Und der Staalsrat kam.
Und der Kaiser Moritz sagte laut:
„Ich sterbe jetzt und sage Euch feierlich: ich war
der richtige Kaiser, denn ich liess Alles so gehen, wie
es ging. Ihr aber seid die Narren, weil Ihr etwas
Daseiendes in andere Bahnen lenken wollt — während
es doch nur eine einzige Bahn gibt, die die richtige
ist — die Bahn, die klar und sicher zum Tode führt.
Warum lehrtihr nicht den Utopianern, dass sie sterben
sollen vom ersten Moment ihres Lebens an? Nur
das Sterben macht glücklich — das Hinschwinden —
das stille Vergehen. Ich wolite, ich könnte das ganze
Kaiserreich Utopia mitnehmen — mit Euch Allen zu-
sammen sterben. Es ist wirklich das Beste von Allem.
Icn fiihls Sie tanzen wieder — die alten Oreise —
ich sehe sie — sie werden kindisch — und die Qe-
danken tanzen mit und die Köpfe rollen Qber das
Meer — hinaus in die Unendlichkeit — da brauchen
sie nicht mehr zu leben — da ist es endiich zu Ende
— da versinkt Ailes — Alles — und es braucht kein
Kopf mehr zu leiden — ich auch nicht lch segne
mein Kaiserreich! Möge es sterben, so selig — wie
ich — jetzt hingehe — in die — bunte Nacht — in
der Alles — ruhig ist “ —
Des Kaisers Kopf sank zurück.
Die Mitglieder des Staatsrates bew'egten sich nicht
LXXIV
Die Explosion
Während der Kaiser Moritz die Ietzten Augenbiicke
seines Lebens durchschwärmte, gescnah am Schwantu-
fiusse etwas Ungeheuerliches; mit furchtbarem Knall
explodierte eine der Leichen, dass das, eiserne Dach
in tausend Stücken hoch in die Luft flog, eines der
Eisenstücke verletzte beim Herunterfallen einen Gelehrten
nicht unerheblich am Knie.
Nun wurden sofort die anderen eisernen Dächer
runtergerissen aber kaum war das geschehen, so
explodierte die zweite Leiche . sodass kein Atom von
ihr übrig blieb.
Und diesen ersten Expiosionen folgten nun immer
mehr — sodass man die übrig bleibenderi mit erhöhtem
Eifer pbotographieren musste — was sich auch ver-
lohnte, da die Leichen kurz vor der Explosion die
aüerherrlichsten Gebilde zeigten; aus den A tknorren
wurden grosse korallenartige Gewächse, die an den
Spitzen fächerförmige Biätter bekamen.
Diese fächerförmigen Biätter opalisierten in ailen
Farben so glühend und strahlend wie die ailerköstlichsten
Blumen, und die Künstler waren ganz toll beim An-
blick dieser entzückenden Leichenwunder, die immer
herrlicher sich entfaiteten. Es war so, als soilten aile
Formen und Farben der Erde noch einma! im er-
sforbenen Menschenkörper in zusammenfassender Weise
vorgeführt werden.
Von der menschlichen Körperform blieb am Ende
nur der Kopf noch erkenntlich, der Leib sah wie ein
riesiger Blumenkorb aus — mit Korallen und langen
Tintenfischgliedern und muschelartigen Wölbungen und
mit grossen Seesternen und grossen Krystallformen
und mit Perlen von urrbeschreiblicher scliiilernder welt-
spiegelnder Glanzpracht.
LXXXV
Phüanders Rückkehr
Kaum aber hatten die Aerzte den Tod des Kaisers
Moritz konstatiert, so erschien in der hohen offenen
Türe der Kaiser Philander im Purpurmantel mit der
Krone auf dem schneeweissen Haupthaar und mit dem
langen weissen Bart.
Der Kaiser Philander stand in der Tiire ganz still
und starrte seinen Staatsrat an, und der Staatsrat sah
seinen alten Kaiser an, als sähe er ein Gespenst.
Und es bedurfte einiger Minuten, ehe man sich
wieder an die Gegenwart des alten Kaisers gewöhnte.
Der Philander musste doch lächeln, als er sah,
wie unheimlich sein Erscheinen wirkte; als ihm aber
mitgeteilt wurde, dass der Kaiser Moritz soeben ge-
storben sei — da sträubten sich dem Kaiser Phiiander
unter der Perücke die Haare in die Höhe.
Dann aber liess der alte Kaiser sofort die Maschinen,
die für die Todesposaunen gebaut waren, in Bewegung
setzen — und dann erdröhnten die mächtigen Posaunen
so gewaltig, das ganz Uläleipu erwachte.
Und die Todesposaunen erschütterten die Luft
drei volie Stunden hindurch, und alle Fenster in den
Häusern der Residenz wurden hell; es war eine finstere
Nacht — Wolken verhüllten den ganzen Himmel.
LXXVI
Der kranke Philander
Am Abend des nächsten Tages wollte Philander
seinen Staatsrat rufen lassen und seine ganze Kraft
zeigen da fühlte er etwas Schweres in den Beinen
und er sah zufällig seine linke Hand an und sah
blaue, rote und grüne Flecken auf dieser linken Hand.
Philander rief den Beamten zurück, der den Staats-
rat rufen sollte.
„Lass den Staatsrat! Hole die Aerzte! Bringt
mich zu Bett.“
Es geschah, wie er sagte.
Und die Trauerkunde von der Erkrankung des
Kaisers ging durch das ganze Land; aber es zeigte
sich keine Teilnahme — nur der Astronom Haberland
erschrak sehr, als er vom kranken Philander hörte.
LXXVIl
Die Hand
Kaum lag der Philander im Bette, so zuckte ein
Gedanke durch sein Gehirn, sodass er sich plötzlich
hoch aufrichtete.
„Messer! Messer!“ schrie er.
Man verstand nicht, was er wollte. Doch da
kamen die Aerzte, und denen schrie er schnell zu:
„Amputiert mir die Hand I“
Doch mit Blitzesgeschwindigkeit hatte ein jüngerer
Arzt das Hemd von der Brust aufgerissen — und da
waren auch schon auf der Brust die Flecke.
„Es ist zu spät!“ sagte er traurig.
Da brüllte der Kaiser auf wie ein wildes Tier —-
und sank dann weinend in die Kissen zurück.
LXXVIII
Die Vorwürfe
Und der kranke Philander sprach heftig in seinem
Innern, während seine Lippen bebten:
„Ich habe mir in meinem Leben zu viel Zeit ge-
lassen — Das nun ist die Strafe! Ich bin der Ge-
nusssucht nicht heftig genug begegnet. Das ist nun
die Strafe! Kurs vorm Ziei ein kranker Mannl Und
welche Krankheit! Der Triumph der Genusssucht ist
diese Krankheit. Ich hätte schon früher begreifen
sollen, dss „Geniessen“ nicht „Leben“ heisst. Das
wäre doch zu leicht. Warum habe ich nicht in meinen
jüngeren Jahren das Volk aufgerüttelt — wie yichs
wolite ? Ich werde furchtbar bestraft Und diese
weiche Stimmung. Und diese Wonne in allen Gliedern!
Oh — wie verführerisch ist das Genussleben — war
ich für das grosse Weltenleben noch nicht reif?“
Er machte aus seinen beiden Händen zwei knochige
Fäuste.
LXXIX
Die Wut
„Ich will raus aus diesem Bett!“ schrie er plötzlich.
„Ich will,“ schrie er noch heftiger „auf dem Seebalkon
sterben — vor allem Volk! Hebt mich raus!“
Man hob den Kaiser auf und setzte ihn auf einen
Sessel.
„Der Sessel ist mir zu weich!“ schrie er wieder.
Da sagte aber der Oberarzt:
„Grandiosität dürfen nicht hart sitzen. Grandiosität
dürfen auch nicht auf den Seebalkon getragen werden;
es regnet. Es ist doch möglich, dass die Krankheit
vorübergeht — und dementsprechend müssen wir
vorsichtig sein.“
Da sah der Kaiser mit leuchtendem Auge auf und
rief: „Ja — ich will gesund werden — lasst mich
allein!“ Und Alle gingen hinaus und liessen den
Kaiser allein.
Fortsetzung folgt
Marie-CIaire
Eines Abends machte mich Francis Jourdain zum
Vertrauten des schweren Schicksals einer Frau, der er
als Freund sehr nahe stand.
Sie war Schneidcrin, sehr kränklich, sehr arm,
oft fehlte ihr das Brot — sie hiess Marguerite Audoux Da
sie eines schmerzhaften Augenleidens wegen nicht mehr
nähen noch lesen ko.nnte, fing sie an zu schreiben.
Sie schrieb ircht in der Erwartung, dass ihre Werke
veröffentlicht vvürden. Sie schrieb, um nicht immer
an ihr Elend denken zu müssen, um ihre Einsamkeit
zu beleben, sich gleichsam eine Gesellschaft zu schaffen,
und wohl auch, weil ihr das Schreiben F'reude machte.
Er nannte tuir ein Werk von ihr, das ihm sehr
schön schien. Er bat mich, es zu lesen lch mag
den Geschmack von Francis Jourdain gut leiden und
schätze ihn sehr Seine Geistesrichtung, seine sensible
Art rmchen mir unendlich viel Freude. Beim Einhän-
digen des Manuskripts fügte er noch hinzu:
„Unser guter Philipp bewundert es sehr. Er hätte
es gern gesehen, wenn das Buch erschienen wäre.
Aber was konnte er iür andere tup, er — der für
sich selbst nichts vermochte?“
Ich bin davon durchdrungen, dass gute Bücher
ihre unzerstörbare Kraft in sich selbst tragen Sie
mögen von noch so weither kommen, noch so ver-
borgen sein im Elend einer kleinen Arbeiterwohnung
— es kommt immer der Augenblick, der sie ans Licht
zieht . . . Gewiss: inan hasst sie . . . man leugnet
oder beschimpft sie. Was tut das? Sie sind stärker
als ailes und alle.
Und der Beweis ist, dass Marie-Claire heuie in
Buchtorm bei Fasquelle erscheint.
Es ist ntir eine Freude, von diesem wundervollen
Buch zu sprechen, und ich möchte aus der Tiele
meiner Seele aile dafür erwärmen, die noch Sinn haben
für gute Bücher. Gleich mir werden s^e eine sehene
Freude aus jhnt schöpfen, starkc und neue Eindriicke.
Marie-Claire ist ein Werk von erlesenem Geschmack.
Seine Einfachheit, Wahrhaftigkeit, seine geistreiche
Eleganz, seine 'liefe und Neuartigkeit packen. Alles
ist an seinem Piatze: Dinge, Landschaften und Meiischen.
Sie tragen alle ihr eigenes Gesicht und sind so gross-
zügig und lebendig gezeichnet, dass sie unvergessiich
bleiben Niemals gieitet der Stift aus, nicmals wünscht
man ihm eine andere Richtung. Jeder Strich sitzt,
ist farbig und pittoresk Vor allem verblüfft und be-
zwingt die Kraft der Verinnerlichung, ein warines,
weiches Leuchten, das aus den Seiten entgegenstrahlt,
die Sonne an einem schönen Sotnmermorgen. Und
oftmals gleiten Sätze an uns vorüber, wie nur grosse
Schriftsteller sie schreiben können: Kiänge, die wir
nicht mehr oder kaurn noch hören und die uns ent-
zücken
Und da setzt das Wunder ein
Marguerite Audoux war nicht etwa eine „deklassierte
Intellektuelle“, sie war wirklich die kleine Schneiderin,
die bald in die Häuser ging, unt dort für drei Franks
täglich zu nähen, bald bei sich in ihrem Ziinmerchen
arbeitete ; es war so schmal, dass sie imnter erst die
Puppe fortrücken musste, wenn sie sich an die Näh-
maschine setzen wollte
Sie erzähit, wie sie ein altes Buch auf dem Boden
einer Meierei, wo sie die Schafe hütete, entdeckte,
das ihr eine neue Welt erschloss Seit jenem Tage
las sie mit immer wachsender Leidenschaft, was ihr
in die Hände fiel: Feuilletons, alte Kalender undso-
weiter. Ein brennender, aber doch noch uneinge-
standener Wunsch regte sich in ihr: sie selbst wolite
Geschichten schreiben Dieser Wunsch ging an dem
Tage in Erfüllung, da der Arzt des Krankenhauses
Hotel-Dieu ihr erklärte, dass sie bestimmt erblinden
müsste, wenn sie das Nähen nicht aufgäbe
Journalisten erfanden dann die niedliche Geschichte,
Marguerite Audoux hätte damals ausgerufen: „Da ich
keine Blusen mehr nähen kann, werde ich ein Buch
schreiben.“ Diese Legende, die der Vorliebe des
Spiessbürgers für alles Absonderliche entgegenkommt
und zugleich ihre Geringschätzung der Literatur kenn-
zeichnet, ist unrichtig und albern.
In der Verfasserin vou „Marie-Claire“ lässt sich die
Neigung zur Literatur nicht von einer gewissen vor
454
Und der Kaiser Moritz sagte laut:
„Ich sterbe jetzt und sage Euch feierlich: ich war
der richtige Kaiser, denn ich liess Alles so gehen, wie
es ging. Ihr aber seid die Narren, weil Ihr etwas
Daseiendes in andere Bahnen lenken wollt — während
es doch nur eine einzige Bahn gibt, die die richtige
ist — die Bahn, die klar und sicher zum Tode führt.
Warum lehrtihr nicht den Utopianern, dass sie sterben
sollen vom ersten Moment ihres Lebens an? Nur
das Sterben macht glücklich — das Hinschwinden —
das stille Vergehen. Ich wolite, ich könnte das ganze
Kaiserreich Utopia mitnehmen — mit Euch Allen zu-
sammen sterben. Es ist wirklich das Beste von Allem.
Icn fiihls Sie tanzen wieder — die alten Oreise —
ich sehe sie — sie werden kindisch — und die Qe-
danken tanzen mit und die Köpfe rollen Qber das
Meer — hinaus in die Unendlichkeit — da brauchen
sie nicht mehr zu leben — da ist es endiich zu Ende
— da versinkt Ailes — Alles — und es braucht kein
Kopf mehr zu leiden — ich auch nicht lch segne
mein Kaiserreich! Möge es sterben, so selig — wie
ich — jetzt hingehe — in die — bunte Nacht — in
der Alles — ruhig ist “ —
Des Kaisers Kopf sank zurück.
Die Mitglieder des Staatsrates bew'egten sich nicht
LXXIV
Die Explosion
Während der Kaiser Moritz die Ietzten Augenbiicke
seines Lebens durchschwärmte, gescnah am Schwantu-
fiusse etwas Ungeheuerliches; mit furchtbarem Knall
explodierte eine der Leichen, dass das, eiserne Dach
in tausend Stücken hoch in die Luft flog, eines der
Eisenstücke verletzte beim Herunterfallen einen Gelehrten
nicht unerheblich am Knie.
Nun wurden sofort die anderen eisernen Dächer
runtergerissen aber kaum war das geschehen, so
explodierte die zweite Leiche . sodass kein Atom von
ihr übrig blieb.
Und diesen ersten Expiosionen folgten nun immer
mehr — sodass man die übrig bleibenderi mit erhöhtem
Eifer pbotographieren musste — was sich auch ver-
lohnte, da die Leichen kurz vor der Explosion die
aüerherrlichsten Gebilde zeigten; aus den A tknorren
wurden grosse korallenartige Gewächse, die an den
Spitzen fächerförmige Biätter bekamen.
Diese fächerförmigen Biätter opalisierten in ailen
Farben so glühend und strahlend wie die ailerköstlichsten
Blumen, und die Künstler waren ganz toll beim An-
blick dieser entzückenden Leichenwunder, die immer
herrlicher sich entfaiteten. Es war so, als soilten aile
Formen und Farben der Erde noch einma! im er-
sforbenen Menschenkörper in zusammenfassender Weise
vorgeführt werden.
Von der menschlichen Körperform blieb am Ende
nur der Kopf noch erkenntlich, der Leib sah wie ein
riesiger Blumenkorb aus — mit Korallen und langen
Tintenfischgliedern und muschelartigen Wölbungen und
mit grossen Seesternen und grossen Krystallformen
und mit Perlen von urrbeschreiblicher scliiilernder welt-
spiegelnder Glanzpracht.
LXXXV
Phüanders Rückkehr
Kaum aber hatten die Aerzte den Tod des Kaisers
Moritz konstatiert, so erschien in der hohen offenen
Türe der Kaiser Philander im Purpurmantel mit der
Krone auf dem schneeweissen Haupthaar und mit dem
langen weissen Bart.
Der Kaiser Philander stand in der Tiire ganz still
und starrte seinen Staatsrat an, und der Staatsrat sah
seinen alten Kaiser an, als sähe er ein Gespenst.
Und es bedurfte einiger Minuten, ehe man sich
wieder an die Gegenwart des alten Kaisers gewöhnte.
Der Philander musste doch lächeln, als er sah,
wie unheimlich sein Erscheinen wirkte; als ihm aber
mitgeteilt wurde, dass der Kaiser Moritz soeben ge-
storben sei — da sträubten sich dem Kaiser Phiiander
unter der Perücke die Haare in die Höhe.
Dann aber liess der alte Kaiser sofort die Maschinen,
die für die Todesposaunen gebaut waren, in Bewegung
setzen — und dann erdröhnten die mächtigen Posaunen
so gewaltig, das ganz Uläleipu erwachte.
Und die Todesposaunen erschütterten die Luft
drei volie Stunden hindurch, und alle Fenster in den
Häusern der Residenz wurden hell; es war eine finstere
Nacht — Wolken verhüllten den ganzen Himmel.
LXXVI
Der kranke Philander
Am Abend des nächsten Tages wollte Philander
seinen Staatsrat rufen lassen und seine ganze Kraft
zeigen da fühlte er etwas Schweres in den Beinen
und er sah zufällig seine linke Hand an und sah
blaue, rote und grüne Flecken auf dieser linken Hand.
Philander rief den Beamten zurück, der den Staats-
rat rufen sollte.
„Lass den Staatsrat! Hole die Aerzte! Bringt
mich zu Bett.“
Es geschah, wie er sagte.
Und die Trauerkunde von der Erkrankung des
Kaisers ging durch das ganze Land; aber es zeigte
sich keine Teilnahme — nur der Astronom Haberland
erschrak sehr, als er vom kranken Philander hörte.
LXXVIl
Die Hand
Kaum lag der Philander im Bette, so zuckte ein
Gedanke durch sein Gehirn, sodass er sich plötzlich
hoch aufrichtete.
„Messer! Messer!“ schrie er.
Man verstand nicht, was er wollte. Doch da
kamen die Aerzte, und denen schrie er schnell zu:
„Amputiert mir die Hand I“
Doch mit Blitzesgeschwindigkeit hatte ein jüngerer
Arzt das Hemd von der Brust aufgerissen — und da
waren auch schon auf der Brust die Flecke.
„Es ist zu spät!“ sagte er traurig.
Da brüllte der Kaiser auf wie ein wildes Tier —-
und sank dann weinend in die Kissen zurück.
LXXVIII
Die Vorwürfe
Und der kranke Philander sprach heftig in seinem
Innern, während seine Lippen bebten:
„Ich habe mir in meinem Leben zu viel Zeit ge-
lassen — Das nun ist die Strafe! Ich bin der Ge-
nusssucht nicht heftig genug begegnet. Das ist nun
die Strafe! Kurs vorm Ziei ein kranker Mannl Und
welche Krankheit! Der Triumph der Genusssucht ist
diese Krankheit. Ich hätte schon früher begreifen
sollen, dss „Geniessen“ nicht „Leben“ heisst. Das
wäre doch zu leicht. Warum habe ich nicht in meinen
jüngeren Jahren das Volk aufgerüttelt — wie yichs
wolite ? Ich werde furchtbar bestraft Und diese
weiche Stimmung. Und diese Wonne in allen Gliedern!
Oh — wie verführerisch ist das Genussleben — war
ich für das grosse Weltenleben noch nicht reif?“
Er machte aus seinen beiden Händen zwei knochige
Fäuste.
LXXIX
Die Wut
„Ich will raus aus diesem Bett!“ schrie er plötzlich.
„Ich will,“ schrie er noch heftiger „auf dem Seebalkon
sterben — vor allem Volk! Hebt mich raus!“
Man hob den Kaiser auf und setzte ihn auf einen
Sessel.
„Der Sessel ist mir zu weich!“ schrie er wieder.
Da sagte aber der Oberarzt:
„Grandiosität dürfen nicht hart sitzen. Grandiosität
dürfen auch nicht auf den Seebalkon getragen werden;
es regnet. Es ist doch möglich, dass die Krankheit
vorübergeht — und dementsprechend müssen wir
vorsichtig sein.“
Da sah der Kaiser mit leuchtendem Auge auf und
rief: „Ja — ich will gesund werden — lasst mich
allein!“ Und Alle gingen hinaus und liessen den
Kaiser allein.
Fortsetzung folgt
Marie-CIaire
Eines Abends machte mich Francis Jourdain zum
Vertrauten des schweren Schicksals einer Frau, der er
als Freund sehr nahe stand.
Sie war Schneidcrin, sehr kränklich, sehr arm,
oft fehlte ihr das Brot — sie hiess Marguerite Audoux Da
sie eines schmerzhaften Augenleidens wegen nicht mehr
nähen noch lesen ko.nnte, fing sie an zu schreiben.
Sie schrieb ircht in der Erwartung, dass ihre Werke
veröffentlicht vvürden. Sie schrieb, um nicht immer
an ihr Elend denken zu müssen, um ihre Einsamkeit
zu beleben, sich gleichsam eine Gesellschaft zu schaffen,
und wohl auch, weil ihr das Schreiben F'reude machte.
Er nannte tuir ein Werk von ihr, das ihm sehr
schön schien. Er bat mich, es zu lesen lch mag
den Geschmack von Francis Jourdain gut leiden und
schätze ihn sehr Seine Geistesrichtung, seine sensible
Art rmchen mir unendlich viel Freude. Beim Einhän-
digen des Manuskripts fügte er noch hinzu:
„Unser guter Philipp bewundert es sehr. Er hätte
es gern gesehen, wenn das Buch erschienen wäre.
Aber was konnte er iür andere tup, er — der für
sich selbst nichts vermochte?“
Ich bin davon durchdrungen, dass gute Bücher
ihre unzerstörbare Kraft in sich selbst tragen Sie
mögen von noch so weither kommen, noch so ver-
borgen sein im Elend einer kleinen Arbeiterwohnung
— es kommt immer der Augenblick, der sie ans Licht
zieht . . . Gewiss: inan hasst sie . . . man leugnet
oder beschimpft sie. Was tut das? Sie sind stärker
als ailes und alle.
Und der Beweis ist, dass Marie-Claire heuie in
Buchtorm bei Fasquelle erscheint.
Es ist ntir eine Freude, von diesem wundervollen
Buch zu sprechen, und ich möchte aus der Tiele
meiner Seele aile dafür erwärmen, die noch Sinn haben
für gute Bücher. Gleich mir werden s^e eine sehene
Freude aus jhnt schöpfen, starkc und neue Eindriicke.
Marie-Claire ist ein Werk von erlesenem Geschmack.
Seine Einfachheit, Wahrhaftigkeit, seine geistreiche
Eleganz, seine 'liefe und Neuartigkeit packen. Alles
ist an seinem Piatze: Dinge, Landschaften und Meiischen.
Sie tragen alle ihr eigenes Gesicht und sind so gross-
zügig und lebendig gezeichnet, dass sie unvergessiich
bleiben Niemals gieitet der Stift aus, nicmals wünscht
man ihm eine andere Richtung. Jeder Strich sitzt,
ist farbig und pittoresk Vor allem verblüfft und be-
zwingt die Kraft der Verinnerlichung, ein warines,
weiches Leuchten, das aus den Seiten entgegenstrahlt,
die Sonne an einem schönen Sotnmermorgen. Und
oftmals gleiten Sätze an uns vorüber, wie nur grosse
Schriftsteller sie schreiben können: Kiänge, die wir
nicht mehr oder kaurn noch hören und die uns ent-
zücken
Und da setzt das Wunder ein
Marguerite Audoux war nicht etwa eine „deklassierte
Intellektuelle“, sie war wirklich die kleine Schneiderin,
die bald in die Häuser ging, unt dort für drei Franks
täglich zu nähen, bald bei sich in ihrem Ziinmerchen
arbeitete ; es war so schmal, dass sie imnter erst die
Puppe fortrücken musste, wenn sie sich an die Näh-
maschine setzen wollte
Sie erzähit, wie sie ein altes Buch auf dem Boden
einer Meierei, wo sie die Schafe hütete, entdeckte,
das ihr eine neue Welt erschloss Seit jenem Tage
las sie mit immer wachsender Leidenschaft, was ihr
in die Hände fiel: Feuilletons, alte Kalender undso-
weiter. Ein brennender, aber doch noch uneinge-
standener Wunsch regte sich in ihr: sie selbst wolite
Geschichten schreiben Dieser Wunsch ging an dem
Tage in Erfüllung, da der Arzt des Krankenhauses
Hotel-Dieu ihr erklärte, dass sie bestimmt erblinden
müsste, wenn sie das Nähen nicht aufgäbe
Journalisten erfanden dann die niedliche Geschichte,
Marguerite Audoux hätte damals ausgerufen: „Da ich
keine Blusen mehr nähen kann, werde ich ein Buch
schreiben.“ Diese Legende, die der Vorliebe des
Spiessbürgers für alles Absonderliche entgegenkommt
und zugleich ihre Geringschätzung der Literatur kenn-
zeichnet, ist unrichtig und albern.
In der Verfasserin vou „Marie-Claire“ lässt sich die
Neigung zur Literatur nicht von einer gewissen vor
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