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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 76 (September 1911)
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Lublinski, Samuel: Romantik und Stimmung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0160

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Romantik und
Stimmung

Von Samuel Lublinski

Schluss

Der romantischen Kunst ist die Stimmung
ein Selbstzweck. Wenn ein Romantiker eine Ve-
nus malt, so reizt ihn nicht der Typus, das
Individuell-Göttliche, wie es den Schöpfer der
Venus von Milo oder Tizian gereizt haben mag.
Die Göttin wird dem Romantiker einfach nur
zum Vorwand irgend einer Stimmung: wenn
Böcklin eine schaumgeborene Venus malt, denkt
er an das Meer, nur an das Meer, an die
Zeugungskraft des Feuchten, die in primitiven
Philosophien eine so grosse Rolle spielt und an
die auch Goethe manchmal geglaubt zu haben
scheint. Tizian ist die Göttin Selbstzweck, Böck-
lin nur Symbol der Meeresstimmung — da
haben wir den Unterschied zwischen individu-
alisierender und romantischer Kunst. Freilich
umweht auch die Venus des Tizian oder die
Venus von Milo Stimmung. Aber die göttliche
Gestalt wird davon nur im IJmriss schattiert
und hebt sich scharf ab, wie ein leuchtender
Körper von seinem Hintergrund. Das Lyrische
ist hier nicht die Hauptsache, sondern nur eine
leise mitschwingender Oberton. So war bis da-
hin, wenigstens für die Aesthetik und Kritik,
das allgemeine Kunstideal beschaffen gewesen:
möglichst plastische Gestaltung eines Einzelfalles
mit einem mehr oder minder starken Hintergrund
lyrischer Stimmung. Dieses Ideal überwog so-
gar noch in der spezifischen Lyrik. Die Balla-
de, Romanze und als äusserste Grenze das knapp
umrissene Volkslied wurden weit vor der sym-
bolischen Lyrik bevorzugt — vor unbestimmten
und verschwebenden Akkorden und Allgemein-
gefühlen. Hier haben erst die Romantiker die
Aesthetik ergänzt, indem sie eine neue Poesie
proklamierten, nämlich die Stimmung als Selbst-
zweck.

Stimmung ist Traum, ein Wogen in einem
unendlichen Element. Das Leben aber in Zeit
und Raum wirft harte Schranken und Grenzen
auf und zerschneidet wie ein Gebirge den him-
melblauen Horizont. Daran stösst sich der
schwärmerische Träumer auf Schritt und Tritt,
und manchmal zerschellt er daran. Jedenfalls
muss sich ihm die Ueberzeugung in die Seele
graben, dass dieses Leben ein feindliches Prin-
zip wäre, der absolute Gegensatz zu jederStim-
mungspoesie. Aus dieser Empfindung ist es zu
erklären, dass noch jeder Romantiker mit einer
Weltflucht begonnen hat und von dem tiefen Zwie-
spalt, der zwischen Kunst und Leben Klüfte auf-
zureissen scheint, bis zur Verzweiflung gemar-
tert wurde. Aus einer solchen Marter erwuchs
aber fast imrner die Sehnsucht, den Duaiismus
um jeden Preis zu überwinden und sich in den
Abgrund zu stürzen, um den Abgrund zu
schliessen.

Der Romantiker trat also mit Widerwiilen
an Welt und Leben heran und entdeckte mit Er-
staunen, dass dieses verhasste Leben in allen
seinen Erscheinungen jene eigentümliche Dunst-
schicht auss römte, die gerade ihm als eigent-
liche Poesie galt Stimmung! Es gibt nichts
auf der Welt, dem nicht Stimmung abzugewin-
nen wäre. Man vergegenwärtige sich zum lehr-
reichen Exempel etwas sehr Widerwärtiges: eine
Grossstadtdestille. Auch diesem Schmutz und
Elend und diesem greulichen Fuselgeruch lässt
sich ein starker Stimmungsreiz nicht absprechen.
Die Schenke wird ein unheimliches Ungeheuer,

eine Zauberhöhle des Verderbens, ein Vampyr
— man sehe, was Emil Zola in „Germinal“ dar-
aus gestaltet hat. Ebenso konnten die Philister
und trockenen Durchschnittsnaturen, diese gebo-
renen Todfeinde des Stimmungsmenschen, zu bos-
haften Kobolden oder gespenstischen Dämonen
herabgedriickt oder heraufgehoben werden, wie
es Theodor Amandeus* Hoffmann getan hat. Diese
Metamorphose ist nicht einmal nötig: es gibt so
manches moderne Buch, das den gespenstigen
Albdruck des Philisteriums oder der Alltäglich-
keit ohne jede Hexerei heraufbeschworen hat: ich
erinnere an Friedrich Huchs „Peter Michel“ oder
an die feinere Weise des Norwegers Herman
Bang. Die graue Oede und Langweil kann zu
einem gewaltigen Stimmungsmoment gesteigert
werden, wenn eine arme Menschenseele ihre nie-
derziehende Wucht zu ahnen beginnt und ver-
zweifelt Stimmung ist eben das erste Verhältnis
einer Seele zu ihrem Gegenstand, und in dieses
erste Verhältnis kann die Seele zu allem uncl
jeclem treten. In der Grossstadt ist sogar eine
andere Beziehung zu den meisten Dingen der
Aussenwelt ganz undenkbar. In diesen Wirbel
und in diesen dahinrasenden Strom lässt sich
nicht hineingreifen, um eine isolierte Welle her-
auszuholen und episch zu kristallisieren. Den
möchte ich sehen, der imstande wäre, den epi-
schen Typus der Leipziger Strasse in Berlin end-
gültig festzulegen, so wie Homer oder Gottfried
Keller die Lokalität ihrer Erzählung festzulegen
vermochten. Das ginge über Menschenkraft. Die
Bilder wechseln in rasender Eile und in einem
tollen Veitstanz der Farben; es bleibt nichts in der
Erinnerung, nur eben eine machtvolle und auf-
regende Stimmung, eine unfassbare Ahnung von
der Gewalt des sozialen Lebens. So schärft sich
gerade in der Grossstadt die Empfänglichkeit für
Stimmungen und die eigentiimliche Begabung,
auf die kleinsten Reize intensiv zu erwidern.
Man hat die Naturschwärmerei des Kulturmen-
schen aus seiner Nerveniibermiidung erklärt, aus
einem hygienischen Instinkt, der ihn aus den
Gassen der Grossstadt in die frische Landluft
hinaustreibt. Ich meine, das ist eine sehr un-
vollständige Erklärung. Der Grossstädter will
einfach seinem ästhetischen Vermögen immer neue
Provinzen unterwerfen und seinem rastlosen Stim-
mungshunger immer mehr zu brechen und zu
beissen geben. Nachdem er im Menschengewühl
den Rausch der Stimmung kennen gelernt hat,
sucht er ihn im Gewühl der Gräser und des
unendlich Kleinen oder in Horizonten und Son-
nenbränden, im unendlich Grossen der Natur.
Der wirkliche Landbebauer kennt nur in selte-
nen Aus-nahmefällen eine intime Naturpoesie —■
aus ländisch-sozialen Naturzuständen pflegt fast
immer nur eine rein epische Dichtung heraus-
zuwachsen. Der Romantiker aber erobert die Na-
tur, wie er die Grossstadt uncl wie er sich
schliesslich alles erobert hat. Denn in allem ist
Stimmung freilich auch manches andere, das aber
der Romantiker verwirft. Er umarmt das Le-
ben und stösst es zurück. Romantik ist in ei-
nem aussondernden Sinn Poesie und doch zu-
gleich Universalpoesie — Romantik ist Stimmung.

Auf geistigem Gebiet, in der Form- und
Wesensfrage, offenbart sich in ganz ähnlicher
Weise dieser Gegensatz, der durch die höhere
Einheit cler Stimmung überwunden wird: Ro-
mantik ist Wissenschaft und wieder auch' Kunst.
Aber sie ist beides erst im Keim und nicht in
der Vollendung. Es gibt eine Zeit, wo sich die
Wissenschaft von allem Stimmungsgemässen him-
melweit entfernt hat und in harter und nüch-
terner Prüfung die Methoden ihrer Darstellung
rein verstandesgemäss ausbildet. Aber eine sehr

mächtige Art der Stimmung kennt die Wissen-
schaft so gut wie die Kunst: den Schauer der
Konzeption! Wenn der Forscher in heisser Er-
regung neue Gedanken zu ahnen beginnt, so
dass ihm ist, als hätte ein aufzuckender Blitz-
strahl unendliche Gefilde urplötzlich erleuchtet:
dann, in einem solchen Augenblick, empfindet
der Mann der Wissenschaft wie der Künstler
oder wie der Prophet empfindet, wenn sie vom
Schauer ihrer Visionen überfallen werden. Die
Romantik sucht also die Wissenschaft in ihrem
Keimzustand auf, wenn sie noch Konzeption
ist, Embryo. Und mit Folgerichiigkeit wird eine
Darstellungsform verlangt, die nicht nur das Ge-
dankenresultat getreulich wiedergibt, sonder auch
die Wonnen und Stimmungen, als dieser Gedan-
ke zum ersten Mal empfangen wurde. Es gibt
eine Unmenge von Zwischenformen und Kunst-
gattungen, die diesem Verlangen entgegenkom-
men. der Aphorismus, der poetisch-didaktische
Weisheitsspruch, die Skizze, die ironisch-phan-
tastischen Formen, der Essay. Das alles war
wohl früher schon in der Vereinzelung vorhan-
den, ist aber erst durch die romantische The-
orie und Praxis einheitlich zusammengefasst und
auf eine höhere Stufe gehoben worden. Darum
werden auch nicht, wie die Legende will, in
Frankreich die besten Essays geschrieben, son-
dern im Heimatland der Romantik und der po-
etischen Zwischenformen, in Deutschland.

Aber es gibt noch eine zweite Verbindung
zwischen Kunst und Wissenschaft, einen Kon-
zeptionsschauer, der noch zu gariz anderen Din-
gen hinführt als zu Essays. Der Philosoph, der
bis zur Verzweiflung mit den letzten Dingen
kämpft, rechnet sich nicht nur rein wissenschaft-
lich die Elemente der Welt zusammen, er
schaut und dichtet sie auch zusammen. Es gibt
auf diesem Gebiet höchstens nur eine Annähe-
rung an Resultate, und alles andere muss durch

den Willkürakt einer grossen Persönlichkeit hin-
zugewonnen, hinzugedichtet werden. Alle Welt-
anschauung bleibt eigentlich fortwährend im Sta-
dium der Konzeption, im Stadium der Ahnung.
Und auch hier gibt es eine ästhetische Zwi-
schenform — die Bibel. Das soll heissen, ein
Weltanschauungsbuch, das zugleich Lehre und
Vision enthält, Embryonenfragmente aus aller
Wissennchaft und Symbol und Lyrik in einem
al fresco-Stil. In diesem rein ästhetischen Sinn
ist auch die divina commedia eine Bibel oder
Nietzsches Zarathustra, und wir haben den Zwie-
spalt und die Einheit von Prophet und Dichter
Gestalter und Redner (Prediger), die in einer
urgewaltigen Grundstimmung zusammenwachsen.

Die romantische Dichterseele, die in dieser
Weise die ganze Tonleiter der Stimmungen spie-
len lernte, wurde freilich zum Lohn dafür von
diesen Stimmungen oft genug arg getrübt und
bis zur Unheimlichkeit geschädigt. Sie verfiel
dann einer Willenlosigkeit, Sklaverei und Gespen-
sterangst, die sich von den Tollheiten des gröb-
sten Aberglaubens kaum noch unterschied. Aber
es gibt nicht nur düstere, krankhafte und ge-
bundene, sondern auch ätherische Stimmungen.
Auch die helle Geistigkeit und der energische
Sonnenschein der Intelligenz löst Stimmungen
aus, die wie übermütige Adler über alle Him-
mel fiiegen. Dieser oft frevelhafte Uebermut wur-
de übrigens durch die romantische Theorie und
Kunstübung reichlich gefördert uncl geradezu her-
vorgerufen. Denn die Romantik, wie wir sahen,
verweilte bei den Keimformen, beim Moment der
Konzeption, wenn die Dinge empfangen und
nicht, wenn sie geboren wurden. Es fehlte also
eigentlich der harte Zwang der Entbindung und
die einengende Realität der Einzelfälle. Der Mann

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