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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 84 (November 1911)
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Steiner, Max: Aphorismen
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Wolf, Hugo: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0227

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stinkt“ nicht. Bei verschiedenen Völkern und zu
verschiedenen Zeiten hat sich der sogenannte „so-
ziale Tnstinkt“ so unendüch mannigfaltig geäußert,
daß wir ihn unmöglich einheitlich auffassen diirfen.
Beim Abwägen des Nachteils und des Nutzens ge-
staitet sich der „soziale Instinkt“ ganz verschieden.

Hat man den Ursprung der angeborenen mo-
ralischen Neigungen noch nicht entdeckt? Ich
nentte euch den glorreichen Urahn: es ist der —
angestammte Qlaube. Kein Anatom könnte die
Vcrwandtschaft des Menschen mit den höheren
Wirbeltieren an den Skeletten so scharf nach-
weisen, wie die Sprache die innere Identität der
„'angeborenen moralischen Neigungen“ mit dem
„angestammten Qlauben“ demonstriert. Und ver-
folgen Ahne und Sproß nicht das gleiche Ziel? Sol-
len nicht beide die skeptische Vernunft ziigeln und
die ätzende Logik niederhalten?

Der Kampf ums Dasein ist das höchste üesetz
der Entwicklung — nach Darwin. Die unerbitt-
liche Ausrottung des Minderwertigen ist die Vor-
aussetzung des Fortschritts — nach Darwin. Und
den Schwachen helfen, die Kriippel am Leben er-
halten, die Kranken ernähren ist eine moralische
Neigung — nach Darwin. Hier muß etwas ge-
schehen. Diese Widerspriiche können nicht ge-
löst werden mit gesundem Menschenverstand. Daß
der Kampf ums Dasein, daß der Sieg der Starken
die Entwicklung der gesamten organisehen Welt
bedeuten, und das Qegenteil des Kampfes, das Ge-
genteil der Auslese moralisch sein soii (ohne Pessi-
mismus), — dagegen sträubt sich alle menschliche
Logik, darüber muß alle Vernunft in Aufruhr ge-
raten. So schaffen wir denn die Vernunft ab.
Qegen die angeborenen moralischen Neigungen
sträubt sich die christliche Ethik nicht mehr, und
noch nie hat ein Dogma seinen Urheber bekämpft.
Wenn die erwachende Jugend an den Lehren der
Religion kiihn zu zweifeln beginnt, dann wird man
ihnen wohl sagen: Eure Vernunft mag denken wie
sie will — von dem angestammten Glauben durft
thr nicht abfailen. Und so ist es bei Darwin. Die
Logik lehrt unerbittlich, die herrschende Moral,
die Moral der höchstbegiinstigten Minderwertigkeit,
zu verdammen. Das lehrt die Logik. Die ange-
borenen moralischen Neigungen wissen es besser.
Was geht denn diese die Logik an? Seit wann gehört
die Logik zu den angeborenen Neigungen? Qott
verzeihe mir — wer Darwin liest, wird kaum wa-
gen, jemals auch nur diese Frage zu wiederholen.

Wenn die sozialen Instinkte die Ausschaltung
der Vernunft in der Moral rechtfertigen: - wo
gibt es dann ein Qebiet, auf dem man seine Dumm-
heit nicht damit entschuldigen könnte, daß man
durch einen angeborenen Instinkt dazu gezwungen
ist. sie zu begehen?

Dieselben Aerzte, welche das „angeborene Mit-
leid“ angebüch davon abhält, unheilbar-Kranke zu
beseitigen, quälen und peinigen, ohne mit der Wim-
per zu zucken, Tierc bei lebendigein Leibe.

Die sozialen Instinkte sollen sich bewährt
haben? Das ist die — „soziale Frage“. Eine Qe-
sellschaft, die sich selbst zuni Problem geworden
ist. zeugt nicht von der Bewährtheit der Qrund-
sätze, auf denen sie beruht.

Wenn der Darwinismus zugesteht, daß Logik
und Vernunft aus seinen Lehren keine altruistische
Moral ableiten können, und wenn er Logik und
Vernunft ablehnen muß, um den sozialen Instinkten
die Herrschaft zu sichern, wenn er allen Einwän-
den bloß das „credo quia absurdum est“ entgegen-
zusetzen hat, dann ist es, so glauben wir, für den
Darwinismus an der Zeit, den Kampf mit geistigen
Mittein aufzugeben.

Der Berner Professor Ludwig Stein, ein „so-
zialer Optimist“, meint, man könne über Leute wie
Nietzsche „und“ Stirner nur lachen, widerlegen
kann man sie nicht.

Nieinand bezweifelt, daß Professor Stein lachen
känn. Aber nieinand bezweifelt auch, daß ver-
iiünftige Menschen und redliche Denker das Schau-
spiel eher traurig als ergötzlich finden werden, daß
die moderne M/elt Metaphysiker zeugt, welche
fremde sittliche Anschauungen wohl zu belachen,
die eigenen moralischen Ansichten aber nicht zu
begründen imstande sind.

„Wenn,“ schreibt Carneri, „Max Stirner sagt:
,Ich bin zu allem berechtigt, dessen ich mächtig
bin; bin ich nur mächtig, so bin ich schon von
selbst ermächtigt‘ -— so gibt er eben diesem In-
dividuaüsmus Ausdruck. Seine Uebertreibungen
grenzen allerdings an Wahnsinn; aber vielleicht
sagt man eines Tages von ihm, wie es von Mac-
chiavelli gesagt worden ist: nicht um eine Anlei-
tung zu geben, um abzuschrecken, habe er das
Buch geschrieben.“ Nun, jener Satz Stirners ist
nicht so wahnsinnig, als er — konsequent ist. AI-
lerdings — den gut christlich gesinnten Materia-
listen Carneri muß das bleiche Entsetzen lähmen,
wenn jemand vom theoretischen Unglauben zum
praktischen übergeht. Wie will man aber auf dem
Boden einer naturalistischen Ethik das Prinzip Stir-
ners bestreiten? „Wozu ich mächtig bin, dazu
bin ich bereits ermächtigt“ — das gilt dann ohne
jeden Zweifel unwiderlegbar, so unwiderlegbar,
daß fromme Atheisten wie Carneri darüber wahn-
sinnig werden könnten. Die „Ermächtigung“ wird
von de,r jetzt herrschenden (christlichen) Moral
aus dern Begriff der sittlichen Verant-
w o r t u n g abgeleitet. Dieser Begriff aber ist me-
taphysisch. Und ohne Metaphysik keine meta-
physischen Begriffe, ohrie christliche Religion keine
christliche Moral!

Es ist zu spät, Carneri und seinen Leuten einen
Rat zu erteilen. Wenn es aber dazu noch Zeit
wäre, dann wiirden wir empfehlen, be: Stirner Lo-
gik zu Iernen, ehe man sich zn üarwin begibt. Ob
Carneri Recht hat, wenn er die Aufrichtigkeit des
Einzigen geradeso verdächtigt wie c !ie Wahrhaftig-
keit von Macchiavelüs Principe, lassen wir dahin-
gestellt. Wir bezweifeln sehr, daß der große Ita-
liener abschrecken wollte. Macchiavelli isc durch-
aus ernst zu nehmen. Man muß das moralische
Empfinden eines deutschen Schulmeisters n.'cht nnt
der Auffassung der Renaissance verwechseln.
Stirner und Macchiavelli sind logische Wahrheiten.
Der Darwinismus gibt sich alle Mühe, die furcht-
barcn Bücher aucli moralische Wahrheiten werden
zu lassen.

Was der einsame Philosoph von Berlin, Stir-
ner, in seinem Stiibchen niederschrieb, das haben
Millionen unbewußt getan. Der Egoismus hat zu
allen Zeiten geherrscht trotz Christentum und
Religion. Kreuzzüge, Heidenverfolgungen sind Erup-
tionen der natürlichen Raubtier-Veranlagung des
Menschen. Man predigt die Frömmigkeit wonl, aher
man wird durchaus nicht frommer. Da kon.men
Rousseau und die Enzyklopädisten — die größten
Klerikalen der Qeschichte, echte Mönchsgestalten
— und führen die christliche Metaphysik auf die
Straße. Das neunzehnte Jahrhundert wird man der-
einst das christliche nennen. In dieser Zeit siegt
der Qedanke der Humanität, der Duldsamkeit und
der Brüderlichkeit. Und merkwürdig: gerade in
dieser Zeit läuft man Sturm gegen die Grundmauern
dieser Qlaubenssätze — gegen die christlichen
Dogrnen. Die Revolution hat die äußersten Foi-
gerungen aus der ehristlichen Moralanschauung ge-
zogen. Die Aufklärung aber vernichtet den meta-
physischen Dogmatismus. Und der Tag wird kom-
rjren, da auch dem moralischen Dogmatismus das
Sterbeglöcklein geläutet wird. Dann wird eine
Umwälzung eintreten, gegen welche die franzö-

sische Revolution ein Kinderspiel war. Denn der
demokratische Sozialismus’hat mit der bürgerlichen
Gesellschaft eihe Möral gemeinsam, die auch vom
Kapitaüsmus — theoretisch anerkannt wird. Der
aristokratische Sozialismus aber hat nicht blöß den
christlichen Qott, sondern auch das christliche Qe-
bot überwunden. Er kennt keine Gnade und keine
Barmherzigkeit, keine Nächstenliebe und keine Dul-
dting. Er Avägt den Nutzen ab und den Schaden —
das ist seine Moral. Er weicht der größeren Ener-
gie und unterdrückt die kleinere — das ist sein
Recht. Er lebt ohne Gott und ohne Dogma, ein
Egoist, ein Heide . . . Ihnt predigt ihr umsonst
von heiligen Dingen er ist sich selbst das Aller-
heiligste. In seinem Staat hat Qleichheit und'Brii-
derüchkeit keinen Hort, nur die Macht prägt dort
ihre Werte. Kalt tmd nüchtern regiert sie nach
der Stärke ihrer Arme. Und auch kein Recht des
Weibes und der Schwachen gibt es für sie. Denn
im Staate des aristokratischen Sozialismus baut
man weder Kirchen noch schmückt man Marien-
bilder zum Qebet. Dort ist man frei — von aller
Religion, von jedem Qotte, von jedem Qötzen, frei
von Moral und Verehrung.

Was sich dem Gläubigen als die zwingende
Notwendigkeit seiner religiösen Ueberzeugung dar-
steüt, das ist beitn Atheisten Carneri bloß eine fixe
Idee. Es ist gar nicht einzu.sehen, wie man ohne
metaphysische Grundlagen auch nur das Qebot, den
Nächsten zti iieben, rechtfertigen will. Oder gar
den inoralischen Brauch, Qreise zu schonen und
Bedürftigen zu helfen.

Der Einwand, daß die Kultur durch Einführung
der Sklaverei Schaden litte, ist leicht abgetan. Die
bedeutendsten Historiker sind sich darüber einig,
daß die Kulturen von Aegypten und Babylon, von
Athen und Rom ohne die Institution der Sklaverei
nie zu der Höhe emporgestiegen wären, die sie mit
Hilfe iener „Brutalität“ erreicht haben.

Einer Moral, die sich auf subjektive Qefühle
anstatt auf die objektiv giltige Logik stützt, kann
man alles mögliche entnehmen. Schopenhauers
Ethik des Mitleids fiihrt einen konsequenten Pessi-
misten dazu, den Mord aus Mitleid zu billigen.
Wenn ein Vater -seine Kinder tötet, weil er sie vor
den Schmerzen dieser Welt bewahren will, so hän-
delt er, der Schopenhauerschen Ethik zufolge, sitt-
lich gut. Schopenhauer selbst hat eine solche
Schlußfolgerung freilich nicht geahnt; aber hätte
sie - wenn er konsequent bleiben wollte — nicht
widerlegen können.

Die Welt der Aufklärung, nachgelassetie Schriften von
MAX STEINER, herausgegeben und eingeleitet von Kurt
Htller, sind dieser Tage bei Ernst Hofmann u. Co., Berlin
erschienen.

Gediehte

Das Bett

Verschlungne Schnörkel zieren seinen Rand.

Erhellt von blauem, goldnenr Baldachin
Und im Qeviert mit weißem Tuch bespanni,
Wirfts zwischen Spiegeln schmalen Schatten hin
Als heitrer Dulder - schweigsam und gewandt —
In all dem wüsten Kämpfen, irren Fliehn,

In ail den Zärtlichkeiten heißer Hand

Und wunder Lippen, wenn die Sinne knien

Vor Himmelsschönheit und an Pforten klopfen,

Die breit sich auftun, sternenherrlich flimmern . .
Und dann dein Körper voll zufriednem Schimmern
Und zwischen Polstern wie ein Perlentropfen —!
Die Schnörkelrätsel, die den Blick verführen . . .
Ich starre hin, um mich nicht zu verlieren. '
 
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