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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 72 (August 1911)
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Scheerbart, Paul: Der brennende Harem: Ninivitische Bibliotheks-Novellette
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Lasker-Schüler, Else: Abel
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Wauer, William: Der Schauspieler
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Nr. 75 (August 1911)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Die Vinnen gegen den Erbfeind
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0130

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von Menschenleben waren vernichtet — durch
mich. Und ich kann das wahnsinnige Todesge-
kreisch nicht vergessen. Meine Tontafeln standen
mir höher als die lebendigen Menschen. Ich
konnte damals nicht mich von der Stelle bewe-
gen. Aber ich hätte mich ermannen müssen.
Was kam’s denn auf all das Geschreibsel an.
Ich hör’s immer wieder um meine Ohren krei-
schen — den Todesschrei von Hunderten. Ich
werde daran zu Grunde gehen. Ich halt’s nicht
mehr aus. Aber die Tontafeln wurden alle ge-
rettet. Der siegreiche König Assurbanipal hat
alle Tontafeln des königlichen Palastes zu Ba-
bylon nach Ninive bringen lassen und nie er-
fahren, um welchen Preis sie gerettet wurden.
Der König Assurbanipal hat den Tod seines
Halbbruders Saosduchin, der mit seinem ganzen
Harem in den Flammen seines Palastes zu Grunde
ging, immer lebhaft beklagt. Saosduchin war
eigensinnig und woltte sich nicht ergeben. Aber
seinem Harem fiel’s nicht ein, eigensinnig zu
sein — die Weiber und Eunuchen hätten alles
hingegeben, wenn sie ihr Leben hätten retten
können. Ich hätt’s retten können. Und ich hab’s
nicht getan.“

Ganz starr sass der alte Priester Piru da
und blickte in die Weite. Der kleine Gimilla
hörte mit Schreiben auf; er war fertig. Die eine
der kleinen Lampen verlöschte. Gimilla sank
zur Seite und schlief ein. Piru erhob sich und
trug die Tontafeln vorsichtig, aber mit zittern-
den Fingern zum Brennofen, wo noch gearbeitet
wurde. Sieben Mal ging der alte Piru, denn es
waren sehr viele Tontafeln, die Grimilla in die-
ser Nacht beschrieben hatte.

Dann verlöschte auch die andere Lampe,
und der alte Piru liess den kleinen Gimillaru-
hig weiter schlafen, ging leise in sein Zimmer
und legte sich auf seinen Diwan und zündete
eine kleine Hängelampe an und bedeckte das Ge-
sicht mit beiden Händen und weinte.

Eine kleine Maus kam aus der Ecke des
kleinen Gemachs, setzte sich auf die Hinterbeine
und blickte verwundert den weinenden Mann an.
Die Mäuse, deren es viele in der Bibliothek gab,
schadeten dieser nicht, da sie Tontafeln nicht
annagten.

Abel

Kains Augen sind nicht gottwohlgefällig,

Abels Angesicht ist ein goldener Garten,

Abels Augen sind Nachtigallen.

Immer singt Abel so hell
Zu den Saiten seiner Seele,

Aber durch Kains Leib führen die Gräben der
Stadt.

Und er wird seinen Bruder erschlagen —

Abel, Abel, dein Blut färbt den Himmel tief.

Wo ist Kain, da ich ihn stürmen will:

Hast du die Süssvögel erschlagen
In deines Bruders Angesicht?

Durch dein dumpfes Herz
Klagt Abels flatternde Seele.

Warum hast du deinen Bruder erschlagen, Kain?

Else Lasker-Schüler

Der Schauspieler

Von William Wauer

Weil wir im Alltagsleben unsere Ausdrucks-
fähigkeit durch Vernachlässigung und Unter-
driickung ausserordentlich schwächen und ver-
kümmern lassen, weil ausserdem im Altagsleben
der in Erscheinung tretende Ausdruck zumeist
ein „ungewollter“ ist (ausser, wenn er „erheu-
chelt“ wird, und dann ist er ja „Kunst“),
bleibt er undeutlich und tritt, auch wenn er
wahr ist, als von Zufälligkeiten beeinflusst und
abhängig, nur schwach und unrein auf. Ein
kiinstlerischer Ausdruck, wie es der schauspiele-
rische sein soll, verlangt aber selbstverständlich
eine völlig reine Form in der Darstellung: das
strikte und saubere Zumausdruckbringen gerade
dieser oder jener Gemütsstimmung oder Gemüts-
bewegung, dieser oder jener Geste oder Körper-
stellung ist eben das künstlerische Ziel der
Schauspielkunst.

Der heute an den Bühnen herrschende ver-
wischte und unklare Alltagsausdruck ist nichts
als Dilettantismus und Unvermögen.

Die Meisterschaft des Schauspielkünstlers
liegt in seinen Ausdrucksfähligkeiten nach der
Steigerung wie nach der Nüancierung hin.

Der Schauspieler muss und darf nur Aus-
drucksmittel sein, wenn das Gesamtkunstwerk ei-
ner dramatischen Aufführung entstehen soll. Sein
Stolz muss es sein, Unkörperliches zu verkör-
pern. Das nur ist das Schöpferische an seiner
Kunst.

Der Dichter kann nur Lebensverhältnisse in
der Zeit, der Regisseur im Raum schaffen: erst
der Schauspieler schafft das Leben selbst in die-
se Verhältnisse.

Der Schauspieler muss das Allgemein-Mensch-
liche, Allzumenschliche gestalten, aus sich her-
austreiben. Gibt er nur sein Alltäglich- Indivi-
duell-Menschliches, so erleichtert er sich seine
Aufgabe ins Unkünstlerische, Unschöpferische —
ins Natürliche.

Dennoch muss sich jeder Schauspieler sa-
gen, dass er nur auf einem Instrument spielen,
vielleicht Meister sein kann: auf sich.

Der Schauspieler muss sich als Bestandteil
eines organischen Ganzen zu fühlen lernen und
sich den Gesetzen der Gliederung und des Gleich-
gewichts des Organismus unterwerfen. Seine dar-
stellerische Betätigung ist nicht Einzelnes, Ver-
einzeltes, für sich Bestehendes — durch sie
muss das Leben des Gesamtorganismus der Auf-
führung strömen, ausströmen auch in das un-
belebte Bühnenbild.

Der Darsteller darf nicht nur im scenischen
Bild wirken, das scenische Bild muss in ihm
wirken.

Der Schauspieler besitzt dieselbe Selbststän-
digkeit und Verantwortlichkeit, wie ein Musiker
im Orchester.

Nur eine immense technische Virtuosität
kann den Schauspieler fähig machen, jede mo-
mentane Lebensregung seines Innern nach aussen
zu werfen, zu gestalten.

Der Schauspieler braucht vor allem eiue
rein technische Ausbildung. Die befähigt ihn,
vorurteilslos sein Instinktives zum Ausdruck zu
bringen.

Der Schauspieler hat auf der Bühne „dar-
zustellen“, nicht sich „gehen zu lassen“, sich zu
„geben“.

Auch der Schauspieler will und muss offen-
baren, nicht vermummen, nicht täuschen.

Die Verstellung bringt nur Kunststücke
hervor — sie ist unfähig, Kunstwerke zu er-

zeugen. Dem Schauspieler ist nicht die unmög-
lich Aufgabe gestellt, sich dahin zu verstellen,
dass man meinen könnte, er sei „Hamlet“ oder
„Wallenstein“.

Jedes Spiel ist ein individuelles Erleben,
oder es ist nichts. Das gesprochene Wort ist
aber nicht das Erlebnis, sondern nur dessen Re-
flex (es gibt Begriffe davon); das Erleben liegt
in den psychischen Vorgängen. Diese müssen
also der Reihe nach einzeln gestaltet werden
in Klang und Gebärde. Hier liegt die Aufgabe
der Schauspiel k u n s t.

Sich einleben in eine Rolle, sich in sie hin-
einversetzen, als Darstellungsprinzip ist dilettan-
tisch — ist falsch.

Man darf als darstellender Künstler nur
die einzelnen Darstellungsmomente seiner Rolle
wollen, nicht die Rolle selbst. Jede Neben- oder
Vorbeziehung ist falsch. Das Gretchen im Gar-
ten darf vom Gretchen im Kerker nichts wissen.
Welches heutige „Gretchen“ hat aber Goethes
„Faust“ nicht gelesen?

Die Rolle muss dem Schauspieler in einzel-
ne augenblickliche Gestaltungsaufgaben zerlegt
werden: denn von den Zusammenhängen der
Rolle, die er spielt, darf er anscheinend nichts
wissen, er darf das nächste Wort nicht kennen,
das er spricht, geschweige denn seine nächste
Szene, oder seinen letzten Akt.

Welcher Mensch kennt sich selbst und sei-
ne letzten Motive? Man kennt nur die geistigen
und seelischen Reflexe seiner Leiblichkeit (im
besten Fall). So blind muss also der Schau-
spieler seiner Rolle gegenüber bleiben. Diese
Blindheit kann ihm aber nur der Regisseur ge-
ben. Jede Rollenauffassung vom Spieler her zer-
stört diese Blindheit.

Der Schauspieler ist nicht dazu da, eine
literarische Auffassung durchzuführen und zu
beweisen, sondern zu „erleben“, Empfundenes
auszudrücken.

Der Schauspieler soll seine Rollen nicht mit
seinem Bewussten, sondem mit seinem Unbe-
wussten erfüllen.

Die „Auffassung“ einer Rolle seitens des
Schauspielers ist ein Vorurteil gegen den Re-
gisseur.

Der Schauspieler muss auf jede Tätigkeit
im Dienste seiner Auffassung verzichten, weil
er damit seine Anpassungsfähigkeit und Bieg-
samkeit aufhebt, die der Regisseuir funbedingt
gebraucht.

Der Schauspieler soll also den scheinbar
unabsichtlichen und unbewusst einen Zusammen-
hang bildenden Einzelheiten der Rolle seine Kraft
widmen, oder er versperrt sich den Weg zur
Lebensdarstellung, zum Leben selbst durch Zu-
bewusstsein.

Warum kommt der deutsche Schauspieler
dem Regisseur mit so schlechtem Willen entge-
gen? Weil sich die deutschen Schauspieler zu
wenig als Künstler und zu sehr als Literatur-
beflissene fühlen. Sie berufen sich auf die Dich-
tung, auf ihre Auffassung, auf den Dichter. Sie
bestreben sich also, zu belehren, zu dozieren,
zu debattieren, während alle ihre Instinkte künst-
lerisch auf die Darstellung und das Darstellen
gerichtet sein müssten. So wird das W a s ihnen
zur Hauptsache, jeder deutsche Schauspieler
möchte nur erste Rollen spielen) das Wie als
einziges, was künstlerisch in Frage stehen kann,
bleibt Nebensache. Der Deutsche ist ein schiech-
ter Schauspieler, weil er zu doktrinär ist. Ist
das künstlerisch?

Der Schauspieler hat nur mit dem Regisseur,
dem Gestalter in Bühnenkunstmitteln, zu denen
er selbst gehört, unmittelbaren Zusammenhang

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