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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 82 (Oktober 1911)
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Walden, Herwarth: Der Sumpf von Berlin
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Steiner, Max: Schopenhauer und die Politik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0210

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richterstatter? Was können die Richter dafilr, daß
die Journalisten jedes Schimpfwort im Fettdruck
wiedergeben? Also auch in diesem Fall sollten sich
die Kollegen auf ihre Mitarbeiter besinnen.

Was ist nun eigentlich Fürchterliches im Pro-
zeß Metternicht enthiillt worden. Da gab es einen
Grafen, der Schulden machte und sie nicht bezah-
len konnte. Das hätte man nicht vermutet. Da
gab es eine Kokotte. In Berlin. Das hätte man
nicht vermutet. Da gab es eine Lebedame, die
Kavalieren Geld pumpte. Das hätte man nicht ver-
mutet. Da gab es eine reiche Frau, die ihre Toch-
ter gern mit einem Aristokraten verheiraten wollte.
Das hätte man nicht vermutet. Da gab es einen
Schuhwarenhändler, der Schuhe im Preise von
fünfzig Mark anfertigt. Das hätte man nicht ver-
mutet. Da gab es einen Automobilfabrikanten, der
einen Wagen auf Wechsel verkaufte. Das hätte
man nicht vermutet. Da gab es den Zeugen Edel,
der als Humorist auftreten wollte. D a s war die
einzige Enthiillung, die der Prozeß bot. Und d i e
mißglückte. Wo aber ist der Sumpf? Der Sumpf
von Berlin W? Warum so pathetisch? Muß man
denn jede Pfütze gleich Sumpf nennen? Jeden
Schuldenmacher Betrüger? Jede reiche Frau He-
rodias? Jedes erotische Mädchen Salome? Jeden
Zeilenschinder Dichter? Nur nicht pathetisch wer-
den. Die Schieber auf allen Gebieten sind doch nur
Geschobene. Die Kunst braucht sie alle auf. Wer
weder Größe noch Wahn besitzt, soll sich nicht
über Größenwahn aufregen. Es gibt auch Lumpe.
die nicht bescheiden sind.

Trust

„Wir lassen nunmehr den Bericht
unseres eigens entsandten xw- S p e-
zialberichterstatters über das Cafe
Größenwahn folgen. Derselbe

schreibt u n s über dasselbe

Cafe Grössenwahn

Dort, wo die Joachimsthalerstraße den Kur-
fürstendamm schneidet, haben sie den Sitz der
Hölle aufgeschlagen. Noch rasch vor seinem Tode
hat Messel das Cafe erbaut, und Cassirer hat die
Wände mit Klimtschen Satanswerken ringsum be-
hängt. Die Fußböden sind mit Mosaiken ausge-
legt, auf denen Hodlers anatomische Selbstherr-
lichkeit lagert. Getische und Gestühle und alles
Geschirr und Geräte, der letzte Schrei der Wiener
Werkstätten.

Scheu und geängstigt hastet der schlichte Bür-
ger am Höllenlpfuhl vorbei. Der ehrbare Kauf-
mann, der sparsame Rentier, der mutige Offizier,
der tiefe Gelehrte, der berufene Theaterdirektor,
der standesbewußte Schauspieler, der sich Zeit las-
sende Handwerker, der herkömmliche Maler, der
klassische Dichter, der rasende Fuhrmann, der
treue Dramaturg, der tennisverdammte Demi-Jüng-
ling, die handkoffertragende lungfrau, und last not
least der bescheidene Lumpensammler werfen einen
scheuen Blick durch die revolutionären Scheiben
und empfehlen ihre Seele Wildenbruch und allen
guten Geistern der großen Kunstausstellung. Blei-
cher Schauer rieselt durch ihr normales Gebein,
durch ihr gesundes Blut. Tief im Innern haben sie
dämonische Gestalten sitzen sehen. Männer mit
langen Haaren, schlangenhaft geringelten Locken,
wildflatternden Kravatten, sezessionistischen Sok-
ken und alkoholfreien Unterhosen leben sich aus.
Drücken sich bedeutsam in die Sofaecken, bespie-
geln sich selbst und gegenseitig, schleudern sich
biertonnengroße Weihgefäße um die stefangeorge-
schen Ohrmuscheln, und bringen durch ruchloses,
dekadentes Kaffeetrinken die deutsche Kunst an
den Rand des Abgrunds. Gurgelnde, röchelnde Pe-
reatrufe auf Schiller und Konsorten unterbrechen
die Stille des modernen Denkens, und Holz und
Schlafs Familie Selicke ist der Gral der Tafelrunde.

Ermunternd, erweckend, aufreizend und zum

ewigen Haß gegen Weimar mahnend, schreitet Arno
Hoiz selbst von Tisch zu Tisch, und die Modernen
küssen des Meisters Hände. Krachend fliegen die
Tagesblätter in die Ecken, die Brockhausbände mit
Goethe undj Schiller sind verbrannjt, aber von
Hand zu Hand gehen die gesammelten Werke Al-
fred Momberts. Altenberg kann ieider das Reisen
nicht vertragen, aber Hermann Bahr kommt zwei-
mal in der Woche herüber, und Alfred Kerr steht
in ununterbrochener telephonischer Verbindung mit
der modernen Clique, während Karl Kraus von
der Wiener Fackel Depeschen sendet. Dann
schwirrt es in Telephor.- und Telegraphendrähten
von Ibsen und Hauptmann, von Strindberg und
Wedekind, von Hoffmannsthal und Maeterlinck, von
Shaw und d’Annunzio.

So vergeht der Tag, bis abends die große
Orgie der tägiichen modernen Nacht beginnt: die
markzerfressende Zersetzungsarbeit der Cafehaus-
Iiteraten. Dann kommt es herangekrochen aus Wil-
mersdorf und Halensee, sezessionistisches Gewiirm,
krankhaft Empfindende, bizarre Gesellen, „vom
Größenwahn“ geschlagene. Und es beginnt ein
irrsinniges Lallen. Klein Eyolfschen Banalitäten
werden Shakespeares unsterblichste Wortspiele
geopfert. Hauptmanns naturalistische Platituden
Schillers Betrachtungen über die Lebenskraft der
Sonne vorgezogen. Lerchenjubel, wogendes Aeh-
renfeld, braune SchoIIe, schmucke Bauerndirnen,
der Schrei der Möwe und all die tausend Vögel,
die in der Brust der heimatkünstlichen Menschen
singen, alle die altcn geheiligten Giiter der Kunst
werden verlacht und verhöhnt. Scheerbarts Muse
wird mit metaphysischer Inbrunst abgeknutscht,
Heinrich Manns Romane in den unmöglichen Me-
lodien Herwarth V/aldens gesungen.

Und um Mitternacht hebt an das große Opfer
der gegenseitigen Beweihräucherung: ein gigan,-
tisches Ueberschreien, Einandervorlesen; tolle
Wortgebilde durchdringen die Lüfte, Sätze, die
man weder bei Schiiier noch bei Goethe findet, un-
vcrständliches Gestammle, französische, italienische
Wortkonstruktionen ohne germanische Deutiich-
keit, unreife Ansichten über Grillparzer und Hebbel.
Junge Fante, die nie den Ernst des Lebens kennen
gelernt haben, entziehen, sich weimarscher Zucht
und weigern sich, in fünffüßigen Jamben zu dich-
ten Auf kristallenen Schalen werden die wertvoll-
sten unaufgeklärten Dramen in Lilasamt und Silber-
schnitt gebunden herumgereicht. Kaffee rinnt auf
Kaffee, nur selten vom schlichten Selters unter-
brochen. Der Taumel wächst. Baudelaire, Ver-
laine und Flaubert werden in eine einzige Silbe
geschweißt, Monet wird zu Manet und Manet zu
Monet. Peter Hiile wird durch Tiscnrücken her-
angeholt, Begrüßungstelegramme werden gesandt
an Paul Claudel und Thaddäus Rittner. Und nach-
dem Else Lasker-Schüler sechs Gedichte vorgelesen
hat, in denen sich nichts reimt und keine Verbin-
dung mit Heine oder Busse-Palma zu finden ist,
Iäuten fingerfertige Jünglinge zum Beardsley-Dienst.
Und während Speisen- und Getränkekarten, Tage-,
Wochen- und Monatsblätter, Wände und Marmor-
platten mit schamlosen amoureusen Verrenkun-
gen gedeckt werden, kauern sezessionistische Ma-
ler auf der Treppe und verzeichnen anatomisch fr0t-
stehende Tatsachen. Lovis Corinth stöhnt nach
degoutanten Vorwürfen, Oskar Kokoschka hat sich
etwas Straßenstaub mitgebracht, den er für ein
Kolossalgemälde braucht, Max Pechstein hält Men-
schenleiber für Paletten. Wild dröhnt die Tschu-
dikantate. Hungrige verlangen Speisekarten mit
Peter Behrens-Typen. Aber anstatt zu essen
schreien sie unaufhörlich Greco, Greco — a bas
Velasquez! und Minderjährige bringen Hochs auf
Munch und Julius Meier-Graefe aus. Und dann
spreizt der Wahnsinn der Moderne seine Fang-
arme aus: lange Arme, viel länger als anatomisch
denkbar und erweislich wahr ist, mit Flederhänden,
die es so wenig gibt als das Wort selbst, und
Neo-Krallen: weißlich grüner Gischt tritt den Be-

sessenen vor den Mund, thre Augen werden van-
Goghisch grün, was sich durch Lichtrefkxe aller-

dings e r k I ä r e n läßt.

Und dje beliebtesten üenien in ihren respek-
tiven Heimen aufgescheucht. und an ihren tradi-
tionellsten GefühJen verhindert brechen auf und
suchen das Land, wo der koffeinfreic Kaffee ge-
deiht und der koholhaltige Kohol.

Schopenhauer und die
Politik

Von Max Steiner

Wir sind glückliche Leute. Jahrtauscnde haben
daran gezweifelt, daß es für die Menschen auf Er-
den einen Fortschritt gibt. Heute sind wir längst
am Ziel.

Jeder Volksredner weiß es: Gebt dem Volke
Freiheit, über sich selbst zu bestimmen, räumt ihm
allc Schranken hinweg, auf daß es sich entwickeln
kann. Denn der Fortschritt des Volkes bedeutet
den Fortschritt der Menschheit.

Jeder Volksredner sagt es. Und die Größten
der Nation? Sind auch sie dem demokratischen
Gedanken mit Sympathie entgegen gekommen?
Wie haben jene iiber den Fortschritt der Mensch-
heit gedacht, die doch allein der Menschheit geistig
Gut gemehrt und verwaltet haben?

Sie sprachen nicht wie die Voiksredner von
heute. Daß Goethe so streng konservativ gesinnt
war, haben ihm die Demokraten des neunzehnten
Jahrhunderts von Ludwig Börne bis Anton Menger
verübelt. Goethes großer Zeitgenosse in Königs-
berg, den ein Führer der äußersten Linken einmal
zu den Republikanern zählte (bloß weil er nicht
wußte, was man in Königsberg unter dem Wört-
chen „republikanisch“ v rerstanden hat), widmet sei-
nen angeblL-hen Gesinnungsgenossen die lehrreichen
Worte: „Der Pöbel der Vernünftler . . . schmähet
auf die Regierung, in deren innersten Plan er nicht
zu dringen vermag, deren wohltätigen Einflüssen
er auch selbst seine Erhaltung und die Kultur ver-
danken soilte, die ihn in den Stand setzt, sie zu
tadeln und zu verurteilen“ (Krätik der reinen Ver-
nunft, Seite 668; erste Ausgabe.).

Daß Friedrich Nietzsche demokratischen Ein-
richtungen nicht zugetan war, ist bekannt. Was er
aber vom Liberalismus sagte, wird selten erwähnt;
und ist doch nicht ohne interesse. Ist allerdings
auch eine unangenehme Wahrheit. „Die liberaien
Inst'iutionen hören alsbald auf, liberal zu seln, so-
baid sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren
und gründlicheren Schädiger der Freiheit als libe-
rale Institutionen. Liberalismus: auf deutsch Her-
denvertierung“ (Götzendämmerung § 38).

In die freisinnigen Zirket, deren unverstan-
dener Liebling Nietzsche ist, hat sich jenes bittere
Wort nie gewagt. Die Kreise der „Aufklärung“ be-
sitzen ein merkwürdiges Geschick darin, das We-
sentliche in den Anschauungen eines Meisters zu
verkennen oder zu verhüllen. Und so gelingt es
nur allzu gut, das Ansehen berühmter Männer dem
verderblichen Doktrinarismus dienstbar zu machen
und die mißdeuteten Ideale der Vergangenheit mit
den politischen Zielen einer kleinen Gegenwart zu
verbrüdern. Es gibt Frauenrechtlerinnen, deren
Wortaberglaube verführerisch genug ist, sie den
Erzfeind Nietzsche vergöttern zu lassen. Und man
kennt „Friedensfreunde“, die Kant als „Pazifisten“
riihmen. Denselben Kant, dem wir einen der herr-
lichsten Lobsprüche des Krieges verdanken. Wel-
cher moderne „Pazifist“ dürfte das Bekenntnls wa-
gen, daß der „Krieg etwas Erhabenes an sich habe“?
„Dahingegen ein langer Friede den bloßen Han-
delsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz,
Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen
und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen
pflegt“ (Kritik der ästhetischen Urteilskraft § 28).

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