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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 104 (März 1912)
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Marinetti, Filippo Tommaso: Manifest des Futurismus
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [7]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0391

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7 Nur ira Kampf ist Schönheit. Kem Metster-
>verk ohne agressives Moment. Die Dichtung muß
ein heftiger Ansturm gegen unbekannte Kräfte sein,
um sie aufzufordern sich vor -den Menschen zu
legen.

8 Wir si'nd auf dem äußersten Vorgebirge der
.lahrhunderte! . . . Wozu hinter uns blicken, da wir
gerade die geheimnisvollen Tore des Unrnöglichen
brechen? Zeit und Raum sind gestern dahinauf-
gegangen. Wir leben schon im Absoluten, denn wir
Kaben schon die ewige, allgegenwärtige Schnellig-
keit geschaffen.

9 Wir wollen den Krieg preisen, diese ein-
zige Hygiene der Welt -- den Militarismus, den
Patriotismus, die zerstörende Cieste der Anarchis-
ten, die schönen Qedanken, die töten, und die Ver-
achtung des Weibes.

H) Wir wollen die Museen, die Bibiiotheken
zerstören, den Moralismus bekämpfen. den herni-
nismus und alle opportunistischen und Niitzlichkeit
bezvveckenden Feigheiten.

■ 11 Wir werden die arbeitbewegten Mengen,

das Vergniigen, die Empörung singen, die vielfar-
bigen, die vieltönigen Brandungen der Revolutionen
in den modernen Hauptstädten; die nächtliche Vi-
bration der Arsenale und Zimmerplätze unter iiiren
heftigen, elektrischen Monden; die gefräßigen Bahn-
höfe voller rauchender Schlangen; die dttrch ihre
Rauchfäden an dic Wolken gehängten Fabriken; die
gymnastisch hiipfenden Briicken iiber der Messer-
schtniede der sonndurchflimmernden Flüsse; die
abanteuerlichen Dampfer, die den Horizont wittern;
die breitbriistigen Lokomotiven, die auf den Schie-
nen stampfen wie riesige, mit langen Röhren gezii-
gelte Stahlrosse, und den gleitenden Flug der Aeto-
plane, deren Schraube knattert wie eine itn Winde
wehende Fiagge tmd die klatscht wlie eine beifalls-
tobende Menge.

In ltalien veröffentlichen wir dieses feurige,
gewaltige Manifest, durch das wir heute den F u -
t u r i s m u s schaffen. weil wir Italien von seinotn
Krebs von Professoren, Archäologen, Ciceronen
und Antiquaren befreien wollen.

Italien ist lange genug der große Markt der
Ttödler gewesen. Wir vvollen es von den unzäh-
ligen Museen befreien, die es w:ie unzählige Kireh-
höfe bedecken.

Museen, Kirchhöfe! . . . Wirkliclt identisch sind
sie im finsteren Berühren ihrer Körper, die einan-
der nicht kennen. Oeffentliche Schlafstellen, wo
inan attf ewig verhaßten iind tmbekannten Wesen
gegeniiber schläft. Reziprokes Ungestüm der Ma-
ler, die sieh niit Littien- und Farbenschlägeu gegen-
seitig in demselben Museum töten.

Man besuche sie jedes Jahr, wie man alljähr-
lich die Qräber seiner Lieben besucht . . . Finver-
standen! . . . Man lege rneinetwegen jährlich der
„Gioconda“ Blurnen zu Füßen, wir verstehen es!..
Aber täglich unsere Traurigkeit, unseren zerbrech-
lichen Mut und unsere Unruhe in die Museen spa-
zieren fiihren, das lassen wir nicht zu! . . . Will
mart sich denn vergiften? Wiil tiian verwesen?

Was kann tnan gut an einem aiten Bilde fin-
den, vvenn nicht die mühseligen Verrenkungen des
Künstlers, der sich bemüht, die undurchdringbaren
Tore zu durchdringen, nur weil er wrünscht seinen
Traum attszudrücken?

Fin altes Bito bewundern heißt unsere Empfind-
samkeit auf eine Totenurne verschwenden, statt
sle nach vorn zu sehleudern mit heftigen Stößen,
die schöpfen und tatkräftig sind. Will man denn
so seine besten Kräfte durcli die Bewitnderung
des Vergangenen verschwenden, tmt gänzlich er-
schöpft, geschwächt zu sein?

In Wirklichkeit ist der tägliehe Besuch der Mu-
seen, der Bibliotheken. der Akademien (dieser
Friedhöfe verlorener Anstrengungen, dieser Gol-
gatha gekreuzigter Träume, dieser Register gebro-
chenen Schwunges) fiir den Künstler dasselbe, was
verlängerte Vormundschaft für intelligente, an
ihrem Talent berauschte Jiinglinge ist.

Für Talkranke, Invaliden und Geiangene,
meinetwegen. Es ist vielleicht ein Balsam für ihre
Wundcn, die bewunderungswürdige Vergangen-
heit, da ihnen die Zukunft versagt ist . . . Aber
wir wollen so etwas nicht, wir jungen, starken,
lebendigen Futuristen!

Laßt sie doch kommen, die guten Braridstifter
mit den karbolduftenden Fingern! ... Da sind sie!
Da sind Sie ja! ... Steckt doch die Bibliotheken
in Brand! Leitet die Kanäle ab, um die Museen zu
überschwemmen! ... Ha! Laßt sie dahintreiben.
die glorreiclteii Bftoer! Nehmt tSpitzhacken und
Hammer! Untergrabt die Grundmauern der hoch-
ehrwürdigen Städte!

Die Aeltesten von uns sind dreißig Jahre alt;
wir können also wenigstens zehn Jahre unsere
Pflicht tun. Sind wir vierzig Jahre, so mögen Jün-
gere und Tapfere uits in den Papierkorb werfen
wie unnütze Manuskripte! Von weither werden sie
uns entgegenkommen, tanzend nach detn leichten
Rhythnuts ihrer ersten Gedichte. Mit ihren haken-
förmigen Fingern werden sie itt die Luft kritzeln
und vor den Türen der Akademien den guten Ge-
ruch unserer verwesenden Geister einatmen, dia
schon den Katakonrben der Bibliotheken ver-
sprochen sind.

Aber wir werden nicht da seitt. Sie werdcn
uns in einer Winternacht mitten attf dem Lande vor
einetn diisteren Hangar finden bei unseren bebeiiden
Aeroplanen; und wir vverden uns gerade die Hände
über dem Feuer unserer Biicher von heute die
Hände wärmen und hoch wird die Flamme aus
ihnen tmter dem Fluge ihrer Bilder herausschlagen.

Sie werden tins umringen, keuchend vor Angst
und Aerger, uiid verzvveifelt durch unseren stolzen
unermiidlichen Mut; sie werden sieh auf uns stiir-
zen mit ebenso viel Haß, vvie ihr Herz trunken von
Liebe und Bewunderung für uns sein wird. Und die
starke, heilige Ungerechtigkeit wird hell aus ihren
Augen strahlen. Denn Kunst kann nur Gewalt, Grau-
samkeit sein.

Die Aeltesten von uns siud dreißig Jalue alt,
tind doch habert wir schon Schätze vergeudet.
Schätze der Kraft, Liebe, Mait und strengem Willen,
eilig, im Delirium, ohne zu rechnen, im Handum-
drehen, zum Atemveriieren.

Blickt uns an! Wir sind nicht außer Atem ...
Unser Herz ist nicht im inindesten erschöpft! Denn
Feuer, Haß. Schnelligkeit ernähren es! . . . Das
setzt euch in Erstaunen? Ja, weil ihr euch nicht
einmal erinnert geiebt ztt haben. Auf dem Gipfel
der Welt stehend schleudern wir noch einmal un-
sere Herausforderung den Sternen zu!

Eure Einwiirte? Genug, genug! Versteht sich!
Wir wissen sehr gut, was unsere schöne falsche In-
telligenz uns bestätigt. Wir sind nur, sagt sie, der
Inbegriff und die Verlängerung unerer Ahnen. —

Vielleicht! Meinetwegen! . . . Was tuts?.

Aber wir vvollen nicht begreifen. Wiederholt ja
nicht diese infamen Worte! Kopf hoch! Das ist
besser!

Auf dem Gipfel der Welt stehend schleudern
wir noch einmal ttnsere Herausforderung den Ster-
nen ztt!

Autorisierte Uebersetzung von Jean-Jacques

*

Der Dichter E. T. Marinetti ist der Führer der
futuristischen Bewegung

Die Futuristen werden d i e zweite
Ausstellung der Zeitschrift Der
Sturm, Tiergartenstraße 34 a, kol-
lektiv beschicken.

Die erste Ausstellung: Der Btaue Reiter / Flaum /
Kokoschka / Expressionisten bieibt dort bis zum
10. Aprii geöffnet.

Der sehwarze Vorhang

Roman

Von Alft’ed Döbün

Fortsetzung

Es war nicht gerade ihr Gesicht, das immer
vor seinen Augen stand, sondern das Gesicht ir-
gend eines Menschen, der ihn nicht ansah. In
diesem Bilde waren, wie in einem Schranke, zu
viel gute Speisen und Getränke eingeschlossen, als
daß seine Triebe nicht darüber herfielen, den
Schrank öffneten, weit öffneten, in Gier zertrüm-
merten und sich sättigten.

Schon in dem Diister seines Rachedrangs lag
manches, vvas ihn in die alte triibe Wirrnis zurück-
führte; je fester die Raehsucht das Bild hielt, je
länger sie es festhielt, um so mehr dunkle, halb
verlorene, halb verhungerte Neigungen lockte sie
hervor, his die alte W'elt wieder heranfbeschwo-
ren war.

Erst waren die finsteren üedanken erbar-
mungsios auf ihn eingedrungen, vergebens hatte
sein kühler Stolz die eben errungene Sicherheit be-
hauptet.

Nachdent Johannes sich einntal hatte ergeben
müssen, und wieder von der gewohnten Speise aß,
begann ihm die seidene Glätte der Gewohnheit zu
schmeicheln. Entschuldigende Kosenamen gab er
bald seiner Schvväche, die ihrt fallen ließ: Heimats-
luft war, was er atir.ete.

Und klammerte sich, vvährend ihn die Stärke
seiner Kampfesbegierden schon abzog und weg-
trug, um so inniger an, schnüffelte lüstern an sei-
nem Verderb.

Er klagte sie an, wie heiß sie sich für die
kleinen Qualen räche, die er iiber sie schütteln
wollte; warf sich zerquält, ganz uiiirbe ihr zit
Ft'ißen:

„Was Itabe iclt dir getan, dtt Strenge? Wa-
ruiin mußt du gerade tnich in diese Bedrängnis
stürzen?“; sank schließlich ergeben imd still Itin.
und gab ihr Recht. Was war er attch. der falsche,
von Sünden zermorschte, blöde, im Grunde vor
ihr, als ein Schatten, der auf sie fiel, vielleicht ein
häßliches Untierchen, eine Maus, vor der sie auf-
schrie. Was niaßte er sich an? Was Mantt ttnd
Weib! Spie er sie nichuan, grinste er nicht, als
sie ihn anblickte? Schwach war er und gemein
und nnterlegen. O, er wollte nicht feige sein, den
ehrlichen Kainpf nicht ineiden: sein Rattb, seine
rechte Beute, er selbst, sollte sich nicht ent-
wischen. Itt die Schmutzlaehe wollte er sich mit
der Schnauze stoßen: lecken und winseln. winseln
und lecken, - besser, als den gelben Mond an-
heuleit im Hintmel.

*

Nachmittags auf dem Sofa.

Bis in die harte Dämmerung hinein habe ich
geschlafen. Unruhig habe ich wohl geschlafen. In
der dttmpfen Hitze des Sofas liege ich. Die Luft
steht noch voll verworrener Speisegerüche;
nebenan, nebenan zanken sich zwei Menschen.

Tattb tntd seelenlahnt liege ich in der Hitze.
Es gährt in mir attf und durchschleicht mich, ein
unbestimmtes, widriges. bewußtloses Dämmern,
drin vieles ungetrennt gebunden ist, das sich
schwach aneinander reibt, sich auf ttnd nieder
wirft itnd im Dunkel iverwischt und wieder auf-
kämpft; sein Wort hefjtig sucht ttnd es nicht findet.
Mich Hingegebenen durchwühlt ttnd durchschwelt
dieser Rauch, iibel wie der Geschmack in meineni
halbtrockenem. verschleimten Munde, ttnd ich
kann es nur dtildert.

Was hab ich? Was soll ich? Was erwartet
mich? An abgestandenen Brühen, an rneiner —
Seele trinken, an triibem Auswurf schnüffeln: das
vst meine Bestimmung. Niemand, hat auch nie-
ntand auf der weiten unerrneßlichen Welt Anteil an
dem zweibeinigen, mißmutigen Tier, das sich hier
auf dem Sofa tastet. Vielleicht staunt mich ein
Elachkopf oder eine Gans an.
irt mir.

S2*J
 
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