Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 93 (Januar 1912)
DOI Artikel:
Zwischen Weihnachten und Neujahr
DOI Artikel:
Sologub, Fëdor: Die weisen Jungfrauen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0300

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das höchste Qut des Mannes ist sein Volk,

Doch dieses Voik ist formlos, rechtlos,

schutzlos

Dem Feind, dem Nachbar hilfios preisgegeben:

Dem Volk Gestalt und Schutz gibt erst der

Staat,

Drum >ist das höchste Qut des Volks sein Staat.

1m Bilde

Herr Norbert Falk, der Strindberg scheußlich
findet, lobt seinen Kollegen Rudolf Schanzer als
Verfasser einer Syivesterposse. Herr Schanzer,
der nach eigener Angabe „teils per Vers, teils per
Prosa dichtet“, schrieb ein Stück „Qroße Rosinen“,
für das laut Falk „die große Heiterkeit, die treffen-
den Situationswitze und die gut pointierten Kuplets
sprechen.“ Herr Falk verrät einiges. „Damit sind
natürlich nicht alle großen Rosinen aus dem noch
viel größeren Kuchen herausgezupft; der Kuchen
selbst, um im Bilde zu bleiben, diirfte
sogar fiir die folgenden Aufführungen ein wenig
knapper zugeschnitten werden — ein paar
kräftige S t r i c h e und die Rosinen werden um so
kräftiger beieinander s i t z e n.“ Miancher kommt
nie von der Konfektion los. Er schneidet sogar
den Kuchen zu (um im Bilde zu bleiben) und setzt
die Rosinen durch ein paar kräftige Striche enger
beieinander. Und das alles, um im Bilde zu bleiben.

Vortragsreihe 33

Ein Schriftsteller spricht in der Fre'en Hoch-
schule, zu deren Ehrenrat unter anderen sogar die
Herren Karl Hauptmann, Otto Sommerstorff und
die Damen Emma Vely und Teresina Qeßner ge-
hören, über die deutsche Literatur der Qegenwart.
Er veröffentlicht im Programm dieses Instituts
seine Disposition. Der Schriftsteller „findet, daß der
Qebildete in der oft so widerspruchvollen Fülle
der literarischen Erscheinungen eines Fingerzeiges
und Leitfadens bedarf, um sich in dieser für den
Laien nicht immer übersichtlichen Welt zurecht-
zufinden.“ Er wird mit d£m Finger auf die f ü h -
renden Lyriker zeigen, auf Liliencron,
Dehmel, Falke, Qeorge, Rilke. Der Schrift-
steller leitet den Laien am Faden „zu den b a h n-
hrechenden Dramatikern, zu denen Di c h t e r
wie Wildenbruch, Sudermann, Halbe,
Hirschfeld, Hartleben, Fulda gehören.“
Dieser Schriftsteller hat die bahnbrechenden Dra-
matiker sogar am Schnürchen. In dieser über-
sichtlidten 'Welt wird sich der La>ie schon mit
einem Fingerzeig zurechtfinden. Man belege die
Vortragsreihe 33.

Das Kulturwerk mit dem kernigen Programm

„Der Qedanke, durch Vorlesungen bedeutender
Gelehrter und Dichter einen ununterbrochenen Kul-
turaustausch zwischen Deutschland und den Ver-
einigten Staaten von Amerika i m F1 u ß zu er-
halten, firidet in den besten Schichten befder Völ-
ker eine stetig wachsende Würdigung.“ Für die
B. Z. am Mittag ist alles möglich. Sie hält sogar
den Kulturaustausch >im Fluß, und wenn es der at-
lantische Ozean wäre (Spaß), und läßt ihn in den
besten Schichten stetig wachsen. Der Qedanke
könnte seiner Qroßzügigkeit nach durchaus von der
B. Z. am Mittag herrühren. „Aber die Qermanisti-
sche Gesellschaft von New-York ist es, die sich der
Durchführung dieses verdienstvollen Qe-
dankens in erster Linie widmet,in dem
sie Jahr für Jahr erste deutsche Autoren zu einer
amerikanischen Rundtour einlädt.“ Man muß die
<3astlichkeit der Germanistischen Qesellschaft in
«rster Linie anerkennen. Sie sollte unsere bedeu-
tenden Dichter nicht nur im Fluß erhalten, son-
dern sie gleich stetig bei sich wachsen lassen.
Hingegen muß man die Germanistische Qesellschaft
bedauern, daß sie in zweiter Linie die seetüch-
tigen Flußfische über Literatur reden Täßt. Sie sind
sämtlich in Deutschland schon erheblich angeräu-

chert worden, man ahnt in Amerika offenbar nichts
von den Qefahren einer literarischen Botulismus-
epidemie. Kaum haben die Fische in Hamburg
das Land verlassen, so werden sie redselig und
schreien vom Bord herab der B. Z. am Mittag zu,
worauf ihr „dichterisches Streben gerichtet“ ist.
Zur Zeit der frischen Heringe lud man Herrn Rudolf
Herzog enn, also noch im ungesalzenen Zustand.
Herr Rudolf Herzog will „wieder Kraft und Ge-
sundheit und Freude am Leben in die deutsche
Literatur bringen, der durch den Materialismus ein
gewisser fem'ininer Zug anhaftet.“ Herrn Herzog
vertreibt die Literatur gratis, der Mann begnügt
sich nun einmal mit der Lebensfreude. „Es ist be-
greiflich, daß dieses k e r n i g e Programm gerade
auf das Amerikanertum sympathisch wirken
mußte.“ Daß die Amerikaner gegen das Qeldver-
dienen sind, ist natürlich auch der B. Z. am Mittag
bekannt. Man erfährt noch zu seiner Beruhigung,
daß „die Amerikaner die Eigenart dieses
durch und durch deutschen Dfichters rasch er-
faßten.“ Herr Rudolf Herzog hat sogar in San
Franzisko aus Dankbarkeit für das durch und
durchdringende Verständnis seiner Eigenart „mit
freigebiger Hand Goldkörner aus dem Schatz
seines reichen Innenlebens ausgestreut“. D i e Qe-
gend sollte eigentlich falsches Gold nicht in Zah-
lung nehmen. Herr Rudolf Herzog zieht es vor in
Amerika eine schöne Läiche zu geben, stätt in
Oeutschland eine schöne Leiche zu sein.

Die weisen Jungfrauen

Von Fjodor Ssollogub

In dem mit Blumen und hellen Qeweben ge-
schmückten Qemach erwarteten die Jungfrauen
den Bräutigam. Sie waren zehn an der Zahl,
jung und wunderschön, und unter ihnen befanden
sich weise Jungfrauen und unvernünftige.

Die Flammen des Abendrots waren erloschen,
wie jeden Abend äm Himmel. Der Hauch der
dunkelblauen Kälte hatte sich über die Erde ge-
breitet, und die fernen, ewigen Sterne begannen
ihren langsamen Reigen. Die. Jungfrauen hatten
alles bereitet zum hochzeitlichen Mahl, und sie
setzten sich an' den Tisch. Ein Platz in ihrer
Mitte war leer, — das war der Platz für den Bräu-
tigam, der erwartet wurde. Zehn Lampen leuch-
teten vor den Jungfrauen. Auf dem weißen Tisch-
tuch standen Qefäße mit Wein und Broden.

Leise klangen die Stimmen der Jungfrauen.
Die schwarze Nacht lag schweigend hinter den
Fenstern der geschmückten hochzeitlichen Halle,
von fern jedoch ertönten die Klänge fröhlicher
Lieder, Lachen, Musik, lärmende Stimmen. Dort,
unweit vom Haus, wo die Jungfrauen den Bräu-
tigam erwarteten, jubelten und tafelten junge
Frauen und müßige junge Männer, — und sie alle
kümmerten sich nicht um den Bräutigam, der im
Dunkel und Geheimen erscheint, nicht um die
Braut, die geheimnisvoll die große Fackel anzündet.
Sie, die Sorglosen tanzten und sangen und lach-
ten und priesen die Zauber des zügellosen, wilden
Lebens. Ihre Lieder sagen davon, daß jedem das
Leben nur einmal gewährt ist, daß die Jugend
schnell dahinfließt, und daß man eilen muß, seine
Zauber und Qenüsse auszukosten, solange noch
die große Kraft wild in den Adern tobt.

Leise sprachen die Jungfrauen:

„Jetzt wird wohl balde der Bräutigam kom-
men.“

„Ja, balde wird er bei uns sein.“

„Wie sie da drüben lärmen!

„Wie toll sind ihre Qesänge

„Wie froh klingt durch die nächtliche Stille
ihr lautes Gelächter.

„Den Bräutigam wird dieser Lärm stören.

„Der Bräutigam ist gut, —• er wird nicht ver-
dammen.

„Er wird schon balde kommen.

„Ist er nicht soeben in den Garten getreten?'

„Steht er nicht an der Schwelle?

„Hat er nicht in unser Fenster hineingeschaut?

„Sollen wir ihm nicht entgegen gehen?

„Nein, im Saal ist es leer und still.

„Es ist nieinand an der Tür.

„Nur die dunkle Nacht starrt in unsere Fens-
ter herein.“

Lange währte die Nacht. Die Jungfrauen
harrten. Sie sprachen leise. Immer lauter und
lustiger wurden die Stimmen der Tafelnden. Der
Bräutigam kam nicht.

„Er ist noch immer nicht da,“ sagten voll Trauer
die Jungfrauen.

„Er wird um Mitternacht kommen,“ sagten sie
sich selbst zum Trost.

„Wir werden harren!

„Wie lange!

„Wie langweilig!

„Man muß nicht auf den Bräutigam schelten.

„Er wird kommen.

„Man muß warten, er wird uns Trost bringen.

„Wie lange das dauert! Schon ist die Mitter-
nachtsstunde vorüber.“

Die unvernünftigen Jungfrauen begannen zu
murren:

„Wir sirzeri hier und warten, er aber hat uns
vergessen.

„Vielleicht wird er gar nicht kommen?

„Vielleicht sitzt er und tafelt mit den andern?

„Weshalb warten wir Dummen denn auf ihn?

„Wie iustig ist es dort!

„Ist es nicht lächerlich, daß wir am gedeckten
Tisch sitzen und seibst nicht essen, nicht trinken
und uns nicht freuen, und den Bräutigam erwarten,
der nicht kommt, trotzdem die verabredeten Stun-
den schon vorüber sind!

„Sollen wir nicht vielleicht auch dahin gehen,
wo es so lustig hergeht?“

„Wartet“, sprachen die weisen Jungfrauen.
„Der Bräutigam wird kommen.

„Er wird an die Tür klopfen, auf der Schwelle
erscheinen, Euch mit Heil verkündenden Augen an-
sehen — und dann wird e>ine solche Freude fiir
Euch anheben, die lichter und schöner ist, als die,
um die Ihr beneidet.“

Aber die unvernünftigen Jungfrauen wollten
nicht mehr länger warten:

„Wir werden dahin gehen, wo es lustig ist.
Kommt auch Ihr mit uns. Wenn der Bräutigam
nicht zur Zeit gekommen ist, so kann er auch zu
uns dorthin kommen, wo wir sein werden. Man
kann ihin einen Zettel auf dem Tisch zuriicklassen.“

Und die unvernünftigen Jungtrauen nahmen
>ihre Fackeln und gingen fort — sechs unver-
nünftige Jungfrauen. Es blieben vier weise Jung-
frauen zurück. Sie setzten sich dicht, eine neben
die andere, und sprachen leise über den Bräutigam
und über das Qeheimnis, und warteten.

Aber der Bräutigam kam nicht. Die Stille
und die Frauen schmachteten in dem geschmück-
ten hochzeitlichen Qemach, in dem die weisen
Jungfrauen, die vor dem Tisch mit den abbren-
nenden Fackeln, vor dem nicht benützten Wein
und Brot dasaßen, leise Tränen vergossen. Hin
und wieder schlossen sich schläfrige Augen, und
im Traume erblickten die weisen Jungfrauen den
Bräutigam auf der Schwelle. Freudig erhoben sie
sich dann von ihren Plätzen und streckten die
Arme aus, -— aber der Bräutigam war nicht bei
ihnen, und niemand stand auf der Schwelle.

Die Fackeln waren niedergebrannt, weiß
schien das Licht durch die Fenster, der in Morgen
getauchte Qarten lachte unter den Klängen
der zwitschernden Vögel — und die weisen Jung-
frauen begriffen, daß der Bräutigam nicht kom-
men würde. Sie beugten sich über den Tisch und

742
 
Annotationen