zu schwächen . . . Auch irene hatte sich erhoben,
sie breitete die Arrne weit aus und führte dann iang-
sam die Hände zusammen, sodass es weithin sichtbar,
wenn auch vielleicht überhaupt nic'nt hörbar war.
Hugo drängte sich durch das Gewühle vor. Reichte
sie dem Kerl nicht eincn Lorbeerkranz? Ach nein,
das war nur eine Blume. Nur? . . . Schrecklich,
in diesem Saal mit ihr beisammen zu sein, zwischen
vier Wänden, und doch ohne den mindesten Zusammen-
hang. Er schaute an die Wände: Diese Wände also
umfassten sie und ihn, und es nützte nichts . . .
Endlich stand er, längs der Säuienreihe fortgeschoben,
ihr gegenüber. Er grüsste sie, jetzt erst an diesem
Abend. Sie dankte durch ein Nicken, kalt und zer-
streut. Er fühlte den Boden unter seinen Füssen
sinken.
Alfred war ihm nachgefolgt: „Jetzt spricht Pitroff,
nicht wahr?“
Er antwortet nicht, eine leichte Herzschwäche ver-
spürend.
„Wo bleibt nun die Bande?“ Unstet sah sich
Alfred im Saale um, auch er schien etwas zu suchen, zu
vermissen. „Eine Hetz wird das, wie noch nie! Wenns
nur gelingt . . .“
Schluss folgt
Der Relativismus in der
Rechtsphilosophie und
seine Überwindung durch
dieRestitution desWillens
Von Kurt Hiller
lll
r Die Rolle des Kriteriums spielt in der praktischen
Philosophie der Wille. Deshalb ist es grundsätzlich
verkehrt, die Frage nach der „Richtigkeit“ eines
Willensinhaltes aufzuwerfen. Nur dort, wo Vorstel-
lungen von dem Gefühl des Seins begleitet sind, ist
die Frage nach der „Richtigkeit“ ihrer angebracht,
nicht aber dort, wo sie von dem Gefühl des Sollens
begleitet sind. l)
. . Die Kontroverse zwischen Intellektualismus und
Voluntarismus ist aus der Psychologie her bekannt;
da freilich trägt sie das Stigma der Scholastizität:
denn welches der „psychologische Grund“, die „eigent-
liche Quelle“, das „ursprüngliche Prinzip“, die „ietzte
Ursache“ des seelischen Lebens sei, ob die Vorsteliung
oder der Wille, — das ist eine Frage, die nicht nur
unlösbar, sondern bereits mit hervorragendem Unge-
schick gestellt zu sein scheint; so dass es keiner be-
sonderen hellseherischen oder hellhörerischen Gabe be-
darf, um schon heute das herzliche Geiächter zu ver-
nehmen, das spätere, pragmatischere Jahrhunderte
über diese gleichgiltige Problematik erheben werden.
Aber so belanglos die Antithese für die Psychologie
sein mag, so wesentlich ist sie für die Ethik.
Unter den rechtsphilosophischen Schriftsteilern
scheinen mir Radbruch und besonders Somlö Witterung
hierfür zu haben. Radbruch, in seinem Meisterwerk
„Einführung in die Rechtswissenschaft“, * 3) reduziert alle
Streitfragen de iegibus ferendis auf den einen Gegen-
satz zwischen individualistischer und überindividualis-
tischer Staatsauffassung und erklärt sofort, in strah-
lender Eindeutigkeit: „Dieser Gegensatz der staats-
philosophischen Auffassungen heischt von uns nicht
eine Entscheidung, sondern eine Stel 1 u ngnah me:
der Verstand und die Wissenschaft muss vor ihm ver-
stummen, allgemeingiltige Wahrheit gibt es hier nicht,
nur der durch Selbstbesinnung aus ier Tiefe der Per-
sönlichkeit geschöpfte Wille kann, verschieden von
*) Vergleichen Sie: Simmel: „Einleitung in die
Moralwissenschaft“ 1, 11
2) In der Sammlung „Wissenschaft und Bildung“,
Leipzig 1910
Mensch zu Mensch, die Wahl treffen“.') Und, das
Kapitel über das Strafrecht einleitend, polemisiert er
gegen die übliche Fragestellung, welchen Zweck die
Strafe habe: „Wie von der Welt itn ganzen, wie von
allem, was nicht Menschen zweckbewusst geschaffen
haben, so gilt auch von der Strafe, dass sie, für die
mannigfachsten Zweckbestimmungen empfänglich, doch
einen bestimmten Zweck nicht habe, es sei
denn den, den man ihr setzt. Welchen Zweck
wollen wir der Strafe setzen? so also lautet
unsere Frage, die mithin nicht von unserem forschen-
den Verstande, sondern von unserem zwecksetzenden
Willen beantwortet werden will.“ 3)
Und Somlö 3) äussert: „Die Massstäbe zur Be-
wertung des Rechts werden nicht von der Rechts-
philosophie gedankenmässig produziert, sie sind be-
reits vor aller Rechtsphilosophie gefühls-
mässig da und wollen auch seitens einer Rechts-
philosophie nur angewendet werden.“
Somlö’s geistvoller Versuch nun, dem Relativismus
zu entrinnen, verlangt eine besondere Besprechung.
Nach trefflicher Wideriegung des Positivismus und
des kantianischen Objektivismus stellt Somlö fest, kraft
sympathischen Funktionierens seines intellektualen Ge-
wissens, dass wir zu der prinzipiellen Möglichkeit so
vieler verschiedener Inhalte von Richtigkeitsgefühien
gelangen müssen, als es Menschen gibt. „Denn die
etwaigen tatsächlichen Uebereinstimmungen der be-
züglichen Inhalte müssten von diesem Gesichtspunkte
aus immer als etwas rein Zufälliges, prinzipiell nicht
in Betracht Kommendes angesehen werden ... Es
liesse sich demnach keine einzige sittliche Norm
denken, welche zu leugnen nicht jedermann, ausser
dem Urheber der Norm, das gute Recht hätte.“ 4 5) Aus-
gezeichnet bisherJ Nun ist aber Somlö immer noch
darauf aus, an das Seinsollende „Massstäbe der Rich-
tigkeit“ anzulegen; er vermag der kritizistischen Folter-
bank nicht zu entsagen So lässt er denn die Resui-
tate seines erbarmungslos-konsequenten Nachdenkens
schnöde im Stich, als biosse Ergebnisse einer „Analyse
der Bewertungen im Individualbewusstsein“, und be-
hauptct, dass es dergleichen Bewertungen „in der prin-
zipiellen individuellen Isoliertheit“, wie er sie „vor-
läufig angenommen“ habe, garnicht gebe; vielmehr
drücke die Tatsache eines individuellen Sollensge-
fühles immer zugleich die Tatsache einer soziaien
Wertung aus. Das individuelle Sollensgefühl
sei „der Index“ oder „das Segment“ einer überindi-
viduellen Wertung. Es sei ein Fehlschuss, dass es
prinzipiell soviel verschiedene Inhalte des Sittlichen
geben könne, als es Menschen gibt. „Im Gegenteil
bezeugt jedes besondere individuelle Sittlichkeitsgefühl
bereits durch seine Existenz die inhaltliche Ueberein-
stimmung solcher Gefühle seitens einer Vielheit . . .
Folglich kann es nicht so viele verschiedene Inhaite
des Sittlichen geben, als es Menschen gibt, sondern
es kann nicht mehr verschiedene Inhalte des Sitt-
lichen geben, als es solche übereinstimmende Viel-
heiten gibt.“
Soweit diese Auseinandersetzungen phänomenoio-
gisch sind, sind sie gewiss richtig; es gibt tatsächlich
nicht so viele Sittlichkeiten, als es Menschen gibt; das
heisst: es gibt nicht so viele Sittlichkeiten, als es
a priori geben könnte. [Ein neues Beispiel für die
„Duplizität der Ereignisse“, auch der philosophischen
Ereignisse: dass zu annähernd derselben Zeit, als
Somlö dies veröffentlicht, Georg Simmel -• in seinem
neuen Buche — eine Lehre vorträgt, nach der es
ausser der individuellen Subjektivität und dem all-
gemein überzeugenden, logisch-objektiven Denken noch
ein Drittes gibt, nämlich „die Schicht der typischen
Geistigkeit in uns“ ; es äusserten sich in uns „geistige
Energien, deren Betätigungsinhalte nicht subjektiv-indi-
viduellen Wesens sind, ohne darum doch die Nach-
zeichnung eines Objektiven, das dem Subjekt gegen-
überstünde, zu se:n.“ 6)] Aber so wahr der Somlö’-
sche Gedanke als phänomenologisches Aperfu ist, so
gering ist seine normative Bedeutung. Mag immerhin
„jedes besondere individuelle Sittlichkeitsgefühl bereits
durch seine Existenz die inhaltliche Uebereinstimmung
solcher Gefühle seitens einer Vielheit bezeugen“, so
ist darum doch keineswegs ein individuelles Sittlichkeits-
gefühl deshalb richtig, weil es zugleich das Sittlichkeits-
') Seite 16
3) Seite 49
3) „Massstäbe . . .“, Seite 521
4) Seite 517/518
5) Simmel, „Hauptprobleme der Philosophie“,
Sammlung Göschen, 1910, Seite 25/26
gefühl einer Vielheit ist, und keineswegs dann falsch,
wenn es, was doch d e n k b a r ist, von anderen in-
dividuen nicht geteilt wird. Wenn also Somlö, seine
phänomenologische Bemerkung ins Normative hinüber-
leitend, definiert: „Sittlich ist, was einer Norm des
Handelns entspficht, die ich (in Uebereinstimmung mit
einer Vielheit) als unbedingt richtig fühle“ — so muss
man doch Protest erheben. Entweder nämlich ist die
„Uebereinstimmung mit einer Vielheit“ eine mit der
als unbedingt richtig gefühlten Norm notwendig ver-
knüpfte Erscheinung (wie Somlö ja behauptet); dann
ist es überflüssig, diese „Uebereinstimmung“ in die De-
finition des Sittlichen hineinzunehmen, da es ja Fälle,
wo Normen o h n e diese „Uebereinstimmung“ als unbe-
dingt richtig gefühlt werden, hiernach nichtgibtl Oder
aber: es gibt solche Fälle; dann ist die „Ueberein-
stimmung“, wenn sie da ist, keineswegs ein Kriterium
der Richtigkeit, — und die fehlende keineswegs ein
Beweis der Falschheit. Vielmehr kann sittlich, das
heisst seinsollend, durchaus auch das sein, was einer
Norm des Handelns entspricht, die ich i m G e g e n -
satz zur ganzen Welt als unbedingt richtig
fühle. (Dass solche Gegensätzlichkeit zur ganzen Welt
wahrscheinlich nie vorkommt, ist psychologisch sehr
interessant, ethisch recht gleichgültig.)
Diese Auffassung des Wertes als der Geltung bei
einer Vielheit ist der Sterbeseufzer des Kritizismus; ist
der letzte (unglückliche) Versuch, etwas jenseits von
Richtig und Falsch Liegendes „begründen“ zu wolien . ..
Sonst steht Somlö hier ganz auf voluntaristischem
Boden; und sein Aufsatz dürfte daher, wenn nicht das
Scharfsinnigste und Subtilste, so doch das W i c h t i g -
s t e sein, was seit Stammler’s Büchern in der Rechts-
philosophie geleistet worden ist. „Es gibt keine
andre Sittlichkeit als irgend eitie positive Moral“
wenn ein Denker, der alle vorschriftsmässigen Skepti-
zismen durchgemacht hat (und das ist bei Somlö er-
sichtlich), dergleichen äussert, so ist das unzweifelhaft
neu, imposant, monumental, und scheint mir die end-
gültige Befreiung ethisch-politischer Spekulation von
Sankt lmmanuels Methoden zu gewährieisten.
„Es gibt keine andre Sittlichkeit als irgend eine
positive Moral“: freiiich muss hier, um der Törichten
willen, besondrer Nachdruck gelegt werden auf „irgend
e i n e “ ; damit nicht wer giaubt, d i e positive Moral
etwa die überkommene, kirchlich - staatlich - gesell-
schaftlich abgestempelte — sei identisch mit' Sittlich-
keit . . .
Während also der Relativist ein legislatives Problem
unter Zugrundelegung von tausend Moralen tausend-
fältig „löst“, löst es der Voluntarist eindeutig, unter
Zugrundelegung seiner eigenen. Wem diese fehlt, das
heisst: wer (wie ich gegen den „Standpunkte“-Stand-
punkt von Kantorowicz anführte) lediglich Forscher,
Zweifler, Gewissenhafter des Geistes ist, — 4er
muss völlig Abstand nehmen von der Problematik
dessen, was sein soll; der muss als Passiver, als
Theoretiker, als Bloss-Verstehender den Turnieren der
Wollenden zuschauen. Wer aber ein Wollender ist,
eine eigene Moral hat, über Werttafeln verfügt, der
baut, wenn er politisch philosophiert, keineswegs seine
Systeme auf „Vorurteilen“ auf, wie der Relativist; denn
seine Fundamente sind ja garnicht U r t e i I e, sondern
W o 11 u n g e n . Der Relativist verlangt, dass man
dogmatisch angesetzte Werte, die einander wider-
sprechen, als gleichberechtigt anerkenne; der Volunta-
rist fragt garnicht danach, ob die Werte (nämlich
s e i n e Werte) „berechtigt“ seien oder nicht —: e r
setzt sie einfach an. Daher kann er auch
nie dogmatisch sein; er behauptet ja nicht, dass seine
Wertungen „richtig“ wären; er — wertet vielmehr!
(Von Dogmatismus kann man überall nur dort reden,
wo ein Satz vorgibt, Erkenntnis zu sein; nie dort, wo
er einen Willen ausspricht.) Der Voluntarist ist nicht
darauf aus, zu erkennen, sondern: zu bewirken. Er will
nicht begründen, sondern er — willl
Dabei vermag er der Intellektualität sogar einen
viel grösseren Platz einzuräumen als der Subjektivist.
Diesem sind die Fragen de lege ferenda immer nur
„Sache der undiskutierbaren persönlichen Ueberzeugung“; 1)
der Voluntarist dagegen sieht ein, dass er mit seinen
Wertgefühlen nicht alleinsteht, dass er sich mit seinen
„Parteigenossen“ zusammentun kann, und dass nun
aufgrund der gemeinsamen Wertgefühle als eines un-
problematisierten Kodex, einer ehernen Moses-Tafel,
einer „Hierarchie der Masstäbe“ (Ausdruck Somlö’s)
*) Radbruch, in dem erwähnten Aufsatz, Aschaffen-
burgs Monatsschrift II
486
sie breitete die Arrne weit aus und führte dann iang-
sam die Hände zusammen, sodass es weithin sichtbar,
wenn auch vielleicht überhaupt nic'nt hörbar war.
Hugo drängte sich durch das Gewühle vor. Reichte
sie dem Kerl nicht eincn Lorbeerkranz? Ach nein,
das war nur eine Blume. Nur? . . . Schrecklich,
in diesem Saal mit ihr beisammen zu sein, zwischen
vier Wänden, und doch ohne den mindesten Zusammen-
hang. Er schaute an die Wände: Diese Wände also
umfassten sie und ihn, und es nützte nichts . . .
Endlich stand er, längs der Säuienreihe fortgeschoben,
ihr gegenüber. Er grüsste sie, jetzt erst an diesem
Abend. Sie dankte durch ein Nicken, kalt und zer-
streut. Er fühlte den Boden unter seinen Füssen
sinken.
Alfred war ihm nachgefolgt: „Jetzt spricht Pitroff,
nicht wahr?“
Er antwortet nicht, eine leichte Herzschwäche ver-
spürend.
„Wo bleibt nun die Bande?“ Unstet sah sich
Alfred im Saale um, auch er schien etwas zu suchen, zu
vermissen. „Eine Hetz wird das, wie noch nie! Wenns
nur gelingt . . .“
Schluss folgt
Der Relativismus in der
Rechtsphilosophie und
seine Überwindung durch
dieRestitution desWillens
Von Kurt Hiller
lll
r Die Rolle des Kriteriums spielt in der praktischen
Philosophie der Wille. Deshalb ist es grundsätzlich
verkehrt, die Frage nach der „Richtigkeit“ eines
Willensinhaltes aufzuwerfen. Nur dort, wo Vorstel-
lungen von dem Gefühl des Seins begleitet sind, ist
die Frage nach der „Richtigkeit“ ihrer angebracht,
nicht aber dort, wo sie von dem Gefühl des Sollens
begleitet sind. l)
. . Die Kontroverse zwischen Intellektualismus und
Voluntarismus ist aus der Psychologie her bekannt;
da freilich trägt sie das Stigma der Scholastizität:
denn welches der „psychologische Grund“, die „eigent-
liche Quelle“, das „ursprüngliche Prinzip“, die „ietzte
Ursache“ des seelischen Lebens sei, ob die Vorsteliung
oder der Wille, — das ist eine Frage, die nicht nur
unlösbar, sondern bereits mit hervorragendem Unge-
schick gestellt zu sein scheint; so dass es keiner be-
sonderen hellseherischen oder hellhörerischen Gabe be-
darf, um schon heute das herzliche Geiächter zu ver-
nehmen, das spätere, pragmatischere Jahrhunderte
über diese gleichgiltige Problematik erheben werden.
Aber so belanglos die Antithese für die Psychologie
sein mag, so wesentlich ist sie für die Ethik.
Unter den rechtsphilosophischen Schriftsteilern
scheinen mir Radbruch und besonders Somlö Witterung
hierfür zu haben. Radbruch, in seinem Meisterwerk
„Einführung in die Rechtswissenschaft“, * 3) reduziert alle
Streitfragen de iegibus ferendis auf den einen Gegen-
satz zwischen individualistischer und überindividualis-
tischer Staatsauffassung und erklärt sofort, in strah-
lender Eindeutigkeit: „Dieser Gegensatz der staats-
philosophischen Auffassungen heischt von uns nicht
eine Entscheidung, sondern eine Stel 1 u ngnah me:
der Verstand und die Wissenschaft muss vor ihm ver-
stummen, allgemeingiltige Wahrheit gibt es hier nicht,
nur der durch Selbstbesinnung aus ier Tiefe der Per-
sönlichkeit geschöpfte Wille kann, verschieden von
*) Vergleichen Sie: Simmel: „Einleitung in die
Moralwissenschaft“ 1, 11
2) In der Sammlung „Wissenschaft und Bildung“,
Leipzig 1910
Mensch zu Mensch, die Wahl treffen“.') Und, das
Kapitel über das Strafrecht einleitend, polemisiert er
gegen die übliche Fragestellung, welchen Zweck die
Strafe habe: „Wie von der Welt itn ganzen, wie von
allem, was nicht Menschen zweckbewusst geschaffen
haben, so gilt auch von der Strafe, dass sie, für die
mannigfachsten Zweckbestimmungen empfänglich, doch
einen bestimmten Zweck nicht habe, es sei
denn den, den man ihr setzt. Welchen Zweck
wollen wir der Strafe setzen? so also lautet
unsere Frage, die mithin nicht von unserem forschen-
den Verstande, sondern von unserem zwecksetzenden
Willen beantwortet werden will.“ 3)
Und Somlö 3) äussert: „Die Massstäbe zur Be-
wertung des Rechts werden nicht von der Rechts-
philosophie gedankenmässig produziert, sie sind be-
reits vor aller Rechtsphilosophie gefühls-
mässig da und wollen auch seitens einer Rechts-
philosophie nur angewendet werden.“
Somlö’s geistvoller Versuch nun, dem Relativismus
zu entrinnen, verlangt eine besondere Besprechung.
Nach trefflicher Wideriegung des Positivismus und
des kantianischen Objektivismus stellt Somlö fest, kraft
sympathischen Funktionierens seines intellektualen Ge-
wissens, dass wir zu der prinzipiellen Möglichkeit so
vieler verschiedener Inhalte von Richtigkeitsgefühien
gelangen müssen, als es Menschen gibt. „Denn die
etwaigen tatsächlichen Uebereinstimmungen der be-
züglichen Inhalte müssten von diesem Gesichtspunkte
aus immer als etwas rein Zufälliges, prinzipiell nicht
in Betracht Kommendes angesehen werden ... Es
liesse sich demnach keine einzige sittliche Norm
denken, welche zu leugnen nicht jedermann, ausser
dem Urheber der Norm, das gute Recht hätte.“ 4 5) Aus-
gezeichnet bisherJ Nun ist aber Somlö immer noch
darauf aus, an das Seinsollende „Massstäbe der Rich-
tigkeit“ anzulegen; er vermag der kritizistischen Folter-
bank nicht zu entsagen So lässt er denn die Resui-
tate seines erbarmungslos-konsequenten Nachdenkens
schnöde im Stich, als biosse Ergebnisse einer „Analyse
der Bewertungen im Individualbewusstsein“, und be-
hauptct, dass es dergleichen Bewertungen „in der prin-
zipiellen individuellen Isoliertheit“, wie er sie „vor-
läufig angenommen“ habe, garnicht gebe; vielmehr
drücke die Tatsache eines individuellen Sollensge-
fühles immer zugleich die Tatsache einer soziaien
Wertung aus. Das individuelle Sollensgefühl
sei „der Index“ oder „das Segment“ einer überindi-
viduellen Wertung. Es sei ein Fehlschuss, dass es
prinzipiell soviel verschiedene Inhalte des Sittlichen
geben könne, als es Menschen gibt. „Im Gegenteil
bezeugt jedes besondere individuelle Sittlichkeitsgefühl
bereits durch seine Existenz die inhaltliche Ueberein-
stimmung solcher Gefühle seitens einer Vielheit . . .
Folglich kann es nicht so viele verschiedene Inhaite
des Sittlichen geben, als es Menschen gibt, sondern
es kann nicht mehr verschiedene Inhalte des Sitt-
lichen geben, als es solche übereinstimmende Viel-
heiten gibt.“
Soweit diese Auseinandersetzungen phänomenoio-
gisch sind, sind sie gewiss richtig; es gibt tatsächlich
nicht so viele Sittlichkeiten, als es Menschen gibt; das
heisst: es gibt nicht so viele Sittlichkeiten, als es
a priori geben könnte. [Ein neues Beispiel für die
„Duplizität der Ereignisse“, auch der philosophischen
Ereignisse: dass zu annähernd derselben Zeit, als
Somlö dies veröffentlicht, Georg Simmel -• in seinem
neuen Buche — eine Lehre vorträgt, nach der es
ausser der individuellen Subjektivität und dem all-
gemein überzeugenden, logisch-objektiven Denken noch
ein Drittes gibt, nämlich „die Schicht der typischen
Geistigkeit in uns“ ; es äusserten sich in uns „geistige
Energien, deren Betätigungsinhalte nicht subjektiv-indi-
viduellen Wesens sind, ohne darum doch die Nach-
zeichnung eines Objektiven, das dem Subjekt gegen-
überstünde, zu se:n.“ 6)] Aber so wahr der Somlö’-
sche Gedanke als phänomenologisches Aperfu ist, so
gering ist seine normative Bedeutung. Mag immerhin
„jedes besondere individuelle Sittlichkeitsgefühl bereits
durch seine Existenz die inhaltliche Uebereinstimmung
solcher Gefühle seitens einer Vielheit bezeugen“, so
ist darum doch keineswegs ein individuelles Sittlichkeits-
gefühl deshalb richtig, weil es zugleich das Sittlichkeits-
') Seite 16
3) Seite 49
3) „Massstäbe . . .“, Seite 521
4) Seite 517/518
5) Simmel, „Hauptprobleme der Philosophie“,
Sammlung Göschen, 1910, Seite 25/26
gefühl einer Vielheit ist, und keineswegs dann falsch,
wenn es, was doch d e n k b a r ist, von anderen in-
dividuen nicht geteilt wird. Wenn also Somlö, seine
phänomenologische Bemerkung ins Normative hinüber-
leitend, definiert: „Sittlich ist, was einer Norm des
Handelns entspficht, die ich (in Uebereinstimmung mit
einer Vielheit) als unbedingt richtig fühle“ — so muss
man doch Protest erheben. Entweder nämlich ist die
„Uebereinstimmung mit einer Vielheit“ eine mit der
als unbedingt richtig gefühlten Norm notwendig ver-
knüpfte Erscheinung (wie Somlö ja behauptet); dann
ist es überflüssig, diese „Uebereinstimmung“ in die De-
finition des Sittlichen hineinzunehmen, da es ja Fälle,
wo Normen o h n e diese „Uebereinstimmung“ als unbe-
dingt richtig gefühlt werden, hiernach nichtgibtl Oder
aber: es gibt solche Fälle; dann ist die „Ueberein-
stimmung“, wenn sie da ist, keineswegs ein Kriterium
der Richtigkeit, — und die fehlende keineswegs ein
Beweis der Falschheit. Vielmehr kann sittlich, das
heisst seinsollend, durchaus auch das sein, was einer
Norm des Handelns entspricht, die ich i m G e g e n -
satz zur ganzen Welt als unbedingt richtig
fühle. (Dass solche Gegensätzlichkeit zur ganzen Welt
wahrscheinlich nie vorkommt, ist psychologisch sehr
interessant, ethisch recht gleichgültig.)
Diese Auffassung des Wertes als der Geltung bei
einer Vielheit ist der Sterbeseufzer des Kritizismus; ist
der letzte (unglückliche) Versuch, etwas jenseits von
Richtig und Falsch Liegendes „begründen“ zu wolien . ..
Sonst steht Somlö hier ganz auf voluntaristischem
Boden; und sein Aufsatz dürfte daher, wenn nicht das
Scharfsinnigste und Subtilste, so doch das W i c h t i g -
s t e sein, was seit Stammler’s Büchern in der Rechts-
philosophie geleistet worden ist. „Es gibt keine
andre Sittlichkeit als irgend eitie positive Moral“
wenn ein Denker, der alle vorschriftsmässigen Skepti-
zismen durchgemacht hat (und das ist bei Somlö er-
sichtlich), dergleichen äussert, so ist das unzweifelhaft
neu, imposant, monumental, und scheint mir die end-
gültige Befreiung ethisch-politischer Spekulation von
Sankt lmmanuels Methoden zu gewährieisten.
„Es gibt keine andre Sittlichkeit als irgend eine
positive Moral“: freiiich muss hier, um der Törichten
willen, besondrer Nachdruck gelegt werden auf „irgend
e i n e “ ; damit nicht wer giaubt, d i e positive Moral
etwa die überkommene, kirchlich - staatlich - gesell-
schaftlich abgestempelte — sei identisch mit' Sittlich-
keit . . .
Während also der Relativist ein legislatives Problem
unter Zugrundelegung von tausend Moralen tausend-
fältig „löst“, löst es der Voluntarist eindeutig, unter
Zugrundelegung seiner eigenen. Wem diese fehlt, das
heisst: wer (wie ich gegen den „Standpunkte“-Stand-
punkt von Kantorowicz anführte) lediglich Forscher,
Zweifler, Gewissenhafter des Geistes ist, — 4er
muss völlig Abstand nehmen von der Problematik
dessen, was sein soll; der muss als Passiver, als
Theoretiker, als Bloss-Verstehender den Turnieren der
Wollenden zuschauen. Wer aber ein Wollender ist,
eine eigene Moral hat, über Werttafeln verfügt, der
baut, wenn er politisch philosophiert, keineswegs seine
Systeme auf „Vorurteilen“ auf, wie der Relativist; denn
seine Fundamente sind ja garnicht U r t e i I e, sondern
W o 11 u n g e n . Der Relativist verlangt, dass man
dogmatisch angesetzte Werte, die einander wider-
sprechen, als gleichberechtigt anerkenne; der Volunta-
rist fragt garnicht danach, ob die Werte (nämlich
s e i n e Werte) „berechtigt“ seien oder nicht —: e r
setzt sie einfach an. Daher kann er auch
nie dogmatisch sein; er behauptet ja nicht, dass seine
Wertungen „richtig“ wären; er — wertet vielmehr!
(Von Dogmatismus kann man überall nur dort reden,
wo ein Satz vorgibt, Erkenntnis zu sein; nie dort, wo
er einen Willen ausspricht.) Der Voluntarist ist nicht
darauf aus, zu erkennen, sondern: zu bewirken. Er will
nicht begründen, sondern er — willl
Dabei vermag er der Intellektualität sogar einen
viel grösseren Platz einzuräumen als der Subjektivist.
Diesem sind die Fragen de lege ferenda immer nur
„Sache der undiskutierbaren persönlichen Ueberzeugung“; 1)
der Voluntarist dagegen sieht ein, dass er mit seinen
Wertgefühlen nicht alleinsteht, dass er sich mit seinen
„Parteigenossen“ zusammentun kann, und dass nun
aufgrund der gemeinsamen Wertgefühle als eines un-
problematisierten Kodex, einer ehernen Moses-Tafel,
einer „Hierarchie der Masstäbe“ (Ausdruck Somlö’s)
*) Radbruch, in dem erwähnten Aufsatz, Aschaffen-
burgs Monatsschrift II
486