ausführlich gesprochen werden. Es seien vorläufig die
Namen Henri Manguin, Pablo Picasso, Othon Friesz
und Kees van Dongen genannt. Von Honore Daumier,
Julius Pascin und Ferdinand Hodler sind wundervolle
Bilder ausgestellt. Die eigentliche Sezessionisten halten
ihr übliches Niveau. Der langweilige Oberländer wird
diesmal sehr amüsant durch Emil Pottner (Badende
Enten) und Adolf Eduard Herstein (Ziegenstall) ersetzt.
Die stärkste Individualität unter den den Bildhauern ist
Ernst Barlach.
Trust
Materialtäuschung
Wie die Zeitungen berichten, ist auf der Grossen
Berliner Kunstaustellung 1911 eine grosse Austellung
für monumentale Malerei in Vorbereitung. Es
wird geplant, die Kartons und grossen Entwürfe nicht
wie früher in Rahmungen an die Wand zu hängen,
sondern es soll „in eigenartiger Weise dafür gesorgt
werden“, dass die Täuschung hervorgerufen wird, als
ob diese direkt auf die Wand gemalt seien. - AIso
ein Wiederaufleben der monumentalen Malerei im Zeichen
des unlauteren Wettbewerbes. Zugleich ein Beispiel für
die Fäischung der Arbeitstechnik
H. P.
Die Volksversammlung
Von Max Brod
Elftes Kapitel des Romans „jüdinnen“, der demnächst
im Verlag Axel Juncker erscheint
Die Versammlung fand in Schönau statt, zwei
Tage ehe Hugo abreiste. Nussbaum hatte das Thema,
aach vielen Beratungen mit Irene geändert, und sprach
iber „Nationale und konfessionelle Duldsamkeit“. An-
schliessend sollte sein Freund Pitroff über „Russische
Zustände“ referieren. AIs Einberufer zeichneten ein
Volksbildungsverein und ein freisinniger Arbeiterverein .. .
Lange vor Beginn war der Saal gedrängt voli, Zigaren-
rauch stieg die grünen Wände empor, man speiste an
den Tischen, zwischen denen Kellnerinnen mit weissen
Schürzen, an der Seite grosse Ledertaschen, herum-
liefen, jede eine Traube zahlloser Bierkrüge an der
Hand. Bald kamen neue Leute, verstellten die Türen
und die Gänge zwischen den Tischen, mussten jeden
Augenblick ersucht werden zur Seite zu treten, und
strömten nun wie auf einem Korso hin und her. Nur
ein Tisch in der ersten Reihe war für das Komitee
frei geblieben. Und es erregte allgemeines Aufsehen,
als lrene am Arm Nussbaums, hinter ihnen Kamilla
Kapper mit Pitroff, in auffallenden Kleidern herein-
rauschten und von den beiden Vortragenden galant an
den reservierten Tisch geleitet wurden. Es wurde ein
Moment fast ganz ruhig, nur ein Summen blieb statt
des lauten Geschreis. Hugo glaubte, sein Herz bleibe
stille stehn.
Er hatte mit Alfred unter einer seitlichen Galerie
Fuss gefasst, von wo aus man wohl hören, aber wenig
sehen konnte. Zwischen Köpfen und Rücken durch
bot sich ein wechseinder, immer wieder anders be-
grenzter Anblick auf das Podium, wo an einem Tisch
mehrere Herren Platz genommen hatten und in die
Versammlung schauten. Wollte man einen bestimmten
ins Auge fassen, so musste man beständig mit dem
Kopfe hin und herrücken, je nachdem sich in den
Vorderreihn irgend eine Gestalt bewegte; und es
machte auf Hugo den Eindruck, dass durch diese
mühevolle Arbeit erst die schwüle Hitze entstehe, die
im Saale lagerte. Denn er sah alle Köpfe hin und
herwacketn, einen vom anderen behindert, und alle
Nacken schwitzten schon in diesem beständigen Pendeln,
alle Taschentücher fuhren schon an die Nacken und
an die Glatzen . . .
Auf dem Podiumtisch hatte der Regierungsbeamte
seine Kappe gelegt. steil und streng wie diese lag,
sass er selbst da, der einzige Mensch im Saal ohne
innere Regung. Die Ausschussmitglieder neben ihm
beachteten ihn nicht . . . Endlich trat Nussbaum auf.
Irgendwo vorn gab man des Zeichen zum Applaus.
Irene? . . . Nussbaum dankte schon. Da erst ap-
plaudierten mehrere ... Er ergriff einen Sessel,
stützte sich auf ihn, zog ihn an sich, so dass nur die
beiden Hinterbeine standen, und hinter dieser Ver-
schanzung, die er bald hob, bald senkte je nachdem
er den Zuhörern sich nähern oder entfernen wollte,
begann er eindringlich leise zu sprechen. Hugo musste
das geschickt finden. Doch konnte er es nicht über
sich bringen zuzuhören ... Er sah im Saal umher,
nur um Irenens Gegenwart zu vergessen. Auf weissen
Pilastern, die die grüne Wand gegenüber teilten,
standen hoch oben und nur infolge ihrer bekannten
charakteristischen Gestalt kenntlich zwei Büsten: Der
Kaiser und die Kaiserin. Von je drei Gaslampions,
die in ein Bündel vereinigt hingen, war nur einer an-
gezündet; Offenbar war der Saal ein Tanzsaal, seinem
ganzen Aussehn nach, und offenbar zählte er auch
Tanzfeste eher zu seinen Ruhmestagen als diese Ver-
sammlung. Auf dem Podium in der Nische spielte
wohl sonst das Orchester . . . Ein Schrei weckte
Hugo. Neben ihm, in der leeren Galerie, trampelte
arglos ein kleines dickes Mäderl, das Töchteriein des
Wirts vielleicht. Erschreckte Kellner stürzten darauf
los, beförderten es hinaus. Einige Frauen sahn wohl-
wollend auf das gesunde Kind, alles andere vergessend.
Die Menge war über die Störung entrüstet. Man
hörte „Pst“ und „Ruhe“. Hugo selbst entdeckte ein
böses Gefühl in sich: Mochte es auch nur ein wenig
gestört haben, es freute ihn, gewiss war Nussbaum
um eine Pointe gekommen . . . Der aber liess sich
nicht entmutigen, am wenigsten durch so einen lächer-
lich kleinen Zwischenfall. Jetzt war er in Feuer ge-
kommen. Er baute parallele Sätze, die minutenlang
hintereinander mit: „Sie haben — Sie haben — Sie
haben“ anfingen, einer den anderen überbietend. Hugo
fand ihn eintönig, auf den Sinn konnte er seine Auf-
merksamkeit gar nicht einstellen. Und was machte
Irene indessen ? Bei jedem Lächeln, das Nussbaum
gefällig die Rinne seines Bartes hinab ins Publikum
schickte, glaubte Hugo, es gelte speziell dem reser-
vierten Tisch vor ihm und namentlich dieser Irene,
dieser . . . Und ihr Bruder stand neben ihm. Was
sollte man da machen? Ihn erschlagen? Freundlich
zu ihm reden? Etwas musste geschehn und Hugo
empfand es segensreich, das wenigstens dieser Bruder
da war, das Blut dieser Frau, die ihn heute mehr er-
regte a!s jemals. ja in einem Moment, da er sich
vorstellte, auch dieser Bruder sei nicht neben, ihm man
habe ihn also ganz allein gelassen, war er einem
Schwindelanfalle nahe . . . Indessen wurde Nussbaum
von Beifallssalven unterbrochen Was hatte er gesagt?
Unmöglich, das zu erforschen, unmöglich, zuzuhören
überhaupt, so wenig interessierte es ihn. Nur der
Beifall lenkte ihn von Zeit zur Zeit aus seinen wüten-
den Gedanken auf die Rede. Und Alfred hörte zu.
Warum hörte er zu? . . Der Redner sagte: „Ich
komme zum Schuss.“ Alles atmet, horcht ge-
spannter Nauf, auch Hugo konrite sich der all-
gemeinen Wallung nicht entziehn, wenn er auch nicht
hinhorchte, wandte er sich doch wenigstens genauer
in die Richtung, woher die Stimme kam. Doch war
das nur ein Trick gewesen, um die Zuhörer zu er-
muntern. Unvermindert redete Nussbaum weiter, ja er
gebrauchte sogar diesen Trick noch einmal, und wieder
wurde alies mäuschenstill. Wahrscheinlich ist das ein
gebräuchlicher Trick aller Volksredner, dachte Hugo . .
Manchmal wieder steigerte Hugo seine Stimme, schrie
so, dass man ihn im Finale glaubte, gab rückhaltslos
alles her, was noch in ihm war. Ein Beifallssturm
war der Lohn. Er beniitzte ihn, um auszuruhn, und
der Pause, wenn der Lärm abflaute, setzte er mit ganz
leiser Stimme wieder ein, sparend bis zum nächsten
Höhepunkt ... Er hatte klug die wirkungsvollen
Stellen zerteilt, er erzählte Anekdoten, er wusste Ernst
und Humor abzuwechseln. Das Publikum folgte ihm
gespannt, ging auf jede Wendung ein. Man unter-
brach ihn mit Zwischenrufen der Zustimmung, gruppen-
weise. Das fiel wenig auf, das schien so im gewöhn-
lichen Lauf der Dinge zu liegen. Manchmal aber war
ein einzelner so weit hingerissen, das er eine rehto-
rische Frage beantwortete. „Wollen sie etwa . . .“
fragte Nussbaum, angstvoll und voll Entrüstung, und
eilte schon weiter. „Nein,“ rief jemand entschlossen.
Man kicherte, aber doch nur, um im nächsten Moment
den Redner um so stärker zu bewundern. Jetzt
apostrophierte er die Studenten: „Nur deshalb ge-
niessen Sie ja eine ausgezeichnete Stellung in der
Bevölkerung, damit Sie die Schätze der Kultur em-
pfangen und weiter verteilen . . .“ „Bravo“ schrie
ein besonders Bildungsbedürftiger, laut und schmerz-
lich . . .
„Nun, fühlen Sie sich geehrt, als Student?“ wandte
sich Hngo an Alfred.
„Ich höre gar nicht zu. lch denke an etwas
ganz anderes.“
„Sie auch . . . Was denn?“
„Wann spricht eigentlich dieser Pitroff?“ Alfred
lugte im Saal umher, jetzt erst bemerkte Hugo, wie
aufgeregt er war.
„Ich weiss nicht ... So eine Versammlung ist
doch schrecklich langweilig . . . Das einzig hübsche
hier sind doch noch die Damen.“
„So so“ überlegen-schalkhaft drohte Alfred mit
dem Finger. „Mir scheint, Sie sind ein kleiner Frauen-
liebhaber, was . . .“
„Ja, ich liebe die Frauen“ sagte Hugo und wandte
der Versammlung den Rücken Hier in der Gaierie
konnten sie ungestört reden und Hugo hatte das
heftigste Bedürfniss seine innere Spannung durch
irgend eine Gemütserregung auszulöseh. Also be-
kannte „er gleich alles und brannte darauf, zu reden
und im Reden sich selbst zu erkennen: „Ja, ja, ich
gestehe es, ohne Frauen könnte ich nicht leben. Das
Leben erschiene mir wertlos und lichtlos ohne sie . . .
Schauen Sie, — schauen Sie, Herr Popper — ich bin
nicht sinnlich. Aber ich will Liebe, ich will ein Herz
für mich haben, eine Frau, die mit mir fühlt, die an
mich denkt wie an ihren Freund und Bruder, ein
Ideal der Frau mit einem Wort. Sehn Sie, ich liebe
die Frauen. Ich achte die Frau, ich bin, kurz und
gut, froh und glücklich, dass es Frauen auf der Welt
gibt. Das ist das Ganze. Nützen mir die Frauen?
lch weiss es nicht, darauf kommt es auch gar nicht
an. Ich bin gar nicht geneigt, diese Frage zu unter-
suchen. Ich sage nur das eine: Schon dass sie helle
Kleider tragen, dafür bin ich ihnen dankbar . . .
Lachen sie nicht . . . Stellen sie sich doch einmal
vor, es gebe keine Frauen auf der Welt, wie Iangweiiig
zum Krepieren wäre das ... Ich bin glücklich, dass
es Frauen gibt, das sie mich anschauen und mit mir
sprechen, das sie anderer Meinung sind als ich und
gerade in so weiblicher Art und anderer Meinung als
ich. In jeder Beziehung sind Frauen besser und voll-
kommener als die Männer, das weiss ich und nichts
weiss ich so fest wie dieses. Das ist die Wurzel
meines Lebens. Können sie das so ganz und gar
riicht begreifen ? Ja, ja, Sie haben Recht, ich habe
so eine Frau, wie ich mir sie denke, noch nie kennen
gelernt, das gebe ich ohne weiteres zu. Aber ich be-
haupte ferner, dass das ganz egal ist, ein durchaus
gleiehgiltiger Umstand . . .“
Lauter Beifallsjubel erhob sich nebenan, in den
Nussbaum noch das Wort „Fortschritt“ mit höchst-
erhobener Stimme hinein schrie. Er machte eine
Pause.
Hugo gleichfalls, bis ruhig geworden war.
Dann fuhr er fort: „Mein Ideal lebt so fest in
mir, diese sanfte gutartige wohltätige Frau, dass es im
Leben vielleicht garnicht erscheinen kann. Ich halte
es gleichsam in meinem Innern fest. Vielleicht ist es
überdies nur eine Folge meiner geringen Lebens-
erfahrung, das ich noch nie ein derartiges Mädchen
getroffen habe. Auch das ist möglich. Aber woher
nährt es sich den eigentlich, wenn nicht aus dem
Leben, sage ich mir, dieses Ideal. Ich bin durchaus
nicht so eingebildet, es für meine Erfindung zu halten,
meine Dichtung. Nein, die Sache verhält sich vielmehr
so: Ich verkehre gern mit Frauen, ich verehre sie und
immerfort bemerke ich auch kleine verehrungswürdige
Züge an ihnen, einmal die hellen lustigen Kleider zum
Beispiel, einmal eine reizende Bemerkung, eine stille
Güte. Gut und diese kleinen Züge sickern, fast un-
bemerkt, in mich hinein und bauen sich zu meinem
Ideal auf. Wem schulde ich also dieses Ideal? Den
Frauen. Ich schulde es ihnen, nicht sie mir, wohl-
gemerkt. Deshalb ziemt es mir auch, demütig mit
ihnen zu reden, nicht zuviel zu verlangen, garnichts
vielmehr, ihnen zu danken, und gut ist es Und so
gern tu ich das und so gern bin ich bei ihnen, sehr gern.
Die Luft schon in ihrer Nähe tut mir wohl. Und ganz
dunkel wird es mir um den Kopf, wenn ich nur eine
Weile unter Männern stehe, Kopfschmerzen bekomme
ich . . .“
„Jetzt spricht er wirklich nicht schlecht,“ unter-
brach ihn Alfred, der sich von dem letzten Applaus an
nur noch mit Nussbaum beschäftigt hatte.
In diesem Moment erhoben sich alle und schwenkten
die Gläser. Von drei Männern wurde Nussbaum im
Triumph vom Podium geholt. Er war zu Ende.
Man toDte. Der Tribun lehnte sich mit Würde an
seine Begleiter, die ihn die Stufen herab mehr trugen
als führten. Ernst und gefasst blickte er in den
Tumult, ohne auch nur für einen Moment durch ein
bescheidenes Lächeln die Begeisterung und den Beifall
485
Namen Henri Manguin, Pablo Picasso, Othon Friesz
und Kees van Dongen genannt. Von Honore Daumier,
Julius Pascin und Ferdinand Hodler sind wundervolle
Bilder ausgestellt. Die eigentliche Sezessionisten halten
ihr übliches Niveau. Der langweilige Oberländer wird
diesmal sehr amüsant durch Emil Pottner (Badende
Enten) und Adolf Eduard Herstein (Ziegenstall) ersetzt.
Die stärkste Individualität unter den den Bildhauern ist
Ernst Barlach.
Trust
Materialtäuschung
Wie die Zeitungen berichten, ist auf der Grossen
Berliner Kunstaustellung 1911 eine grosse Austellung
für monumentale Malerei in Vorbereitung. Es
wird geplant, die Kartons und grossen Entwürfe nicht
wie früher in Rahmungen an die Wand zu hängen,
sondern es soll „in eigenartiger Weise dafür gesorgt
werden“, dass die Täuschung hervorgerufen wird, als
ob diese direkt auf die Wand gemalt seien. - AIso
ein Wiederaufleben der monumentalen Malerei im Zeichen
des unlauteren Wettbewerbes. Zugleich ein Beispiel für
die Fäischung der Arbeitstechnik
H. P.
Die Volksversammlung
Von Max Brod
Elftes Kapitel des Romans „jüdinnen“, der demnächst
im Verlag Axel Juncker erscheint
Die Versammlung fand in Schönau statt, zwei
Tage ehe Hugo abreiste. Nussbaum hatte das Thema,
aach vielen Beratungen mit Irene geändert, und sprach
iber „Nationale und konfessionelle Duldsamkeit“. An-
schliessend sollte sein Freund Pitroff über „Russische
Zustände“ referieren. AIs Einberufer zeichneten ein
Volksbildungsverein und ein freisinniger Arbeiterverein .. .
Lange vor Beginn war der Saal gedrängt voli, Zigaren-
rauch stieg die grünen Wände empor, man speiste an
den Tischen, zwischen denen Kellnerinnen mit weissen
Schürzen, an der Seite grosse Ledertaschen, herum-
liefen, jede eine Traube zahlloser Bierkrüge an der
Hand. Bald kamen neue Leute, verstellten die Türen
und die Gänge zwischen den Tischen, mussten jeden
Augenblick ersucht werden zur Seite zu treten, und
strömten nun wie auf einem Korso hin und her. Nur
ein Tisch in der ersten Reihe war für das Komitee
frei geblieben. Und es erregte allgemeines Aufsehen,
als lrene am Arm Nussbaums, hinter ihnen Kamilla
Kapper mit Pitroff, in auffallenden Kleidern herein-
rauschten und von den beiden Vortragenden galant an
den reservierten Tisch geleitet wurden. Es wurde ein
Moment fast ganz ruhig, nur ein Summen blieb statt
des lauten Geschreis. Hugo glaubte, sein Herz bleibe
stille stehn.
Er hatte mit Alfred unter einer seitlichen Galerie
Fuss gefasst, von wo aus man wohl hören, aber wenig
sehen konnte. Zwischen Köpfen und Rücken durch
bot sich ein wechseinder, immer wieder anders be-
grenzter Anblick auf das Podium, wo an einem Tisch
mehrere Herren Platz genommen hatten und in die
Versammlung schauten. Wollte man einen bestimmten
ins Auge fassen, so musste man beständig mit dem
Kopfe hin und herrücken, je nachdem sich in den
Vorderreihn irgend eine Gestalt bewegte; und es
machte auf Hugo den Eindruck, dass durch diese
mühevolle Arbeit erst die schwüle Hitze entstehe, die
im Saale lagerte. Denn er sah alle Köpfe hin und
herwacketn, einen vom anderen behindert, und alle
Nacken schwitzten schon in diesem beständigen Pendeln,
alle Taschentücher fuhren schon an die Nacken und
an die Glatzen . . .
Auf dem Podiumtisch hatte der Regierungsbeamte
seine Kappe gelegt. steil und streng wie diese lag,
sass er selbst da, der einzige Mensch im Saal ohne
innere Regung. Die Ausschussmitglieder neben ihm
beachteten ihn nicht . . . Endlich trat Nussbaum auf.
Irgendwo vorn gab man des Zeichen zum Applaus.
Irene? . . . Nussbaum dankte schon. Da erst ap-
plaudierten mehrere ... Er ergriff einen Sessel,
stützte sich auf ihn, zog ihn an sich, so dass nur die
beiden Hinterbeine standen, und hinter dieser Ver-
schanzung, die er bald hob, bald senkte je nachdem
er den Zuhörern sich nähern oder entfernen wollte,
begann er eindringlich leise zu sprechen. Hugo musste
das geschickt finden. Doch konnte er es nicht über
sich bringen zuzuhören ... Er sah im Saal umher,
nur um Irenens Gegenwart zu vergessen. Auf weissen
Pilastern, die die grüne Wand gegenüber teilten,
standen hoch oben und nur infolge ihrer bekannten
charakteristischen Gestalt kenntlich zwei Büsten: Der
Kaiser und die Kaiserin. Von je drei Gaslampions,
die in ein Bündel vereinigt hingen, war nur einer an-
gezündet; Offenbar war der Saal ein Tanzsaal, seinem
ganzen Aussehn nach, und offenbar zählte er auch
Tanzfeste eher zu seinen Ruhmestagen als diese Ver-
sammlung. Auf dem Podium in der Nische spielte
wohl sonst das Orchester . . . Ein Schrei weckte
Hugo. Neben ihm, in der leeren Galerie, trampelte
arglos ein kleines dickes Mäderl, das Töchteriein des
Wirts vielleicht. Erschreckte Kellner stürzten darauf
los, beförderten es hinaus. Einige Frauen sahn wohl-
wollend auf das gesunde Kind, alles andere vergessend.
Die Menge war über die Störung entrüstet. Man
hörte „Pst“ und „Ruhe“. Hugo selbst entdeckte ein
böses Gefühl in sich: Mochte es auch nur ein wenig
gestört haben, es freute ihn, gewiss war Nussbaum
um eine Pointe gekommen . . . Der aber liess sich
nicht entmutigen, am wenigsten durch so einen lächer-
lich kleinen Zwischenfall. Jetzt war er in Feuer ge-
kommen. Er baute parallele Sätze, die minutenlang
hintereinander mit: „Sie haben — Sie haben — Sie
haben“ anfingen, einer den anderen überbietend. Hugo
fand ihn eintönig, auf den Sinn konnte er seine Auf-
merksamkeit gar nicht einstellen. Und was machte
Irene indessen ? Bei jedem Lächeln, das Nussbaum
gefällig die Rinne seines Bartes hinab ins Publikum
schickte, glaubte Hugo, es gelte speziell dem reser-
vierten Tisch vor ihm und namentlich dieser Irene,
dieser . . . Und ihr Bruder stand neben ihm. Was
sollte man da machen? Ihn erschlagen? Freundlich
zu ihm reden? Etwas musste geschehn und Hugo
empfand es segensreich, das wenigstens dieser Bruder
da war, das Blut dieser Frau, die ihn heute mehr er-
regte a!s jemals. ja in einem Moment, da er sich
vorstellte, auch dieser Bruder sei nicht neben, ihm man
habe ihn also ganz allein gelassen, war er einem
Schwindelanfalle nahe . . . Indessen wurde Nussbaum
von Beifallssalven unterbrochen Was hatte er gesagt?
Unmöglich, das zu erforschen, unmöglich, zuzuhören
überhaupt, so wenig interessierte es ihn. Nur der
Beifall lenkte ihn von Zeit zur Zeit aus seinen wüten-
den Gedanken auf die Rede. Und Alfred hörte zu.
Warum hörte er zu? . . Der Redner sagte: „Ich
komme zum Schuss.“ Alles atmet, horcht ge-
spannter Nauf, auch Hugo konrite sich der all-
gemeinen Wallung nicht entziehn, wenn er auch nicht
hinhorchte, wandte er sich doch wenigstens genauer
in die Richtung, woher die Stimme kam. Doch war
das nur ein Trick gewesen, um die Zuhörer zu er-
muntern. Unvermindert redete Nussbaum weiter, ja er
gebrauchte sogar diesen Trick noch einmal, und wieder
wurde alies mäuschenstill. Wahrscheinlich ist das ein
gebräuchlicher Trick aller Volksredner, dachte Hugo . .
Manchmal wieder steigerte Hugo seine Stimme, schrie
so, dass man ihn im Finale glaubte, gab rückhaltslos
alles her, was noch in ihm war. Ein Beifallssturm
war der Lohn. Er beniitzte ihn, um auszuruhn, und
der Pause, wenn der Lärm abflaute, setzte er mit ganz
leiser Stimme wieder ein, sparend bis zum nächsten
Höhepunkt ... Er hatte klug die wirkungsvollen
Stellen zerteilt, er erzählte Anekdoten, er wusste Ernst
und Humor abzuwechseln. Das Publikum folgte ihm
gespannt, ging auf jede Wendung ein. Man unter-
brach ihn mit Zwischenrufen der Zustimmung, gruppen-
weise. Das fiel wenig auf, das schien so im gewöhn-
lichen Lauf der Dinge zu liegen. Manchmal aber war
ein einzelner so weit hingerissen, das er eine rehto-
rische Frage beantwortete. „Wollen sie etwa . . .“
fragte Nussbaum, angstvoll und voll Entrüstung, und
eilte schon weiter. „Nein,“ rief jemand entschlossen.
Man kicherte, aber doch nur, um im nächsten Moment
den Redner um so stärker zu bewundern. Jetzt
apostrophierte er die Studenten: „Nur deshalb ge-
niessen Sie ja eine ausgezeichnete Stellung in der
Bevölkerung, damit Sie die Schätze der Kultur em-
pfangen und weiter verteilen . . .“ „Bravo“ schrie
ein besonders Bildungsbedürftiger, laut und schmerz-
lich . . .
„Nun, fühlen Sie sich geehrt, als Student?“ wandte
sich Hngo an Alfred.
„Ich höre gar nicht zu. lch denke an etwas
ganz anderes.“
„Sie auch . . . Was denn?“
„Wann spricht eigentlich dieser Pitroff?“ Alfred
lugte im Saal umher, jetzt erst bemerkte Hugo, wie
aufgeregt er war.
„Ich weiss nicht ... So eine Versammlung ist
doch schrecklich langweilig . . . Das einzig hübsche
hier sind doch noch die Damen.“
„So so“ überlegen-schalkhaft drohte Alfred mit
dem Finger. „Mir scheint, Sie sind ein kleiner Frauen-
liebhaber, was . . .“
„Ja, ich liebe die Frauen“ sagte Hugo und wandte
der Versammlung den Rücken Hier in der Gaierie
konnten sie ungestört reden und Hugo hatte das
heftigste Bedürfniss seine innere Spannung durch
irgend eine Gemütserregung auszulöseh. Also be-
kannte „er gleich alles und brannte darauf, zu reden
und im Reden sich selbst zu erkennen: „Ja, ja, ich
gestehe es, ohne Frauen könnte ich nicht leben. Das
Leben erschiene mir wertlos und lichtlos ohne sie . . .
Schauen Sie, — schauen Sie, Herr Popper — ich bin
nicht sinnlich. Aber ich will Liebe, ich will ein Herz
für mich haben, eine Frau, die mit mir fühlt, die an
mich denkt wie an ihren Freund und Bruder, ein
Ideal der Frau mit einem Wort. Sehn Sie, ich liebe
die Frauen. Ich achte die Frau, ich bin, kurz und
gut, froh und glücklich, dass es Frauen auf der Welt
gibt. Das ist das Ganze. Nützen mir die Frauen?
lch weiss es nicht, darauf kommt es auch gar nicht
an. Ich bin gar nicht geneigt, diese Frage zu unter-
suchen. Ich sage nur das eine: Schon dass sie helle
Kleider tragen, dafür bin ich ihnen dankbar . . .
Lachen sie nicht . . . Stellen sie sich doch einmal
vor, es gebe keine Frauen auf der Welt, wie Iangweiiig
zum Krepieren wäre das ... Ich bin glücklich, dass
es Frauen gibt, das sie mich anschauen und mit mir
sprechen, das sie anderer Meinung sind als ich und
gerade in so weiblicher Art und anderer Meinung als
ich. In jeder Beziehung sind Frauen besser und voll-
kommener als die Männer, das weiss ich und nichts
weiss ich so fest wie dieses. Das ist die Wurzel
meines Lebens. Können sie das so ganz und gar
riicht begreifen ? Ja, ja, Sie haben Recht, ich habe
so eine Frau, wie ich mir sie denke, noch nie kennen
gelernt, das gebe ich ohne weiteres zu. Aber ich be-
haupte ferner, dass das ganz egal ist, ein durchaus
gleiehgiltiger Umstand . . .“
Lauter Beifallsjubel erhob sich nebenan, in den
Nussbaum noch das Wort „Fortschritt“ mit höchst-
erhobener Stimme hinein schrie. Er machte eine
Pause.
Hugo gleichfalls, bis ruhig geworden war.
Dann fuhr er fort: „Mein Ideal lebt so fest in
mir, diese sanfte gutartige wohltätige Frau, dass es im
Leben vielleicht garnicht erscheinen kann. Ich halte
es gleichsam in meinem Innern fest. Vielleicht ist es
überdies nur eine Folge meiner geringen Lebens-
erfahrung, das ich noch nie ein derartiges Mädchen
getroffen habe. Auch das ist möglich. Aber woher
nährt es sich den eigentlich, wenn nicht aus dem
Leben, sage ich mir, dieses Ideal. Ich bin durchaus
nicht so eingebildet, es für meine Erfindung zu halten,
meine Dichtung. Nein, die Sache verhält sich vielmehr
so: Ich verkehre gern mit Frauen, ich verehre sie und
immerfort bemerke ich auch kleine verehrungswürdige
Züge an ihnen, einmal die hellen lustigen Kleider zum
Beispiel, einmal eine reizende Bemerkung, eine stille
Güte. Gut und diese kleinen Züge sickern, fast un-
bemerkt, in mich hinein und bauen sich zu meinem
Ideal auf. Wem schulde ich also dieses Ideal? Den
Frauen. Ich schulde es ihnen, nicht sie mir, wohl-
gemerkt. Deshalb ziemt es mir auch, demütig mit
ihnen zu reden, nicht zuviel zu verlangen, garnichts
vielmehr, ihnen zu danken, und gut ist es Und so
gern tu ich das und so gern bin ich bei ihnen, sehr gern.
Die Luft schon in ihrer Nähe tut mir wohl. Und ganz
dunkel wird es mir um den Kopf, wenn ich nur eine
Weile unter Männern stehe, Kopfschmerzen bekomme
ich . . .“
„Jetzt spricht er wirklich nicht schlecht,“ unter-
brach ihn Alfred, der sich von dem letzten Applaus an
nur noch mit Nussbaum beschäftigt hatte.
In diesem Moment erhoben sich alle und schwenkten
die Gläser. Von drei Männern wurde Nussbaum im
Triumph vom Podium geholt. Er war zu Ende.
Man toDte. Der Tribun lehnte sich mit Würde an
seine Begleiter, die ihn die Stufen herab mehr trugen
als führten. Ernst und gefasst blickte er in den
Tumult, ohne auch nur für einen Moment durch ein
bescheidenes Lächeln die Begeisterung und den Beifall
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