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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 95 (Januar 1912)
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Walden, Herwarth: Dichten und Trachten
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Kunowski, Lothar: Schwebende Tonflächen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0315

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Zn ihrem Fest, dem lieben Presseball.“

Zum Küssen! Nochmal:

Hier sind erwacht die wunderholden Blüten
Die Damens steh’n verjcnü»t zum Tanz bereit.

PreisrätseJ

Welcher Altmeister der Reimkunst hat folgende
Verse gedichtet?

In unserm Kreise fühlt sich wohl,

Wer Feind von jedem Zwange,

Wer tüchtig trinkt, dabei ficjel
Mit nns kann halten Stange.

Wer sich am derben Witz erfreut
Und nie ein Freund von Traurigkeit,

Wer echten deutschen Frohsinn liebt,

Der ist uns stets willkommen!

Es dürfte den Lesern dieser Zeitschrift nicht
schwer fallen, den Autor zu erraten. Ich bitte um
rege Beteiligung. Wer annähemd richtig rät, wird
belobnt. Auflösung in nächster Nummer.

Trast

Schwebende Tonflächen

Von Lothar von Kunowski

Kant und Schopenhauer fanden, daß wir die
Natur nicht wahrnehmen, wie sie „an sich“ ist,
sondern, daß die Eigenschaften der Gegenstände
bedingt sind durch unsere Sinne. Daß wir eine
Rose rot sehen, einen Apfel rund, ein Glas durch-
sichtig, liegt nicht an den Dingen allein, sondern
auch an uns. Wie Rose und Apfel eigentlich aus-
»ehen, unabhängig von unseren Sinnesorganen,
wissen wir nicht. Hätten wir andere Organe,
würden wir sie anders sehen. Was wir wahr-
nehmen, ist die Erscheinung, nicht das Ding selbst.
Ehe wir ein Ding als Wesen auffassen, bedarf es
mehrerer Wahrnehmungen. Wir sehen das Glanz-
licht auf dem Apfel, seine rote Farbe, daß er rund
ist, rollen kann, vom Baume fällt, Samen enthält,
aus dem eine neuer Baum entsteht. Die einzel-
nen Wahrnehmungen werden zum Ganzen verar-
beitet zur Vorstellung: „Apfel“. Diese Vorstellung
ist also allmählich erworbenes Gut, mit dem wir
unabhängig vom Gegenstande schalten und walten.
Auf dieser Tatsache beruht die iMöglichkeit der
Kunst. Um in jemand die Vorstellung „Apfel“ her-
vorzurufen, bedarf ich nicht einmal eines wirklichen
Apfels, von dem ich, wie gesagt, nicht weiß, wie er
unabhängig von meinem Auge aussieht. Meine
Sinnesorgane vermögen diese Vorstellung auch zu
erzeugen, wenn ich einen Apparat herstellte, der an
Steile des Apfels auf sie einwirkt. Diesen Appa-
rat gibt die Kunst in ihren Werken. Ein Stück
schwarze Kohle, vom Künstler im Kreise geführt,
genügt, uns einen Apfel sehen zu lassen. Wir
können weder den Apfel noch seine Erscheinung
nachmachen, dagegen auf Papier Striche, Linien
und Flächen geben, deren Verhältnis hilft, einen
Apfel sich vorzustellen. Das Nichtwissen dieser
Tatsachen veranlaßt den Anfänger, eine dunkle
Stelle der Natur a,uch auf dem Papier genau so
schwarz zu machen und überhaupt jeden Schatten-
ton einze'In von der Natur abzulesen und auf das
Papier zu übertragen. Er weiß nicht, daß es gleich-
gültig ist, ob die Schwärze-Skala seines Materials,
beschränkt oder unbeschränkt, der Natur gleich
oder ungleich ist, sondern daß ausschlaggebend
allein das Verhältnis der Schattentöne seines Bil-
des zueinander ist, weil nicht der materielle Schat-
ten, sondern nur die Verhältnisse seiner Abstufun-
»en in unserem Auge die Vorstellung des Apfels
erwecken.

Daraus folgt also, daß es gleichgültig ist, ob ich
den Gegenstand mit Linien oder Flächen, oder mit

beiden zugleich darstelle, ob alle Schatten voll-
ständig sind oder nicht. Der Schüler glaubt, die
Zeichnung sei erst vollständig, wenn alle Schatten,
die er am Modell unterscheidet, auch in seiner
Zeichnung wirklich existieren, er weiß nicht, daß
dies überhaupt. upmöglich ist, daß es im Belieben
des Kßnstlers steht, die Zahl der Stufen zu bestim-
men, daß Wesen und Möglichkeit der Skizze darauf
beruhen. Was in der Skizze angedeutet ist, voll-
endet das Auge.

Das eigentliche Geheimnis der Zeichenkunst ist
folgendes: Das Auge gewahrt Schatten, wo gar
„keine gezeichnet sind, wo weißes Papier ist, und
. zwar sieht es das nicht hier und da, sondern in
jeder guten Zeichnung. Und ich behaupte: je mehr
eine Zeichnung uns veranlaßt, Schattentöne zu
sehen, die in Wirklichkeit nicht da sind, desto bes-
ser ist sie. Will der Künstler alle Schatten selber
machen, so ist er Stümper und seine Arbeit wirkt
tot; will er mit so wenig als möglich Strichen nicht
Schatten machen, sondern kompliziierte Schatten
sehen lassen, so ist er ein Genie. Man kann weder
Licht noch Finsternis noch Helligkeit und Dunkel
zeichnen, sondern nur durch schwarze Linien auf
weißem Papier die Vorstellung davon erwecken.
Ja, man kann auch nicht einmal das, was w ;iß,
schwarz und grau an den Gegenständen ist, nach-
machen, da das Schwarz der Kohle, Kreide und des
Bleistifts auf dem Papier nichts zu tun hat mit dem
in der Natur; denin wenn es für den Beschauer nur
irgend eine Verwandschaft mit ihm hätte. würde
alles Schwarze in der Zeichnung als Farbe an den
Gegenständen aufgefaßt werden, nichts davon als
Schatten. Die Schwierigkeit des Zeichnens besteht
darin, daß der Künstler die Verwobenheit sämtlicher
Eindrücke von Licht und Finsternis, Weiß und
Schwarz, Violett und Grün, Heliigkeit und Dunkel-
heit nur mit dem materiellen Schwarz seines Grif-
fels ausdrücken soll, fndem er es dahinbringt, das
Schwarz des Griffels zu vergeistigen und zu über-
setzen in die verschiedenen Elemente der Natur-
erscheinung.

Auch würde eine Zeichnung in der Phantasie
des Betrachters niemals räumlich wirken, sich vom
Papier lösen und frei darüber stehen ohne Ent-
wicklung der scheinbaren Tonflächen. Man zeichne
auf weißes Papier groß hinschauend ein Quadrat,
in dessen Ecke ein kleineres, in dieselbe Ecke ein
noch kleineres und so weiter, also etwa fünf Qua-
drate. Dann wird man bemerken, daß die Fläche
des größten Quadrates dunkler erscheint als die
des Papieres ringsum und das zweite Quadrat
dunkler als das erste, das dritte dunkler als das
zweite. und so weiter. In demselben Augenblick
aber, da man die scheinbaren Tonflächen bemerkt,
werden die Quadrate und ihre Flächen lebendig,
sie werden plastisch, bilden einen Raum. Die
Flächen schweben über oder unter dem Papier.
Wir sehen die Quadrate als eine Treppe, die in
eine Vertiefung führt, oder als einen langen Gang,
der in Abschnitte eingeteilt ist durch Pfeiler und
Balken, oder als pyramidenförmig aufsteigende
Treppe. Das kleine wird oft im Gegensatz zu den
übrigen blendend hell erscheinen wie ein Glanzlicht
in einem tiefen Schatten. Und tatsächlich ent-
stehen in der Zeichnung eines Künstlers die Glanz-
lichter in tiefen Schatten durch den lebhaften Kon-
trast, der eine kleine Fläche im Gegensatz zu den
umrahmenden Strichen plötzlich viel heller als den
Papierrand erscheinen läßt. Die übrigen Stufen
haben dann den Charakter der Durchsichtigkeit,
wie ihn alle Schatten haben. Nur an der Stelle des
Glanzlichtes scheint eine undurchsichtige Stelle zu
liegen, welche selbst Licht ausstrahlt. Erhöht wird
der Eindruck des Plastischen, wenn man die Qua-
drate, je kleiner sie werden, mit desto breiteren
Strichen umgibt. So erhöht man das Schema jedes
Schattens. Denn auch in der Natur gehen die
Schatten nicht schleichend aus dem Dunkel in dio
Lichtseite über, sondern in Stufen, die durch feine,
dunkle Linien abgegrenzt sind, die nach der Licht-
seite zu immer feiner, die Flächen dazwischen brei-

ter und heller werden. Nun ist aber die Skala der
Natur von Schattenlinie zu Schattenlinie und von
Fläche zu Fläche eine andere -als die des Griffels.
Folglich wird der Künstler, sein Material anders
zerlegen, andere Striche, andere Zwischenräume
oder Flächen bilden, um den Effekt der Natur zu
erreichen. Deren Schatten erscheinen durchsich-
.tig, und nicht als wären sie schwarz gezeichnet,
sondern wie ein Schleier über dem Grund der Lo-
kalfarbe. Das eben erreicht der Künstler nie durch
bloße Nachahmung, sondern durch Striche, die frei-
schwebende, scheinbare Tonflächen erzeugen. Sie
entsprechen den Schattenflächen und Farben der
Natur.

Reine Umrißzeichnungen können Plastik, Far-
benwerte, Schatten, Räume in der Vorstellung
wachrufen. Im Umriß eines Mannes kann man
einen weißen Kragen, helle Hosen und einen dunk-
len Rock gewahren, wo doch überall gleich weißes
Papier ist. Das Kleid einer Dame, ihre Hände,
Hut, Haare, die Erde. Himmel, Wolken können be-
leuchtet, beschattet und in unzähligen Abtönungen
erscheinen, das Kleid heller als die Hand, die Hand
heller als den Erdboden, die Wolken heller als der
Himmel und dieser leuchtender als die Gestalt, ohne
daß im Umriß Schatten oder die Tonwerte der
Körperfarbe eigens gezeichnet wurden. Man prüfe
an Zeichnungen bedeutender Mejster, was ich sage.
Umrisse beeinflussen sich gegenseitig, ihre Ueber-
schneidung kann das Auge zwingen, den Umriß
des vorderen Gegenstandes abzuheben von dem
des hinteren. Also Licht und Schatten, Schwarz,
Weiß, Farbe, Raum, Bewegung werden nicht von
der Natur abgeschrieben, sondern man zerlegt die
Erscheinung der Natur in Elemente, die zusammen-
gestellt eine Zeichnung, das heißt einen Apparat
ergeben, der das Auge nötigt, Licht, Schatten,
Schwarz, Weiß, Raum, Bewegung, einen Gegen-
stand selbst zu erzeugen, ohne daß die Zeichnung
selber auch nur eine Spur von Verwandtschaft mit
der Natur zu haben braucht.

Die Entdeckung der schwebenden Tonflächen
ist von fundamentaler Bedeutung.

Unter schwebenden Tonflächen verstehe ich
hier und da sichtbare Kontraste zwischen dunklen
und hellen Flächen des Zeichners, helle Ränder, die
jeder ringsum als schwarzes Viereck auf weißer
Fläche beobachten kann oder ähnliche Erscheinun-
gen. Ich verstehe darunter die Tatsche, daß die
Gesamtfläche eines Papiers, eines Steins, einer ge-
tönten Leinwand einen Tonwert in der Vorstellung
des Betrachters repräsentiert, der durch jede Be-
rührung mit dem Griffel, Meißel, Pinsel, also durch
Schwärzen, Vertiefungen, Farben erschüttert, auf-
gerührt, verändert, modelliert wird, indem Striche*
Vertiefungen, Farbenflecke sich aus Rohstoff in
Andeutungen von Gestalten, Ornamenten, eben ver-
wandeln wollen, also eine Umwandlung in unserem
Bewußtsein erfahren. Diese Umwandlung des
Rohstoffes erstreckt sich nämlich sofort auch auf
die ganze Fläche von Papier, Stein, Leinwand, die
gleichsam von einem feinen Nebel überzogen zu
sein scheint, von einem Vorstellungsnebel, dem
Chaos, aus welchem der Künstler durch Linie,
Meißelhieb und Pinselstrich eine klare Vorstellung
planmäßig entwickelt, indem er sein Material hand-
habend, zeichnend, meißelnd, malend der ihm geis-
tig vorschwebenden Vorstellung eine Art Klaviatur
für das Auge unterschiebt, auf der es jederzeit die
Vorstellung des Künstlers nachspielen kann. Daß
diese Klaviatur der Form-, Licht-, Farben-, Raum-
erreger, also der Elemente des Kunstwerks, ein
Gesetz haben muß wie das Instrument des Musikers
oder die Sprache des Dichters, ist einleuchtend.

Die schwebenden Töne machen sich nicht nur
auf weißem Papier geltend oder nur zwischen
schwarzen Strichen. Sie können auch schwarze
Flächen grau erscheinen iassen: man zeichne mit
weißer Kreide auf schwarzem Karton den Umrii
einer Gestalt und die Horizontlinie, und man wird
deutlich sehen, daß die Fläche, die den Himmel be-
deutet, viel heller als die Gestalt erscheint, wiewohl

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