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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 100 (März 1912)
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Kunowski, Lothar: Der Schatten
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Mürr, Günther: Hamburg, [5]
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Ausstellung der Zeitschrift Der Sturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0362

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L’Arlhösienne, — die zarte.

Es kiingt mir ins Ohr. Wie ein versch'wimmen-
des Lachen, drin geh ich auf. Bin süchtig danach,
doch darf ichs nicht rufen, nur nicht rufen.

Es streichelt, durchrieselt mich, summend, du.
ach du — du kommst —?

L’Arlhessienne —!

Der Schatten

Von Loth«r von Kunowski

Die meisten Zeichner Und Maler übersprfn-
gen alle Stadien des Eindringens in die Natur,
sie wissen weder, was ein Schatten, was Beleuch-
tung, noch was Bewegung, Form oder Farbe ist
an dem, was sie malen und zeichnen, Sie kennen
die Natur garnicht, sind also das Qegenteil von
Naturalisten. Sie sehen in der Natur eine Ansamm-
lung von dunklen oder hellen verschieden gefärb-
ten Flecken und Flächen und bemiihen sich, sie un-
mittelbar mit Pinsel oder Qriffel auszudrücken.
Sie geben Valeurs, ohne zu wissen, wie denn diese
Valeurs in der Natur zustande kommen, woraus
sich ein farbiger Fleck zusammensetzt, ohne also
zu wissen, was dieser Fleck auf der Leinwand
oder Papier tibertragen eigentlich darstellt, was er
vori der Naturerscheinung in uns erregen soll als
Farbe, Form, Schatten oder Bewegting.

Es gibt heuzutage kaum einen Maier in Er-
ropa, der wüßte, was ein Schatten ist, wiewohl
doch der Schatten auch ein Teil der Naturerschei-
mmg ist und zwar ein sehr wichtiger und wirk-
samer. Es gibt keinen Ausstellungspalast, unter
dessen tausend Zeichnungen und Bildern sich etwas
derartiges fände wie der Schatten tneines Fingers,
den ich mit der Spitze auf dieses Blatt Papier
stelle. Meist kleben die Schatten an den Formen
der Qegenstände, sie sind nicht beweglich wie die
Natur, in der wir nie einen Schatten sehen, den
man nicht als wandelnd, sich bewegend. kommend
und gehend, als selbständige Erscheinung auf-
fassen könnte. Unsere Künstler dagegen rnalen
oder zeichnen irgend einen Körper, zum Beispiel
eine Backe, dunkel und geben mit einem breiten
Fleck zugleich den Schatten, die Form, die Körper-
farbe als eine etwas blaugrüne Fläche. Das nackte
Mädchen von Anders Zorn, das am Meere steht
und den Rücken wendet, und auf der einen Seite
dunkel, auf der andern hell gefärbt ist, überzeugt
keineswegs, daß die dunkle Körperpartie, sollte die
Sonne fortschreiten, als fleischfarben aus detn
Schatten auftauchen, daß also der Schatten selbst-
ständig fortwandeln und den Körper unverändert
zuriicklassen wiirde.

Vielmehr können wir gewiß sein, daß die Un-
gliickliche, wie sie sich auch weridet, ihre Valeurs.
helle und dunkle Farbenflecke, ihre Schatten stets
mit sich schleppen wiirde. Sollte die Sonne es
netigierig umkrerser, so würde sie fortschreitend
bemerken, daß das Mädchen einen halb dmiklen.
halb hellen Körper besitzt und iin iibrigen für
immer tätowiert ist.

Betrachte den Schatten des durchbrochenen
Brotkorbes auf dem weißen Tischtuch und präge
dir seine zierlichen Formen ein. Danach schau den
Schatten einer Stuhllehne auf helletn, weißem Bett-
tuch, wenn du die Lampe anzündest und das Tages-
licht noch kräftig genug ins Zimnier fällt. Er wird
beriickend blau sein.

Schau dir überal! die Schatten der Qegeu-
stände an. ihre Eigur an der Wand, die du rnit allen
Fingern berü'hrst, die Schatten eines Weinglases,
der Stuhlbeine. der Laternenpfähle. Denke, was
du empfindest, wenn man an heißem Sommertag
iiber die blendende Straße in die Kühle der Häuser
tritt oder die dämmerigen Hallen des Waldes auf-
sucht, wo nicht nur der Erdboden gefleckt er-
scheint mit hellen und dunklen Figuren von wun-

derficher Feinheit, wo die ganze Luft als schattige
Kühle dich rungibt Sie wird vort breiten, räum-
lichen Lichtstrahlen durchbrochen, die durch die
Kronen der Bäume schräg herabkomrnen und
durchschwebt werden von Stäubchen nnd tan-
zenden Mücken.

Hast du je etwas vorn Schatten als Faktor
der Raumanschauung iri den Biildern unserer Maler
gesehen, so wie du beim Anblick des Schattens,
den Bäume zur Mittagsstuude unter dcr hohen
Sonne auf das Plaster werfen, die Kronen auf die
Erde projiziert wähnst, ols wollten sie sich mit ßrr
in Beziehung setzen und das Auge zwingen, die
ganze Krone erst als einfache Silhouette arrr Boden
wahrzunehrnen, unr dann sich zum Qipfel zu er-
heben und zur Sorine und so die ganze Rauru-
sphäre des Qewächses als Eirrheit zu erfassen?

Ich glaube nicht, d3ß drr den Schatten je in
seiner Würde dargestellt fandest, ich meine den
Schatten als Macht, als wandelnde I JersönIichkeit,
ats Qegner des Lichts, als Herberge der Fin.sternis.
Ich meine den Schatten, den jeder, auch der klein-
ste Qegenstand wirft, oder sich einseitig anlegt,
der beim Aufgang der Somre langgestreckt mit
ihrem Aufstieg sich unter die Menschen, die Tiere,
Sträucher und Bäume, unter jede Bltime verkriecht
und an die Hätrser schmiegt. Den Schatten, der
des Abends, wenn wir atif denr Berge stehen, vom
Fuß aller Wesen. der Häuser tind Bäume. der
Wälder und Berge sich in Streifen von Westen
nach Osten zieht, und nachdenr er den ganzen Tag
im Kreise tind zersplittert in Teile gewandert ist,
sich gierig ausdehnt über das Tal und die Täler,
die Helligkeit frißt, eiriengt, zerdriickt, sicli gänz-
lich zusammenschließt, in den Raum aufsteigt als
Dunkelheit, ihn verdüstert, den Schatten, der keine
Decke ist, sondern durchsichtig. in dem wir alles
ahnen, wiewohl es rnit derrr Schwinden de.s Lichts
gestaltloser wird, den Scbatten als Nacht.

Hamburg

Von Günther Mürr

Blick auf den Hauptbahnhof

Fortsetzung

Sattgrauer Nebel hat die AbendJtrft durchtränkt,
Sie liegt so schwer wie ein nasses Tuch,
nur daß die Blicke sich durchdrängen können.
Vor deni einfarbigeir Qrau schweben, wie

aus Nebel gepreßt

weit auseinander zwei beuhrte l’ürme. Zwi-

schen ihnen hängt
eiu riesiger Bogen aus Eisen imd stumpfem Qlas.
Die Turmuhren und Qlasbogen scheinen ein

Nest dem gelben Licht.
Schüchtern wagte es den Versuch,
sich weit im hellen Bogen uirr deir Bahnhof

zu gießen.

Die Nebelwasser wollen es nicht gönnen.

Ani rostigen Boden der Bahnhofshalle
quält sich nrüder, roter Schein, der kaurn

die Lampen verläßt.
Träge aus der Halle schwelt
rings ein drückender Qeruch.

Lautlos ziehen sich unter den ßogenfliesen
zahllose braune Schienenstränge vor.

Das matte Licht fängt sich in ihrern Rost

und kann nicht strahien
und driickt sie mit sturnpfem Haß.

Auf der weiten, braunen Schienenfläche

sind Lichter versprengt,
viele weiße Punkte mit fahlen Tönen,
die in dern weichen, streichelnden Nebelnaß
fast ertrinken, ganz in sich selbst gezwängt.

Vor dem Bahnhof iiber dem breiten Schienen-

bruch

eine Straßenbrücke nut burrter Schar
von gelbeii uikI roten Lainpen.

Ihr Licht üfoermalt die feuchten Hände der

NebelweJten

mrt eintötiigem ürau. I>ie hellen
werden ganz matt i.n dem nassen Qeiaß.

Sie lassen die Luft uicht schwellen,
wie an lichten Abenden, mit ihrer Schwin-

gungen Flug.

Von den hohen und niedern,
den weißen und blutigroten
hängt nur ein dicker Faden. triib und doclt

nicht blaß.

Ueber die ganze Briicke walieu Schatten

von Wagen,

eiektrischen Bahnen und Menschen,
gleiten lrin vvie Nebei.

Die Töne schwanken,
bang und unstät.

Plötzlich ein Donnern und Schienenbetren.

Eiri elektrischer, hellerleuchteter Zug
aus dem Bahnhofsrachen
peitscht die Luft.

Ueber ihrrr klirren durch den Nebel
elcktrische Funken, blau uud bleich.

Der Donner verhallt, die Eunken verschweben.
Die Luft ist voll von gierigern Streben
tind träger Mattheit. Ihr weiches Fächeln
schläfert ein und erhitzt docti das Blut.

Ihre Küsse inißhandeln sehr,
peinigen das Leben,
quälen, bis sie das Herz versengen
bis der Qeist kaum taunreind denkt.
ihre seligen Küsse schließen
ganz in den Nebelzauber fest.
cngen ein.

Alle Nerven zittern.
heben empor verhehlte Glut.

Ringsum des bnnt getnalten Nebeis Fließeti.
fetichte Farben, die reglos schweben.

Stampfend schleppt eine schwarze Maschine
viele Wageu aus der Halle.

(>b rhrem Rachen eine schräge Säule

von Wasserdarnpf, die sieh dem Nebel rnengt.

Schnauben und Keuchen, Räderrollen, Pfeifen-

geheule.

Qedämpft der Lärnr, ais ging über Teppiche

die Fahrt.

Verschwunden.

Sattgrauer Nebe! hängt iiberall wieder,
färbt rmd empfängt Licht tind Klang,
hält deu Blick beengt.

Rostbraun tind Nebelschwarz;
drein gesenkt

Lichter und Schienen und Bodeir.

Ausstellung

der Zeitschrift Der Sturm

Wir veranstalteu aus Aniaß des Erscheiaens
der Nummer 100 dieser Zeitschrift eine Ausstellung
iu der Villa Tiergartenstraße 34 a. EröHnung
findet am 12. März zwei Uhr mittags statt. Es
werden Bilder von Ferdinand Hodler, Oskar Ko-
koschka, Edward Munch und jungfranzösischen
Maiern, Zeichnungen von Oskar Kokoschka und
Plastiken voti Franz Flaum gezeigt.

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

soi
 
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