem ersten warr das Letzte, das wir er-
klären können, ist das Vorletzte Die Hauptfrage,
weshalb denn die einzelne- Tat gesollt wird, ist auf
diese Weise nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben.
So schiebt jeder höhere mathfcmatische Satz die For-
derung, seine Wahrheit zu beweisen, auf einen vorher-
gehenden einfacheren, und dieser wieder weiter bis
zurück zu den Axiomen, von denen alle andern ihre
Wahrheit borgen und mit deren unbeweisbarer Gültig-
keit sie stehen und fallen. So kann auch das Recht
den Beweis für die Gerechtigkeit seiner höheren Be-
stimmungen nur so führen, dass es dieselben als
logi§che Folge gewisser letzter Prinzipien aufzeigt, die
einfach als Recht hingenommen, aber nicht bewiesen
werden können.“ J)
An dieser peinlichen Situation des normativen Nach-
denkens bewährt sich die erkenntnispsychologische Regel,
dass nicht bloss jede causale (genetische), sondern auch
jede teleologische (systematische) Betrachtung zu einem
unendlichen Regress führt. Für unsere Vernunft, wie
sie nun einmal organisiert ist, besteht nicht nur keine
„letzte Ursache“, sondern auch kein „letzter Grund“.
So wie jede Ursache nur als Wirkung einer früheren
Ursache angesehen werden kann, also auch eine „letzte“
nur als die Wirkung einer sozusagen „hinterletzten“,
gerade so kann auch jeder Grund nur als die Folge
eines logisch übergeordneten Grundes erscheinen. Wie
man der Behauptung von der „letzten“ Ursache
eines Seienden entgegentreten müsste mit der
skeptischen Frage: Wovon ist diese Ursache die
Wirkung? — entsprechend muss man jedweder Be-
hauptung vom „letzten“ Grunde eines Sein-
sollenden begegnen mit der Frage: Woraus ist
dieser Grund die Folgerung?
') Man gestatte mir bei dieser Gelegenheit eine
persönliche Bemerkung. Ich muss gegen den Vorwurf
protestieren, dass ich es liebte, längere Stellen aus
Autoren wörtlich zu übernehmen. Freilich liebe ich
das, und zwar aus gutem Grunde. Wozu veröffent-
lichen die grossen Denker ihre Wahrheiten, wenn nicht
der, der sie findet und begreift, sie weiterträgt? Und
in welcher Form kann man einen wertvollen Gedanken
wohl besser weitertragen als in der, die sein Vater ihm
gegeben hat? Nur Skribifaxe, die aller Originalität
bar sind, fühlen sich verpflichtet, um ja die Maske der
Originalität zu wahren, anstelle ehrlicherZitate selbständig
verballhornte „Darstellungen“ oder schiefe „Extrakte" zu
liefern. Ich für mein Teil muss es ablehnen, eine
Idee Simmels oder Nietzsches besser formulieren zu
wollen als Simmel oder Nietzsche es getan haben.
469
Tages“ und die „Genieschwünge der Utopisten“, so-
lange sie das beschauliche Dasein eines bebrillten
Snob fiihrt und vor Wiirde behutsam ganz fett wird. . .
Wenn Platon in seiner Politeia den Ammen anempfiehlt,
mit den ßabys nie stille zu stehen, sie vielmehr dauernd
auf aen Armen zu schaukeln, und wenn sich G. W. F.
Hegei deswegen über Platon lustig macht, so bin ich
keinen Augenblick dariiber im Zweifel, wer von den
beiden der bessere Philosoph sei.
Darin allerdings muss man den Verfechtern der
Vornehmheit in der Philosophie vollauf beistimmen,
dass ein willkiirliches Zensurenerteilen und Herum-
kritteln an den rechtlich-politischen Gegebenheiten (wie
es in der Tagespresse und in den Parlamenten meist
geiibt wird) zunächst noch bei weitem keine Philosophie
ist. Erst dadurch in der Tat wird Kritisieren von
Rechtsbestimmungen zur „Rechtskritik“ (das heisst zur
Philosophie), dass die spezielie Beurteilung sich auf-
baut auf generellen Prinzipien. Damit dies aber mög-
lich werde, muss erst die Vorfrage gelöst sein, welches
jene generellen Prinzipien sind und auf welchem Wege
man sie findet. Es ist beschränkt, in der Diskussion
dieser Vorfrage die alleinige Aufgabe der Rechts-
kritik zu erblicken (wie gerade die klügsten Köpfe in
der jungen kritischen Schule es leider vielfach tun); aber
die erste Aufgabe der Rechtskritik ist die Methodo-
logie allerdings.
Hier nun begegnen dem Forschenden sogleich un-
überwindliche Schwierigkeiten. Es ist bisher noch
keinem lebenden Wesen gelungen, oberste Wertprin-
zipien, Soll-Sätze, Kriterien des Richtigen zu finden,
deren Notwendigkeit und Allgemeingiltigkeit nachweis-
bar wäre. Alle Versuche, dieses Kardinalproblem
(übrigens nicht bloss .der kritischen Jurisprudenz, son-
dern auch der Ethik) zu bewältigen, sind fehlgeschlagen
Da ist zunächst der von allerhand gedankenlosen
Vielwissern täglich verübte, durch Franz von Liszt’s
geistreiche, aber unglückliche Theorie gestützte
Positivismus, der das Seinsollende aus dem Seien-
den glaubt ableiten zu können und, als „Synthese aus
Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung“ '), vermittelst cau-
saler Untersuchung der Gegenwart Prognosen für die
Zukunft aufstellt, denen er normativen Charakter vin-
diziert. Hierbei wird der logische Schnitzer begangen:
die wah rsc h e i n I i ch e Entwicklung unter allen Um-
ständen mit der wünschenswerten Entwicklung zu
identifizieren; die simple Veränderung, kraft einer
völlig unbegründbaren Teleologik, durch geographische
Quantität zuin Fortschritt werden zu lassen; in den
empirischen Teig überempirische Rosinen einzu-
schmuggeln. Dieser Schnitzer ist weit ärger als der
Optimismus, mit dem man sich einredet, aus dem be-
ängstigenden Wirrwarr der gegenwärtigen Kultur, aus
dem irritierenden Bellum omnium contra omnes, das,
auf dem Welttheater von heute, Philosophien, Religionen,
politische Systeme vor den Augen aller Geistigen auf-
führen, überhaupt wissenschaftlich sichere Prophezei-
ungen treffen zu können. Diesen Optimismus mag
man noch hingehn lassen; schärfste Zurückweisung
jedoch, seitens aller derer die denken können, verdient
das Beginnen, Wert und Wirklichkeit „synthetisch“ mit-
einander zu vermengen — zwei Kategorien, welche, nach
Simmel a), einander so fremd gind wie bei Spinoza das
Denken und die Ausdehnung, die sich nirgends berühren,
„weil sie die Begriffe der Ding enach völlig Verschie-
denem fragen“. * * * * * * 8 * *)
Es ist erstaunlich, dass eine Richtung, deren
Verkehrtheit so auf der Hand liegt, derartig viele An-
hänger zählt. Seine neuesten Triumphe feiert der
Positivismus ja in den wissenschaftlichen Präliminar-
’) Vergleichen Sie: v. Liszt: Strafrechtliche Auf-
sätze und Vorträge II, 422; Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft XXVI, 553; yergleichende Dar-
stellung des deutschen und ausländischen Strafrechts,
besonderer Teil, Band V, Seite 4 6
a) Philosophie des Geldes, Seite 7
8) Vergleichen Sie gegen den Positivismus (oder
Pseudo-Empirismus):
Radbruch, Aschaffenburgs Monatsschrift für
Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform
II, 423
Kantorowicz, Aschaffenburgs Monatsschrift
IV, 92 ff
R. Wassermann, „Begriff und Grenzen
der Kriminalstatistik“, 1909, § 2
S o m 1 ö, Archiv für Rechts- und Wirtschafts-
philosophie III, 510 ff
H i 11 e r, Aschaffenburgs Monatsschrift VI,
624 ff
arbeiten zum Vorentwurf für ein Deutsches Strafgesetz-
buch. Diese Arbeiten bestehen bekanntlich in einer
zahllose Bände umfassenden „Vergleichenden Darstellung
des deutschen und ausländischen Strafrechts“. Ich
bin Ketzer genug, die Ströme Schweisses, die sitzsame
Gelehrte bei dieser Gelegenheit vergossen haben, für
annähernd umsonst vergossen zu halten. Denn über
die Richtigkeit der von einem idealen Strafrecht anzu-
strebenden Zwecke kann die Vergleichung nicht das
mindeste lehren; ob Fruchtabtreibung beispielsweise
strafwürdig sei, geht nicht daraus hervor, dass sie in
Oesterreich, Luxemburg, Siam oder Venezuela tatsäch-
lich bestraft wird. Ueber die Tauglichkeit der Mitte
aber zu (unprobiematisierten) Zwecken kann man sich
doch nur ein Urteil bilden, wenn man die Erfolge
der in den verschiedenen Staaten angewandten Mittel
miteinander vergleicht (Kriminalstatistik), aber nicht
durch bruten Vergleich der die Mittel angebenden
Normen. Von Kriminalstatistik jedoch bemerkt man
in dem Werke wenig. Somit ist sein einziger Wert
der: dass eine Reihe von Fachleuten sich zu den wichtig-
sten de iege ferenda-Problemen ausgesprochen haben. Dies
aber war durchaus auch ohne den „vergleichenden“
Apparat möglich. Der Positivismus ist zeitraubend;
weiter nichts; sowohl für die, die ihn ausüben, als
auch für die, die seine Produkte lesen müssen Er
vermehrt (überflüssigerweise) die Kenntnisse, und be-
reichert nicht die Erkenntnis. Es wird Zeit, dass ein
homerisches Geiächter ihn hinwegfegt.
Unzureichend für dle Beantwortung der Wert-Frage
ist auch der U t i 1 i t a r i s m u s. Auf die Zweck-
haftigkeit alles Rechts hinzuweisen, war vielleicht zu
Iherings Zeiten verdienstvoll; heute ist das selbstver-
ständlich und platt (in keinem Punkte hat Joseph
Kohler mehr Recht als in diesem) — wiewohl nicht
geleugnet werden soll, dass es auch gegenwärtig noch
Esel gibt, die bestreiten, dass das Recht einen Zweck
habe, und offenbar meinen, es sei zum Vergnügen
oder aus Mystik da. Jedenfalls bedeutet „nützlich“
überall „nützlich irgendwozu“; und wenn uns
der Utilitarismus schon allenfalls die richtigen M i 11 e 1
zu vorausgesetzten Zwecken anzugeben vermag, so
lässt er uns doch im Stich, sobald wir ihn nach der
Richtigkeit der Z w e c k e fragen; es sei denn, dass
er diese Zwecke wiederum als Mittel zu höheren
Zwecken nachweist; dann aber ’oleibt der Wert dieser
höheren Zwecke eben problematisch! Der Utilitaris-
mus eröffnet uns lediglich, dass überall das Nützliche
geschehen soll; w a s aber nützlich sei — das ver-
schweigt er. Er ist keine f a 1 s c h e Werttheorie, in-
clessen eine unzulängliche.
Völlig verfehlt sind die Versuche der Material-
Ethiker, Begriffe wie Glück, Lust, Freiheit,
M a c h t, K u 11 u r in die Formel des obersten
Wertes einzusetzen. Das Recht ist eine soziologische
Erscheinung; diese Begriffe aber sind aufs Soziolo-
gische garnicht anzuwenden, denn sie sagen nichts aus
über den typischen Fall des Rechts, den der K o 1 -
I i s i o n. Im übrigen bezeichnet jeder dieser Be-
griffe individuell verschiedene Zustände (Meier fühlt
sich unter anderen Bedingungen „glücklich“ alsMüIler;
die „Freiheit“, die i c h meine, ist nicht die Freiheit, die
d u meinst), und selbst über die formale B e d e u -
tung der Begriffe ist man sich keineswegs einig:
Lorenz Brütt zum Beispiel, welcher die „Kuitur“ in
das Zentrum seiner politischen Philosophie gestellt
hat, hat gewiss etwas ganz anderes darunter ver-
standen, als Simmel oder Breysig darunter verstehen. J)
Vor allen Dingen jedoch sind diese Werte u n b e -
gründbar; so wenig ein Kenner der menschlichen
Seele ihre tatsächliche Wirksamkeit in
den Subjekten leugnen wird, so wenig wird der
Kritizist ihre Legitimiertheit zugestehen
können, als welche nur dann vorhanden wäre, wenn
sie sich aus jeweils übergeordneten, allgemeineren, dem
Begriff nach umfangreicheren Werten ableiten liessen,
Diese bedürften dann wieder der Legitimation aus
noch höheren: und der Regressus verliefe in infinitum.
Simmel, in seiner prachtvollen „Einleitung in die Moral-
wissenschaft“, schreibt: 3)
„Immer nur ein Inhalt des Sollens kann auf einen
andern zurückgeführt werden, aber an irgend einem
bleibt es schliesslich als an dem ursprünglichen haften,
von ihm entlehnen alle andern die Würde des Sollens,
ohne dass er selbst sie von einer andern Instanz her-
*) Ueber den Begriff der „Kultur“ vergleichen Sie: Hil-
ler, in der Wochenschrift „Der Sturm“, 1910, Num-
mern 24—26. — Gemeint ist übrigens Brütts Werk „Die
Kunst der Rechtsanwendung“, 1907, darin besonders § 8.
3) 1892, Band I, Seite 13—15
leitete. Identifizieren wir das Sollen mit irgend einem
Inhalt und sei es selbst nur der des kategorischen
Imperativs, so nimmt dieser an der ganzen Unbegründ-
barkeit teil, die dem Sollen selbst eigen ist. Wenn
der Metaphysiker eine letzte Substanz aufgefunden hat,
aus deren Wesen sich alle Erscheinungen des Kosmos
folgern lassen; wenn wir eine ursprünglichste Summe
der Kraft entdeckt haben, die die Quelle für alle auf-
zeigbaren Kraftwirkungen im Weltgeschehen bildet: so
können wir weder fragen, woraus sich das Wesen
jener Substanz erklären lässt, noch was die Ursache
dieser Kraft sei, ohne unsere eben gewonnene Er-
kenntnis selbst wieder in Frage zu stellen. Und ganz
ebenso können wir nicht fragen, woher der letzte
gesollte Inhalt, auf den wir kommen, sein Sollen be-
gründen könne. Auch operiert alle Zurückführung der
sittlichen Mannigfaltigkeit auf ein letztes Prinzip nicht
eigentiich mit dem Sollen; sie schiebt es vielmehr von
einem Inhalt auf den andern, indem sie nachweist,
dass die einzelne Pflicht ihr Sollen nicht in sich, son-
dern von jenem tiefsten zu Lehen trägt, zu dem sie
!m Verhältnis des Mittels steht. Nicht dass irgend
eine bestimmte Handlung, zum Beispiel Fürsorge für
die Familie, an sich Pflicht sei, beweist der monis-
tische Ethiker, zum Beispiei der Utilitarier; sondern
nur dies, dass jene Handlung das Glück der Gesamt-
heit steigern helfe und sein soll, weil diese Glücks-
steigerung sein soll; das Gesolltwerden dieser aber
lässt sich nirgendwoher Ieiten, sondern nur als Tat-
sache oder als Dogma aussprechen. Das Sollen be-
gleitet die ganze Reihe von Ursachen und Wirkungen,
die etwa von dem Geldverdienst für die Familie bis
zur Glückssteigerung für die Allgemeinheit oder zur
Erfüllung der kantischen Formel oder zur Realisierung
einer Herbartschen Idee führt, ohne in ihr selbst eine
Erklärung zu finden Jedes Glied vielmehr erklärt
sein Sollen aus dem GesoIItwerden des folgenden, und
wo wir an dasjenige kommen, welches das Sollen
nicht wieder von sich abwälzen, seine Dignität nicht
mehr von einem andern herleiten kann, da bricht die
Reihe ab und lässt es an diesem genau so unerklärt,
wie es an dem ersten warr das Letzte, das wir er-
klären können, ist das Vorletzte Die Hauptfrage,
weshalb denn die einzelne- Tat gesollt wird, ist auf
diese Weise nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben.
So schiebt jeder höhere mathfcmatische Satz die For-
derung, seine Wahrheit zu beweisen, auf einen vorher-
gehenden einfacheren, und dieser wieder weiter bis
zurück zu den Axiomen, von denen alle andern ihre
Wahrheit borgen und mit deren unbeweisbarer Gültig-
keit sie stehen und fallen. So kann auch das Recht
den Beweis für die Gerechtigkeit seiner höheren Be-
stimmungen nur so führen, dass es dieselben als
logi§che Folge gewisser letzter Prinzipien aufzeigt, die
einfach als Recht hingenommen, aber nicht bewiesen
werden können.“ J)
An dieser peinlichen Situation des normativen Nach-
denkens bewährt sich die erkenntnispsychologische Regel,
dass nicht bloss jede causale (genetische), sondern auch
jede teleologische (systematische) Betrachtung zu einem
unendlichen Regress führt. Für unsere Vernunft, wie
sie nun einmal organisiert ist, besteht nicht nur keine
„letzte Ursache“, sondern auch kein „letzter Grund“.
So wie jede Ursache nur als Wirkung einer früheren
Ursache angesehen werden kann, also auch eine „letzte“
nur als die Wirkung einer sozusagen „hinterletzten“,
gerade so kann auch jeder Grund nur als die Folge
eines logisch übergeordneten Grundes erscheinen. Wie
man der Behauptung von der „letzten“ Ursache
eines Seienden entgegentreten müsste mit der
skeptischen Frage: Wovon ist diese Ursache die
Wirkung? — entsprechend muss man jedweder Be-
hauptung vom „letzten“ Grunde eines Sein-
sollenden begegnen mit der Frage: Woraus ist
dieser Grund die Folgerung?
') Man gestatte mir bei dieser Gelegenheit eine
persönliche Bemerkung. Ich muss gegen den Vorwurf
protestieren, dass ich es liebte, längere Stellen aus
Autoren wörtlich zu übernehmen. Freilich liebe ich
das, und zwar aus gutem Grunde. Wozu veröffent-
lichen die grossen Denker ihre Wahrheiten, wenn nicht
der, der sie findet und begreift, sie weiterträgt? Und
in welcher Form kann man einen wertvollen Gedanken
wohl besser weitertragen als in der, die sein Vater ihm
gegeben hat? Nur Skribifaxe, die aller Originalität
bar sind, fühlen sich verpflichtet, um ja die Maske der
Originalität zu wahren, anstelle ehrlicherZitate selbständig
verballhornte „Darstellungen“ oder schiefe „Extrakte" zu
liefern. Ich für mein Teil muss es ablehnen, eine
Idee Simmels oder Nietzsches besser formulieren zu
wollen als Simmel oder Nietzsche es getan haben.
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