Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 89 (Dezember 1911)
DOI Artikel:
Kunowski, Lothar: Münchner Sezession
DOI Artikel:
Kunst, Demokratie und Presse
DOI Artikel:
Beachtenswerte Bücher
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0270

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
jedoch fort wie in der Hetzjagd „Heidi“ sich das
Oeständnis über die Unzulänglichkeit seiner Keimt-
nisse zu ersparen, so wird er vieileicht anch die
verlieren, deren er gewiß ist, und in einem Schwulst
hastiger Pinseistriche enden.

Man sieht, daß die Wahrhaftigkeit sämtliche
anderen Tugenden des Künstlers fordert: in die
£infachheit eines selbständigen Entwurfs führe er
den Reichtum seines Wissens und Empfindens ein,
damit er seine Einfäile durchbiide, bis sie einen
ehrlichen Vergleich mit der Natur ermöglichen.
Viele Künstler fürchten diesen ehrlichen Vergleich,
und so bleiben sie dem Laien unverständlich. Sle-
vogts „Verlorener Sohn“ ist ein Bild, dessen Qe-
stalten vergeblich nach einer definierbaren Ober-
fläche ringen, mit Ausnahme eines Kopfes, der neu-
gieng aus dem Chaos der Farben hervorlugt. Den-
noch ahnt der Kenner eine Fülle von Talent, das
ftir alle sichtbar würde, sobald der Künstler sich
ernstiiaft fragte, ob er von jenem Gewand, Tep-
pich, Frauenkörper nicht weniger gegeben habe, als
er vermöge. Die Ursache der Unaufrichtigkeit ist
■vielen Künstlern gemein: sie wollen bedeutender
erscheinen, als sie sind. Entschlössen sie sich, ihren
Einfall bis zur Verständlichkeit auszugestalten,
würden sie die Körper aus dem Hintergrunde her-
ausarbeiten, die Finger mit Nägeln versehen, die
Bäume mit Blättern, so wiirde plötzlich niemandi
mehr von einem neuen Velasquez, Rubens, Tiziara
sprechen, sondern nur von einem guten Hand-
werksmeister. Liebermann, der noch heute von
vielen als der Homer des heroischen Bauernlebens
gefeiert wird, entpuppt sich, nachdem er die Ne-
belkappe der Verschwommenheit in seinem bis auf
dfe Physiognomien und Sonnenflecke durchgeführ-
ten „Altmännerhaus“ abgelegt hat, keineswegs als>
ein Qeist, der diesem Ruhme entspricht. (Ich habe
ihn seitdem höher zu schätzen gelernt und er
mich.)

Ein Bild entdeckte ich, aus dem der Qeist der
Wahrhaftigkeit spricht, man hat es in einen dunklen
Gang an die dunkelste Stelle gehängt, damit der'
Wahrheit der Schleier nicht fehle. Bartnings.
„Campagna“ ist das Werk eines jungen Mannes,
■er noch nicht gereift ist, den großen Ent-
wurf zu wahren, aber es gibt ein Alter,.
in dem Gewissenhaftigkeit imd peinliche Sorgfalt
das Natiiriiche und darum Wahrhaftige sind. Alle
großen Künstler, auch Rubens, Rembrandt, Lio-
nardo begannen ihre Laufbahn mit Arbeiten von
unheimlicher Peinlichkeit. Bartning Iiat die Steine
der grauen Mauer des Vordergrundes gemalt, als.
wolle er sich an jedem seines Könnens bewußt
werden, er hat jede Blume am Fuß der Mauer m
der Besonderheit ihres Wuchses entfaltet, jeden
Ast der beiden Bäume mit Blättern versehen. Er
sagte sich: „Ein Baum muß unbedingt Blätter ha-
ben, seine Aeste dürfen nicht Klumpen roter, wei-
8er oder gelber Watte tragen, wie diejenigen der
Landschaften von Richard Pietzsch. Ich gestehe-
zu, daß ich das Geheimnis. wenige Blätter an ge-
wissen Stellen für alle Blätter sprechen zu Iassen.
noch nicht gefunden habe, mein Biid wird ein Ge-
ständrtis dieser Unreife, aber auch ein Zeugnis
meines Eifers sein.“ Diese Wahrhaftigkeit ist die
Ursache der Poesie, welche von dem Jüngling auf
der Mauer herab in die Ebene zu den blauen Ber-
gen und getürmten Wolken die Landschaft durch-
zieht, als iöse sich die Mühsamkeit und Strenge
des Vordergrunds für den Betrachter wie für den
Künstler in das leichte Aufatmen der Ferne. Der-
gleichen ist angenehmer zu schauen, als die Por-
tärts von Samberger, der kaum Mund, Nase und
Augen zur Aehnlichkeit gebracht hat, ats schon
sein Pinsel in wütendem Freudentaumel Hinter-
grund, Kragen und Rock durch Geschwindigkeit be-
wältigt. Einem älteren Manne wie Uhde verzeiht
man, daß er in seiner „Ruhepause im Atelier“ sich
vieifach andeutend bewegt. So löste sich die voll-
endete Oberfläche der Werke Tizians im Alter auf
in ein lockeres Gewebe von Pinselstrichen, aber
mit jedem dieser Striche wies die zitternde Hand

des üreises zurück auf die unermeßliche Zahl der
Werke, in denen er sich einfach und reich, ehrlich,
selbständig und wahrhaftig ausdrückte als ein vor-
nehmer Künstler. Welche von den Mitgliedern
der Sezession werden es erreichen, noch im Alter
so zu erscheinen?

*

Nachtrag aus dem Jahre 1911: Seit dem
Jahre 1906 macht sich in der Berliner Sezession ein
frischerer Zug geltend. Man zeigt sogar graphische
Ausstellungen, in denen die unterdrückte Jugend
zur Geltung kommt. Im Jahre 1900 war jenes oben
erwähnte Bild Ludwig Bartnings das einzige
frische, jugendliche Werk, das ich in Sezessions-
ausstellungen entdecken konnte. Alle anderen Ta-
lente waren durch abstrakten Maldrill in Oei uni-
formiert. Ich entschioß mich daher, eine Schule
für Rhythmus in Zeichnung und Malerei zu erörf-
nen. Ihre Resultate wurden in vierhundert Ar-
beiten begabter junger Maler 1903 in München,
Breslau, Leipzig ausgestellt. Ich führte eine Fiille
von Talentproben in Aquarell, Bleistift, Kohle, Fe-
der, Tempera ins Feld gegen den voliendeten
Stumpfsinn einer niedergeknebelten, sezessionisti-
schen Jugend. AIs Beweis sind in meinem neue-
sten Werk „Unsere Kunstschule“ die Kritiken ein-
sichtiger Männer iiber jene Ausstellungen meiner
Schuie abgedruckt.

Seit dem Jahre 1905 regte ich die gesamte Ber-
liner Kunstwelt an durcli etwa dreißig kleine Ate-
lierausstellungen, in denen zur Sprache kam, was
die neuesten Berliner Sezessionskataloge zum be-
sten gebeti. Das von mir erschiossene und durch
die Spezialarbeiten „Rhythmus und Bilderbogen“
nebst „Unsere Kunstschule“ seit 1903 bekannte Ge-
biet der Konstruktion in Naturstudien wiirde ra-
scheren Eingang in die kiinstlerische Jugend fin-
den, wenn mein Schüler Karl Scheffler die Platt-
form von „Kunst und Künstler“ weniger benützte,
um seinen Meister zu belehren, sondern seinen
Lesern wörtliche Auszüge aus meinen Biichern
über Konstruktiori zum Besten gäbe.

Karl Scheffler ist auch heute noch der Meinung,
daß man die soeben in sechshundert Arbeiten mei-
ner Schule im Beriiner Kunstgewerbe-Museum der
Oeffentlichkeit vorgestelite wesentlich gereiftere
Jugend niederknebeln müsse. Diese Jugend hat
aber in diesen sechshundert Arbeiten geleistet, was
die Sezession nicht geleistet hat: eine anschauliche
Raumlehre fiir Naturstudien und Wandbild solcher
Maler, die den Schefflerschen Grundsatz „der Maler

muß dumm sein“ nicht anerkennen wollen.

*

Daß ich ais lehrender Mann im allgemeinen
auf Strenge dringe, gehört zu meinem Beruf, das
heißt zum Beruf eines Menschen, der hundert Mit-
tel gefunden hat, jungen Künstlern zu helfen, Es
gehört nicht zum Beruf von Männern, die immer
bloß auf der Jugend herumhacken, ohne ihr auch
nur einen Pfifferling praktisch brauchbarer Hilfe zu
bieten.

Meine Berliner Ausstellung verband Frische
mit Strenge. Aber wesentlich in ihr waren die
Gebietsersc’niießungen für junge Kräfte. Man erin-
nere sich nur an das Blumengebiet. Welche Fülle
praktischer Anwendungen sind hier schon in frühe-
ster Jugend möglich.

Ich lebe zwanzig Jahre fast ausschließlich un-
ter jungen Künstlern. Die wildesten Kerle haben
sich in meine Behandlung gegeben. Keiner wird
sagen können, daß ich seine Eigenart nicht geför-
dert hätte, indem ich sie kuitivierte.

Kunst, Demokratie und
Presse

Der lyrische Pharisäer

Den unbefreiten Knechten, die der Gott, der
Eisen wachsen ließ, bekanntiich nicht wollte, singt

jetzt ein Engel Kampflieder. Ein Musenkommis,
der ein passendes Gedicht für jedes Ereignis auf
Lager hat, fordert die Mitbürger auf, sich recht-
zeitig zu ermannen, denn

Es kommt der Tag, der Tag bricht an,

Ein Tag so hoffnungsjung und kiar:

Der zwöifte Januar.

Er bringt den Sieg nach der Gefahr.

Ein Tag voll hellem Morgenlicht,

Ein großer Tag, der Ketten bricht.

Er wird an- und auch Ketten brechen, nur dürft
ihr, Mitbiirger und Freunde,

ihn mißachten nicht,

Nur badet heut’ schon euer But
In dieses Tages Flammenglut
O schmiedet stählern euern Mut.

Was klemmen euch und drücken mag,

Denkt nur: es kommt, es kommt der Tag,

Der Widerhieb, der Gegenschlag!

Wenn euch der Junker schatzt und höhnt,
Wenn ihr beim teuren Brote stöhnt — . A'

Wenn ihr des Fleisches euch entwöhnt,

Wenn man der Kiinste Recht bedrängt,

Wenn euern Glauben man beengt —

Denkt an den zwölften Januar.

Um die Kunst soll sich Fritz Engel keine Sor-
gen machen. Von seinein Kollegen, dem „Pariser
Korrespondenten“ Viktor Auburtin, weiß er doch,
daß sie stirbt. Es wäre pietätlos, ihr dessortiertes
Sterbelager in den wilden Wahlkampf zu schleppen.
Die Blutbäder, die er seinen Mitbürgern und Freun-
den verschreibt, sind nur trockener Symbolismus;
aber sein Kummer um das bedrängte Recht der
Künste trieft so sehr von schmutziger Wässrigkeit,
daß der schwarzblaue Block dagegen als reiner
Kristall erscheint.

Beachtenswerte

Bücher

LOTHAR VON KUNOWSKI / Gertrud von
Kunowski

Unsere Kunstschule / Ein Handbuch dea
Lehrens und Lernens / Vierundneunzig große
Lichtducke: Akte, Porträts, Blumen, Tiere,
Stilleben, Wandbilder in allen Entwicklungs-
stuten

Lieg-nit.t / Dr. von Kunows.kis Verlag' für Nationat-
stenographie

FRAN^OIS RABELAIS v

Gargantua

Pantagruel / Vier Bücher
Deutsch von Engelbert Hegaur und Dr. Owlglaß
Mönchen / Verlag Albert Langen

ALFRED DÖBLIN

Lydia und Mäxchen

Veriag Josef Singer / Straßburg im Elsaß

LOTHAR VON KUNOWSKI
Durch Kunst zum Leben

Erster Band: Ein Volk von Genies

Zweiter Band: Sehöpferische Kunst

Fünfter Band: Licht und Helligkeit / Mit acht rhyth-.

miscben Studien von Gerlrud von Kunowski, des Ver-

fassers Schülerin

Sechster Band: Gesetr, Freiheit und Sittlichkeit dea
künstlerischan Schaffens

Slebenter Band: Rhythmus und BUderbogen / Grund-.
sätze meiner Zeichenschule

Jena Verlag Eugen Diederichs

JEAN SCHLUMBERGER
L’inquiete paternite

Edition de la Nouvelle Revue Franfaise Marcel
Riviere und Cie / Paris, 81 rue Jacob

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

712
 
Annotationen