Beachtenswert ist es aber sicher, dass zwei-
mal je zwei der genannten vier Erkenntnisele-
mente auf eine gemeinsame Grundbewegungser-
fahrung hinweisen, so „Kraft“ und „Stoff“ auf
die Bewegungserfahrung der „Intensität“, „Zeit“
und „Raum“ auf die der „Extensität“.
Das wichtige Problem der „Kausalität“, der
„Ursächlichkeit“ fällt in der neuen Bewegungs-
lehre von selbst hinweg. Unter „Ursache“ ver-
steht man in erster Linie die „bedingende oder
erzeugende Vortatsache einer Bewegung“, den
inneren Zusammenhang zwischen zwei aufein-
anderfolgenden Wahrnehmungen mit Betonung
der Funktion der zeitlich vorhergehenden Wahr-
nehmung oder Tatsache. Weiss man einmal,
dass „Bewegung“ das Wirklichkeitselement an
sich, die Urtatsache, die Tatsache aller Tatsachen
ist, dann hat man nicht mehr nötig, nach „Ur-
sachen“ und „Griinden“ zu forschen. Sondern
nur nach „Zusammenhängen“ und „Beziehungen“,
von denen alle Elemente aus der ungeheuren
Perspektive der grossen „Bewegungserkenntnis“
betrachtet, gleichwertig sind in ihren Abhängig-
keitsgraden, ihrem „Bedingen“ und ihrem „Be-
dingtsein“.
IV
Der gewöhnliche Verstand sieht das Wesen
der Bewegung in der Ortsveränderung und zieht
daraus den Schluss, dass die Vorstellung der
Bewegung, die Vorstellung des Raumes voraus-
setzt. Abgesehen nun davon, dass der Begriff
Ortsveränderung schon eine Bewegungsvorstel-
lung enthält, nämlich die Vorstellung der Ver-
änderung — jede Veränderung ist ein Bewe-
gungsvorgang — nnissen wir uns darüber
vollständig klar werden, dass die Ortsverände-
rung rein als solche überhaupt erst durch Be-
wegungsvorgänge konstatiert und uns zu Be-
wusstsein gebracht wird, sei es, dass wir die
Bewegung selbst objektiv wahrnehmen, als Auf-
lösungs- und Verbindungstatsache von Einheits-
werten, sei es, dass die Ortsveränderung, das
heisst in weiterem Sinne jede räumliche Diffe-
renz, jede räumliche Differenzierung, nur durch
Bewegungsvorgänge unserer Vorstellungstätigkeit
festgestellt wird und gleichsam also erst durch
„Bewegung“ für unser Bewusstsein entsteht.'
Zweitens aber erkennen wir die „Bewegung“
in reinen Zeitvorstellungen, in der Form der
Zeit, wo wir sie wahrnehmen, ohne dazu der
geringsten Raumvorstellung, der geringsten räum-
lichen Vorstellungsweise überhaupt zu bedürfen,
ohne irgend welche Ortsveränderung vorauszu-
setzen.
Wenn man beweisen will, dass „Zeit“ ohne
„Bewegung“ denkbar ist, und zur poetischen
Veranschaulichung der Sache das Märchen von
„Domröschen“ anführt, wenn man sich ausmalt,
dass plötzlich mit einmal alle Bewegung auf-
hört und sich der Dornröschenschlaf auf die
ganze Welt erstreckt, wenn man dann behauptet,
dass dieser Zustand vollständiger Bewegungs-
losigkeit, vollkomrnener Ruhe als beliebige Zeit
lang andauernd vorstellbar ist, dass also jeder
beliebige Zeitraum mit gänzlicher Uebergehung
der Bewegungstatsache gedacht und gemessen
werden kann, so vergisst man dabei nur eins,
— nämlich, dass diese scheinbar bewegungs-
lose Zeit erst durch unsere Vorstellungstätigkeit,
folglich durch „Bewegung“ erzeugt wird. Dass
wir diesen Zeitraum scheinbarer Welterstarrung
jedenfalls in Gedanken durchlaufen, durchlaufen
müssen, damit er überhaupt Bewusstseinstatsache
wird, dass wir ihn demnach gleichsam mit den
subjektiven Bewegtungsformen 'unseres Vorstel-
lungsganges ausfüllen und ausmessen, das heisst
durch Vorstellungsbewegung überhaupt erst schaf-
fen. —
Aus allen diesen Betrachtungen folgt, dass
wir jedenfalls ein Bewegungsgefiihl, ein Wissen
um Bewegung besitzen, das von der Tatsache
der Ortsveränderung, von jeder räumlichen Vor-
stellung iiberhaupt unabhängig ist.
Schluss folgt
Der Dritte
Von Alfred Döblin
Schluss
Sie hatten wenige glückliche Wochen in ei-
nem Seebade verlebt. Da hörte sie eines Mor-
gens, als sie sich zum Tennisspiel ankleidete,
einen furchtbaren Schrei aus dem Nebenzimmer.
Converdon stand in blossen Hemdsärmeln auf-
recht mitten im Zimmer, in der rechten Hand
einen zerknitterten Brief. Er streckte die Arme
nach der Decke, schrie gell Merys Namen, stürz-
te auf den Teppich nieder. Sie hob seinen hei-
ssen Kopf, er stammelte: „Es ist aus mit mir“.
Dann, als er sich beruhigt hatte, sagte er, sie
möchte ihn allein lassen, er hätte einen Nerven-
anfall gehabt. In dem zerkniiterten Brief stand:
„Sehr geehrter Herr Doktor, Ihre Frau ist sehr
schön. Ich werde mich um sie bemühen. Es
ist Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, ebenso
sicher wie mir selbst, dass ich ihre Frau ge-
winnen werde. Es wird mir schwierig ja un-
möglich sein, meine Bemühungen um Ihre Frau
durchzuführen, ohne dass Sie es merkten. Ich
bitte Sie daher, erstens Kenntnis von meinem
Plan zu nehmen; zweitens, angesichts des zwei-
fellosen Resultats, keine Schwierigkeiten zu ma-
chen. Ihnen selbst, sehr geehrter Herr Doktor,
empfehle ich, gedrängt von einem grossen Wohl-
wollen für Sie, sich am fünfundzwanzigsten die-
ses Monats im Charlespark mit genauer An-
gabe der Motive umzubringen. D. S. Ich be-
sitze ein Automobil und stelle Ihnen den Wagen
zur Benutzung bei der Regelung Ihrer Ange-
legenneiten zur Verfiigung.
Paul Wheatstren,
Parterregy mnastiker. “
Dr. Converdon antwortete nach einer knap-
pen Stunde Herrn Paul Wheatstren, Parterre-
gymnastiker. Er bestätigte den Empfang des
freundlichen Briefes vom heutigen, dankte für
die gütige Festsetzung des Todes, bat um um-
gehende Zusendung des Automobils, das er sach-
gemäss in Stand halten werde.
Die erste Fahrt, die Dr. Converdon mit dem
Wagen machte, war hinaus auf die Landvilla
des Akrobaten, um mit ihm zu verabreden, dass
von den kommenden Geschehnissen y nichts zu
Ohren Merrys gelange. Wheatstren empfing ihn,
ein untersetzter breitschultriger Mann mit vier-
eckigem geröttetem Gesicht, Ende dreissig, ge-
wöhnliche Züge, aber klare ruhige Augen. Er
schüttelte dem Doktor lachend cfie Hand, er-
klärte ihm, wie er sich freue, seine schöne Frau
kennen gelernt zu haben, uncl ihren ehrenwerten
Gatten.
Er hoffe mit Frau Mery glückliche Stun-
den zu verleben. Sie setzen sich nun bei einem Glas
Wein hin. Wheatstren versäumte nicht nachdem
ersten Glase schonend zu bemerken, dass an dem
baldigen Ableben seines Gastes die Dame nicht
schuld sei, und er auch nicht; vielmehr ergäbe
sich das Ableben von selbsf bei der Sachlage,
und so wäre es auch vernünftig, den Selbst-
mord am fünfundzwanzigsten in voller Oeffent-
lichkeit, wie jede andere schickliche Handlung
zu vollziehen. Dr. Converdon trat bei dem zwei-
ten Glase mit gezogenem Revoler auf seinen er-
staunten Wirt zu und besprach mit ihm die
Möglichkeit, ihm selbst eine Kugel in das rechte
Auge zu schiessen und zwar jetzt gleich; dies
sei vorteilhaft darum, weil jener keine Waffe
trüge und er auf seinen Browning gut einge-
schossen sei. Der andere bestätigte ohneUeber-
legung die Möglichkeit eines solchen Verlaufs,
fügte aber mit überlegenem Lächeln hinzu, ohne
sich auf seinem Sessel zu rühren, dass an der
Sachlage dadurch nichts geändert wurde. Es
würde dann im nächsten Monat ein anderer
Mann Frau Mery schön finden und Herrn Dr.
Converdon davon benachrichtigen. Mit einem
vorwurfsvollen Blick ging Herr Wheatstren auf
den Arzt zu, der beschämt den Revolver sinken
liess. Er hätte Herrn Converdon geschrieben,
weil er ihn für einen vernünftigen Mann hielte;
es sei doch wirklich nicht ihre Sache, den Ein-
tritt notwendiger Ereignisse zu verzögern. Er
nahm gutmütig lachend dem Arzt den Revolver
ab, klopfte ihm auf die Schulter; sie tranken
nachdenklich weiter.
Zu Hause warf sich Herr Dr. Converdon in
Frack, setzte einen Cylinder auf und fuhr in die
Kirche. Er hörte aufmerksam die Predigten an,
liess sich am Schluss des Gottesdienstes beim
Pfarrer anmelden. Diesem erklärte er den Sach-
verhalt, indem er sich auf einen Stuhl an der
Türe setzte, stellte ihm die Frage: ob er als
Seelenkenner glaube, dass sich das Motiv des
am fünfundzwanzigsten statthabenden Selbstmor-
des beheben lasse. Er sei Frauenarzt und da-
her mit Psychologie nicht vertraut. Der Pfar-
rer, ein junger, tiefernster Mann mit einem Je-
suitengesicht durchsprach mit ihm aufmerksam
die Angelegenheit. Er explizierte am Schluss:
Es sei, wie man wenigstens seitens der Psycho-
logie sagen könne, ein gewisses Dunkel und eine
Borniertheit in dem Arzt vorhanden, diese, eine
angeborene Eigenschaft, durch Erziehung und
Lebensweise gepflegt, sei kaum mehr zu beheben.
Die Situation sei erfreulich für die Frau Mery;
ihn könne man nur trösten mit dem Hinweis
auf die Belanglosigkeit seiner Existenz.
Damit war der beliebte Frauenarzt ganz ins
Klare gekommen. Er hatte noch zwei Wochen zu
leben. In diesen folgenden Tagen kam nun, als
er sich die Situation klar überlegte, eine
völlig unbekannte Ruhe über ihn. Er ging mit
einem Gefühl der Freude einher, dass jedem der
Glanz seiner Augen auffiel. Mit einer tiefen
Dankbarkeit behandelte er insbesondere seine jun-
ge Frau, fuhr in dem Automobil mit ihr spa-
zieren ins Grüne, war ihr wirklich innig zu-
getan in dieser Zeit. Sie hatte ihm diese schö-
nen hoffnungsvollen Tage beschert; über ein
paar Tage war er wieder allein. Wie ein-
fach sich alle seelischen Lächerlichkeiten lö-
sen lassen durch eine mechanische Bewegung,
gemäss, den guten Rat dieses Parterregymnasti-
kers Paul Wheatstren. Täglich besuchte er mit
Frau Mery die Varietevorstellungen, in denen der
treffliche Mann auftrat, wurde nicht müde, seine
Gelenkigkeit zu loben, kaufte sich sein Bild und
stellte es in seinem Schlafzimmer an sein Bett.
Zwei Tage vor seinem Ableben besuchte er noch
alle Bekannte der nächsten Umgebung und teil-
te ihnen seinen Plan mit, er ging in den Kauf-
mannsladen, in den Gemüsekeller, in die Bu-
dike. Er setzte hinzu, dass er angesichts das
Vergnügens, sie zu verlassen, ihnen Legate in
Form von je tausend Dollars aussetze; er wer-
de ihnen auch eine Stunde vor seinem Verschei-
den Telegramme mit den besten Segenswünschen
621
mal je zwei der genannten vier Erkenntnisele-
mente auf eine gemeinsame Grundbewegungser-
fahrung hinweisen, so „Kraft“ und „Stoff“ auf
die Bewegungserfahrung der „Intensität“, „Zeit“
und „Raum“ auf die der „Extensität“.
Das wichtige Problem der „Kausalität“, der
„Ursächlichkeit“ fällt in der neuen Bewegungs-
lehre von selbst hinweg. Unter „Ursache“ ver-
steht man in erster Linie die „bedingende oder
erzeugende Vortatsache einer Bewegung“, den
inneren Zusammenhang zwischen zwei aufein-
anderfolgenden Wahrnehmungen mit Betonung
der Funktion der zeitlich vorhergehenden Wahr-
nehmung oder Tatsache. Weiss man einmal,
dass „Bewegung“ das Wirklichkeitselement an
sich, die Urtatsache, die Tatsache aller Tatsachen
ist, dann hat man nicht mehr nötig, nach „Ur-
sachen“ und „Griinden“ zu forschen. Sondern
nur nach „Zusammenhängen“ und „Beziehungen“,
von denen alle Elemente aus der ungeheuren
Perspektive der grossen „Bewegungserkenntnis“
betrachtet, gleichwertig sind in ihren Abhängig-
keitsgraden, ihrem „Bedingen“ und ihrem „Be-
dingtsein“.
IV
Der gewöhnliche Verstand sieht das Wesen
der Bewegung in der Ortsveränderung und zieht
daraus den Schluss, dass die Vorstellung der
Bewegung, die Vorstellung des Raumes voraus-
setzt. Abgesehen nun davon, dass der Begriff
Ortsveränderung schon eine Bewegungsvorstel-
lung enthält, nämlich die Vorstellung der Ver-
änderung — jede Veränderung ist ein Bewe-
gungsvorgang — nnissen wir uns darüber
vollständig klar werden, dass die Ortsverände-
rung rein als solche überhaupt erst durch Be-
wegungsvorgänge konstatiert und uns zu Be-
wusstsein gebracht wird, sei es, dass wir die
Bewegung selbst objektiv wahrnehmen, als Auf-
lösungs- und Verbindungstatsache von Einheits-
werten, sei es, dass die Ortsveränderung, das
heisst in weiterem Sinne jede räumliche Diffe-
renz, jede räumliche Differenzierung, nur durch
Bewegungsvorgänge unserer Vorstellungstätigkeit
festgestellt wird und gleichsam also erst durch
„Bewegung“ für unser Bewusstsein entsteht.'
Zweitens aber erkennen wir die „Bewegung“
in reinen Zeitvorstellungen, in der Form der
Zeit, wo wir sie wahrnehmen, ohne dazu der
geringsten Raumvorstellung, der geringsten räum-
lichen Vorstellungsweise überhaupt zu bedürfen,
ohne irgend welche Ortsveränderung vorauszu-
setzen.
Wenn man beweisen will, dass „Zeit“ ohne
„Bewegung“ denkbar ist, und zur poetischen
Veranschaulichung der Sache das Märchen von
„Domröschen“ anführt, wenn man sich ausmalt,
dass plötzlich mit einmal alle Bewegung auf-
hört und sich der Dornröschenschlaf auf die
ganze Welt erstreckt, wenn man dann behauptet,
dass dieser Zustand vollständiger Bewegungs-
losigkeit, vollkomrnener Ruhe als beliebige Zeit
lang andauernd vorstellbar ist, dass also jeder
beliebige Zeitraum mit gänzlicher Uebergehung
der Bewegungstatsache gedacht und gemessen
werden kann, so vergisst man dabei nur eins,
— nämlich, dass diese scheinbar bewegungs-
lose Zeit erst durch unsere Vorstellungstätigkeit,
folglich durch „Bewegung“ erzeugt wird. Dass
wir diesen Zeitraum scheinbarer Welterstarrung
jedenfalls in Gedanken durchlaufen, durchlaufen
müssen, damit er überhaupt Bewusstseinstatsache
wird, dass wir ihn demnach gleichsam mit den
subjektiven Bewegtungsformen 'unseres Vorstel-
lungsganges ausfüllen und ausmessen, das heisst
durch Vorstellungsbewegung überhaupt erst schaf-
fen. —
Aus allen diesen Betrachtungen folgt, dass
wir jedenfalls ein Bewegungsgefiihl, ein Wissen
um Bewegung besitzen, das von der Tatsache
der Ortsveränderung, von jeder räumlichen Vor-
stellung iiberhaupt unabhängig ist.
Schluss folgt
Der Dritte
Von Alfred Döblin
Schluss
Sie hatten wenige glückliche Wochen in ei-
nem Seebade verlebt. Da hörte sie eines Mor-
gens, als sie sich zum Tennisspiel ankleidete,
einen furchtbaren Schrei aus dem Nebenzimmer.
Converdon stand in blossen Hemdsärmeln auf-
recht mitten im Zimmer, in der rechten Hand
einen zerknitterten Brief. Er streckte die Arme
nach der Decke, schrie gell Merys Namen, stürz-
te auf den Teppich nieder. Sie hob seinen hei-
ssen Kopf, er stammelte: „Es ist aus mit mir“.
Dann, als er sich beruhigt hatte, sagte er, sie
möchte ihn allein lassen, er hätte einen Nerven-
anfall gehabt. In dem zerkniiterten Brief stand:
„Sehr geehrter Herr Doktor, Ihre Frau ist sehr
schön. Ich werde mich um sie bemühen. Es
ist Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, ebenso
sicher wie mir selbst, dass ich ihre Frau ge-
winnen werde. Es wird mir schwierig ja un-
möglich sein, meine Bemühungen um Ihre Frau
durchzuführen, ohne dass Sie es merkten. Ich
bitte Sie daher, erstens Kenntnis von meinem
Plan zu nehmen; zweitens, angesichts des zwei-
fellosen Resultats, keine Schwierigkeiten zu ma-
chen. Ihnen selbst, sehr geehrter Herr Doktor,
empfehle ich, gedrängt von einem grossen Wohl-
wollen für Sie, sich am fünfundzwanzigsten die-
ses Monats im Charlespark mit genauer An-
gabe der Motive umzubringen. D. S. Ich be-
sitze ein Automobil und stelle Ihnen den Wagen
zur Benutzung bei der Regelung Ihrer Ange-
legenneiten zur Verfiigung.
Paul Wheatstren,
Parterregy mnastiker. “
Dr. Converdon antwortete nach einer knap-
pen Stunde Herrn Paul Wheatstren, Parterre-
gymnastiker. Er bestätigte den Empfang des
freundlichen Briefes vom heutigen, dankte für
die gütige Festsetzung des Todes, bat um um-
gehende Zusendung des Automobils, das er sach-
gemäss in Stand halten werde.
Die erste Fahrt, die Dr. Converdon mit dem
Wagen machte, war hinaus auf die Landvilla
des Akrobaten, um mit ihm zu verabreden, dass
von den kommenden Geschehnissen y nichts zu
Ohren Merrys gelange. Wheatstren empfing ihn,
ein untersetzter breitschultriger Mann mit vier-
eckigem geröttetem Gesicht, Ende dreissig, ge-
wöhnliche Züge, aber klare ruhige Augen. Er
schüttelte dem Doktor lachend cfie Hand, er-
klärte ihm, wie er sich freue, seine schöne Frau
kennen gelernt zu haben, uncl ihren ehrenwerten
Gatten.
Er hoffe mit Frau Mery glückliche Stun-
den zu verleben. Sie setzen sich nun bei einem Glas
Wein hin. Wheatstren versäumte nicht nachdem
ersten Glase schonend zu bemerken, dass an dem
baldigen Ableben seines Gastes die Dame nicht
schuld sei, und er auch nicht; vielmehr ergäbe
sich das Ableben von selbsf bei der Sachlage,
und so wäre es auch vernünftig, den Selbst-
mord am fünfundzwanzigsten in voller Oeffent-
lichkeit, wie jede andere schickliche Handlung
zu vollziehen. Dr. Converdon trat bei dem zwei-
ten Glase mit gezogenem Revoler auf seinen er-
staunten Wirt zu und besprach mit ihm die
Möglichkeit, ihm selbst eine Kugel in das rechte
Auge zu schiessen und zwar jetzt gleich; dies
sei vorteilhaft darum, weil jener keine Waffe
trüge und er auf seinen Browning gut einge-
schossen sei. Der andere bestätigte ohneUeber-
legung die Möglichkeit eines solchen Verlaufs,
fügte aber mit überlegenem Lächeln hinzu, ohne
sich auf seinem Sessel zu rühren, dass an der
Sachlage dadurch nichts geändert wurde. Es
würde dann im nächsten Monat ein anderer
Mann Frau Mery schön finden und Herrn Dr.
Converdon davon benachrichtigen. Mit einem
vorwurfsvollen Blick ging Herr Wheatstren auf
den Arzt zu, der beschämt den Revolver sinken
liess. Er hätte Herrn Converdon geschrieben,
weil er ihn für einen vernünftigen Mann hielte;
es sei doch wirklich nicht ihre Sache, den Ein-
tritt notwendiger Ereignisse zu verzögern. Er
nahm gutmütig lachend dem Arzt den Revolver
ab, klopfte ihm auf die Schulter; sie tranken
nachdenklich weiter.
Zu Hause warf sich Herr Dr. Converdon in
Frack, setzte einen Cylinder auf und fuhr in die
Kirche. Er hörte aufmerksam die Predigten an,
liess sich am Schluss des Gottesdienstes beim
Pfarrer anmelden. Diesem erklärte er den Sach-
verhalt, indem er sich auf einen Stuhl an der
Türe setzte, stellte ihm die Frage: ob er als
Seelenkenner glaube, dass sich das Motiv des
am fünfundzwanzigsten statthabenden Selbstmor-
des beheben lasse. Er sei Frauenarzt und da-
her mit Psychologie nicht vertraut. Der Pfar-
rer, ein junger, tiefernster Mann mit einem Je-
suitengesicht durchsprach mit ihm aufmerksam
die Angelegenheit. Er explizierte am Schluss:
Es sei, wie man wenigstens seitens der Psycho-
logie sagen könne, ein gewisses Dunkel und eine
Borniertheit in dem Arzt vorhanden, diese, eine
angeborene Eigenschaft, durch Erziehung und
Lebensweise gepflegt, sei kaum mehr zu beheben.
Die Situation sei erfreulich für die Frau Mery;
ihn könne man nur trösten mit dem Hinweis
auf die Belanglosigkeit seiner Existenz.
Damit war der beliebte Frauenarzt ganz ins
Klare gekommen. Er hatte noch zwei Wochen zu
leben. In diesen folgenden Tagen kam nun, als
er sich die Situation klar überlegte, eine
völlig unbekannte Ruhe über ihn. Er ging mit
einem Gefühl der Freude einher, dass jedem der
Glanz seiner Augen auffiel. Mit einer tiefen
Dankbarkeit behandelte er insbesondere seine jun-
ge Frau, fuhr in dem Automobil mit ihr spa-
zieren ins Grüne, war ihr wirklich innig zu-
getan in dieser Zeit. Sie hatte ihm diese schö-
nen hoffnungsvollen Tage beschert; über ein
paar Tage war er wieder allein. Wie ein-
fach sich alle seelischen Lächerlichkeiten lö-
sen lassen durch eine mechanische Bewegung,
gemäss, den guten Rat dieses Parterregymnasti-
kers Paul Wheatstren. Täglich besuchte er mit
Frau Mery die Varietevorstellungen, in denen der
treffliche Mann auftrat, wurde nicht müde, seine
Gelenkigkeit zu loben, kaufte sich sein Bild und
stellte es in seinem Schlafzimmer an sein Bett.
Zwei Tage vor seinem Ableben besuchte er noch
alle Bekannte der nächsten Umgebung und teil-
te ihnen seinen Plan mit, er ging in den Kauf-
mannsladen, in den Gemüsekeller, in die Bu-
dike. Er setzte hinzu, dass er angesichts das
Vergnügens, sie zu verlassen, ihnen Legate in
Form von je tausend Dollars aussetze; er wer-
de ihnen auch eine Stunde vor seinem Verschei-
den Telegramme mit den besten Segenswünschen
621