Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0066
DOI Heft:
Nr. 64 (Juni 1911)
DOI Artikel:Haman, Karl: Literarhistorik undJournalismus: Beiträge zur Kenntnis Eduard Engels
DOI Artikel:Wolfs, John: Kunst-Historismus
DOI Artikel:Hoddis, Jakob van: Der Oberlehrer
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0066
und alles, und immer in der vollendeten Attitüde
eines ältern Herrn, der mit beneidenswertem
Selbstgefallen über die Zeilen hinweggelesen hat
und das oberflächlich Gefühlte in unzulänglicher,
durch keine Disziplin geschärfter Sprache wieder-
gibt. In einer Einleitung iiber das Wesen der
deutschen Literatur schreibt er vom Thema nichts:
es sei denn, daß er einige altbekannte Schlag-
worte in einen diinnflüssigen Brei hineinwirft und
sie armselig und verlassen, herumtreiben läßt.
Wiederholt spricht er von der Ueberlegenheit
deutschen Volkstums. Man fühlt: er spricht auf
dem Markt. Du liebes deutsches Vaterland, dir
weih' ich mich mit Herz und Hand . . . (möchte
man sagen.) Selbst seine Fehler sind nur ver-
kappte Vorzüge. „Fremdgierigkeit und Nach-
ahmung sind die Fehler herrlicher Vorzüge der
deutschen Literatur.“ Tief ist er von dem Wert
seiner Aufgabe durchdrungen, — und nur ein
ganz Ueberlegener findet Ewigkeitsworte von so
überwältigender Neuheit. „Ein unverkennbarer
Zug geht durch die jetzt mehr als tausend Jahre
deutsche Dichtung: der zum Idealenü—“ Die
deutsche Literatur hat das Pech gehabt, einem
heimlichen Dichter in die Hände zu fallen! Die
Feder geht mit dem Mann durch: — und es ent-
steht eine spannende Erzählung, nicht ungeeignet
für den belehrenden Teil illustrierter Familien-
blätter.
IV.
Als Beschluß
Dieser unbändige Wälzer hat viel Ergötz-
Iiches an sich, dessen komische Kraft durch seine
Absichtslosigkeit durchaus nicht gemindert wird.
Ein Spaßvogel ist er, der Eduard Engel, — ein
Dichter und Deutschverderber. Aber wir wollen
hiermit jeden billig denkenden warnen, dieses
Buch zu erstehen und sich belehren zu Iassen.
Da muß man schon zu andern Werken greifen.
Dieser rückgratslose, miserable journalist, der
niemals einen Schimmer philosophischer Arbeit —
denn als solche stellt sich, letzten Grundes, jede
tiefere wissenschaftliche Arbeit heraus, spürte, hat
einfach ins Blaue hineingeplaudert, ohne Gefühl
für die Besonderheit des Stoffs, und ohne jede
Ehrfurcht vor der Geistigkeit dichterischen
Schaffens. Ich appelliere an das Schamgefühl
erwachsener Menschen und zeige auf seine Urteile,
die, mit platten Späßen, das Heiiigste der Dichter
beschmutzen. Wohl ist es des Historikers Pflicht,
zu urteilen: und Spott und Hohn sind ehrliche
Waffen, — aber man muß die Erbitterung fühlen,
die hinter ihnen steht, sonst werden sie einfach
Gewürz für die Darstellung. Und dieser Mangel
jedes tiefern Gefühls verrät die wahre Absächt
dieses jovialen Plauderers: die deutsche Literatur-
geschichte in ein Album voll bunter Ereignisse
aufzulösen und sie mit dem muffigen Pathos seiner
Phantasie luftdicht zu umspinnen. Das war ein
grosser Dichter und Der ein Narr... erinnert es
nicht an Bänkelsänger, die mit ihren Mordtaten
herumziehen? Kein Wunder, dass der weitaus
grösste Teil der deutschen Presse auf ihn hinein-
gefallen ist und eine für Jahrzehnte vorbildliche
Blamage erlitten hat.
... Wir aber, die wir im Lärm des hastvollen,
bunten Lebens stehen und seine Mächte zu er-
fühlen suchen, leise abwehrend mit mühsam ge-
schliffenenWaffen, — wir wollen zu tieferenQuellen
eilen, und edlere Worte suchen, als sie in diesem
Geschwulst bildnerischer Impotenz zu finden sind
Wir wollen eine edlere Sprache, als sie dieser
Hausvater zu schreiben vermag — unter fortwäh-
rendem Auf—die — Schulter—klopfen und über-
mässigem Händedruck. Doch das sind ja gerade
die Tugenden, die der gebildete Teil Deutschlands
an seinem lieben Eduard Engel schätzt...
Kunst-Historismus
Von John Wolfs
Horden Kunsthistoriker pflegen der Meinung
zu sein, dass nur geschichtliche Forschung
die Probleme der Kunst zu meistern vermag,
die Probleme der Erkenntnis und die der Wertung.
Historisten ist die Kunst Objekt der Forschung,
nicht Quelle der Lust (Quelle der Lust ist ihnen-
mitunter die Kunstf o r s c h u n g). Sie haben
von der Kunst eine Theorie und aus der Theorie
eine Anschauung. Aber Theorieen haben aus
der Anschauung zu fließen.
HeinrichWöIfflin, der grosse Elemen-
tarlehrer der Berliner Universität hat es deutlich
gesagt: Das Ziel seiner Forschung ist nicht der
einzeine Künstler und sein einzelnes Werk, es
ist die Einheit aller einzelnen Gestaltungen, die
grossen Zusammenhänge und ihre Gesetzmässig-
keit.
Habe ich etwas gegen diese Kunsthistorie?
Man kann manches zu ihrem Lobe anführen und
unter den Wissenschaften ihr einen hohon Rang
geben. Aber man darf sie nicht ernstlich propa-
gieren. Denn der Historiker lernt Kunst, er-
I e b t sie nicht.
In der Kunst (nicht in der Kunsthistorie) ist
der E i n z i g e das wesentliche. Jedes bedeutende
Kunstwerk ist die Objektivierung eines einzigen
Erlebens, in ihin offenbart sich eine s e e 1 i ch e
Zuständlichkeit, ein T e m p e r a m e n t. Das
Temperament ist nicht etwa eine dargestellte
„Stimmung“ : der Abendfriede, oder das deutsche
Gemüt, oder das Romantische oder der Jubel.
Sondern alle Werke eines Schöpfers offenbaren
die Einheit eines Charakters. Diese Einheit ist
nicht der „Stil“. Der gehört zum Technischen am
Kunstwerk. Das Technische ist der sichtbare
Ausdruck, die sinnfältige Formung des G e g e n-
standes. Das Temperament ist nicht Werk,
(Rilke - Botticelli) sondern Gabe. Ein Tempera-
ment kann sich in verschiedenen Stilen, ein Stil
kann verschiedeneT emperamente offenbaren (Quat-
trocentisten - Botticelli). Der Stil mag in einer
Entwicklung und unter ihren Gesetzen stehen.
Fiir das Temperament ist er zufällig. Es ist nicht
jn die Entwicklung der Forinen einzuzwängen.
Die Entwickiungslehre der Kunstgeschichte
weiß von den Kleineren, deren Verdienst nur die
Vollendung der Technik ist (der Vollkommenste
unter ihnen ist Raffael). Sie muß dasTemperament,
also den großen Künstler ignorieren.
Ich gebe irgend ein Beispiel. V a n G o g h
war ein Zögling Mauves und der Holländer. Er
folgte Pissaro, er malte neoimpressionistisch,
zuletzt zeigte sich, daß er van Gogh war. Er
mußte nur die Stilformen zerbrechen, die ihm
von außen als Fesseln angelegt waren. Man
konnte vor einiger Zeit in Berlin die „Schlucht“
sehen, das Bild, wo die Formen in Flammen auf-
gehen, das Feuer die Abhänge hinabflutet und
unten im Tal kochend und brodelnd gegen den
Beschauer strudelt. Man sage: wo war das
Vorbild, wo ist die Entwicklung, in der van Gogh
steht? Gewiß, er hat von den Franzosen gelernt.
Aber er lernte, um es anders zu machen. Was
hat van Gogh also mit den Franzosen gemein?
Nichts als daß er die Franzosen iiberwand. Was
rechtfertigt, ihn in eine Entwicklung zu stellen?
Daß er sich über die Entwicklung hinwegsetze.
Das sind die Grenzen der Kunstgeschichte.
Nur wer sie überschreitet, kann sich dem Odium
des Kunsthistoriums entziehen.
* *
$
Ein paar Typen. Historisten, die das Stadium
der Gegenwart mit dem Stadium der Ver-
gangenheit konfundieren. Sie sehen im Neuen
immer Altes. Karl Scheffler, ein Kunstskribent
mit weiter Perspektive aui metaphysische Ver-
schwafelung, schreibt wörtlich: „zuerst ist der
Architekt Handwerker; denn (!) aus demStande
der Handwerker ist er hervorgegangen“. Wie
der Fabrikant dieses Schlusses schließe ich:
„Zuerst ist Kari Scheffler ein Göhr. Denn aus
dem Stande der Göhren ist er hervorgegangen.“
Sogar Meier-Gräfe, der die besten Bücher
über Kunst geschrieben hat, sagt: Nur auf dem
Wege geschichtlicher Forschung könne man „das
Wesen des Kunstwerks vertiefen und den lebenden
Künstlern Hinweise zu ihrer persönlichen Be-
lehrung geben“. Man kann aber vom Sein —
nur das Sein ist Objekt geschichtlicher Forschung
— nicht auf das Soilen schließen. Historie und
Wertung haben nichts miteinander zu schaffen.
Die Historistenherde wittcrt überall verruchte
Revolutionen. Sie erschleicht sich von Autoritäten
Maßstäbe und wertet damit blindlings ins Blaue
hinein. Die neue Kunst ist ja nicht einzuordnen.
nicht einzukategorisieren in das System, das man
sicli schon glücklich fiir die Meister der älteren
Kunst zurechtfabriziert hatte. Man weiß ja so
viel, nur grade über die neue Erscheinung weiß
man nichts. Der Historientreue muß aber eine
Beziehung zwischen sich und seiner Gelehrsamkeit
finden. Und da das nicht möglich ist, und da
er über die neue Erscheinung nichts weiß, und
da er dies sich und anderen verbergen muß,
wirft er ganz einfach seine Ignoranz der neuen
Kunst vor.
Es handelt sich darum, das E r I e b n i s der
Kunst, nicht ein Wissen um die Kunst zu ver-
mitteln.
Der Oberlehrer
Gewaltig hockt er auf dem Tisch und spricht
Von Theben und Athen, heut nachmittag.
Ein grauer Schnurrbart starrt durch sein Gesicht
Er riecht nach saurem Brot und nach Tobak.
Sein kahles Haupt umwettert der Gedanke
Von Theben heiliger Schaar, von Pindar spricht er
Der Primus reibt sich an der alten Banke
Die meisten machen willige Gesichter.
Er spricht von Theben heute nachmittag
Einige heben ihre kleinen Hände,
Einige kitzeln leise sich am Sack
Und gucken schläfrig auf die leeren Wände.
„Wer hat soeben auf den Tisch gehauen?“
Durch die betrübten Fenster schimmem Wolken.
Die Jungen sitzen staunend und verdauen. —
Der Lehrer wird jetzt in der Nase polken.
Jakob van Hoddls
510
eines ältern Herrn, der mit beneidenswertem
Selbstgefallen über die Zeilen hinweggelesen hat
und das oberflächlich Gefühlte in unzulänglicher,
durch keine Disziplin geschärfter Sprache wieder-
gibt. In einer Einleitung iiber das Wesen der
deutschen Literatur schreibt er vom Thema nichts:
es sei denn, daß er einige altbekannte Schlag-
worte in einen diinnflüssigen Brei hineinwirft und
sie armselig und verlassen, herumtreiben läßt.
Wiederholt spricht er von der Ueberlegenheit
deutschen Volkstums. Man fühlt: er spricht auf
dem Markt. Du liebes deutsches Vaterland, dir
weih' ich mich mit Herz und Hand . . . (möchte
man sagen.) Selbst seine Fehler sind nur ver-
kappte Vorzüge. „Fremdgierigkeit und Nach-
ahmung sind die Fehler herrlicher Vorzüge der
deutschen Literatur.“ Tief ist er von dem Wert
seiner Aufgabe durchdrungen, — und nur ein
ganz Ueberlegener findet Ewigkeitsworte von so
überwältigender Neuheit. „Ein unverkennbarer
Zug geht durch die jetzt mehr als tausend Jahre
deutsche Dichtung: der zum Idealenü—“ Die
deutsche Literatur hat das Pech gehabt, einem
heimlichen Dichter in die Hände zu fallen! Die
Feder geht mit dem Mann durch: — und es ent-
steht eine spannende Erzählung, nicht ungeeignet
für den belehrenden Teil illustrierter Familien-
blätter.
IV.
Als Beschluß
Dieser unbändige Wälzer hat viel Ergötz-
Iiches an sich, dessen komische Kraft durch seine
Absichtslosigkeit durchaus nicht gemindert wird.
Ein Spaßvogel ist er, der Eduard Engel, — ein
Dichter und Deutschverderber. Aber wir wollen
hiermit jeden billig denkenden warnen, dieses
Buch zu erstehen und sich belehren zu Iassen.
Da muß man schon zu andern Werken greifen.
Dieser rückgratslose, miserable journalist, der
niemals einen Schimmer philosophischer Arbeit —
denn als solche stellt sich, letzten Grundes, jede
tiefere wissenschaftliche Arbeit heraus, spürte, hat
einfach ins Blaue hineingeplaudert, ohne Gefühl
für die Besonderheit des Stoffs, und ohne jede
Ehrfurcht vor der Geistigkeit dichterischen
Schaffens. Ich appelliere an das Schamgefühl
erwachsener Menschen und zeige auf seine Urteile,
die, mit platten Späßen, das Heiiigste der Dichter
beschmutzen. Wohl ist es des Historikers Pflicht,
zu urteilen: und Spott und Hohn sind ehrliche
Waffen, — aber man muß die Erbitterung fühlen,
die hinter ihnen steht, sonst werden sie einfach
Gewürz für die Darstellung. Und dieser Mangel
jedes tiefern Gefühls verrät die wahre Absächt
dieses jovialen Plauderers: die deutsche Literatur-
geschichte in ein Album voll bunter Ereignisse
aufzulösen und sie mit dem muffigen Pathos seiner
Phantasie luftdicht zu umspinnen. Das war ein
grosser Dichter und Der ein Narr... erinnert es
nicht an Bänkelsänger, die mit ihren Mordtaten
herumziehen? Kein Wunder, dass der weitaus
grösste Teil der deutschen Presse auf ihn hinein-
gefallen ist und eine für Jahrzehnte vorbildliche
Blamage erlitten hat.
... Wir aber, die wir im Lärm des hastvollen,
bunten Lebens stehen und seine Mächte zu er-
fühlen suchen, leise abwehrend mit mühsam ge-
schliffenenWaffen, — wir wollen zu tieferenQuellen
eilen, und edlere Worte suchen, als sie in diesem
Geschwulst bildnerischer Impotenz zu finden sind
Wir wollen eine edlere Sprache, als sie dieser
Hausvater zu schreiben vermag — unter fortwäh-
rendem Auf—die — Schulter—klopfen und über-
mässigem Händedruck. Doch das sind ja gerade
die Tugenden, die der gebildete Teil Deutschlands
an seinem lieben Eduard Engel schätzt...
Kunst-Historismus
Von John Wolfs
Horden Kunsthistoriker pflegen der Meinung
zu sein, dass nur geschichtliche Forschung
die Probleme der Kunst zu meistern vermag,
die Probleme der Erkenntnis und die der Wertung.
Historisten ist die Kunst Objekt der Forschung,
nicht Quelle der Lust (Quelle der Lust ist ihnen-
mitunter die Kunstf o r s c h u n g). Sie haben
von der Kunst eine Theorie und aus der Theorie
eine Anschauung. Aber Theorieen haben aus
der Anschauung zu fließen.
HeinrichWöIfflin, der grosse Elemen-
tarlehrer der Berliner Universität hat es deutlich
gesagt: Das Ziel seiner Forschung ist nicht der
einzeine Künstler und sein einzelnes Werk, es
ist die Einheit aller einzelnen Gestaltungen, die
grossen Zusammenhänge und ihre Gesetzmässig-
keit.
Habe ich etwas gegen diese Kunsthistorie?
Man kann manches zu ihrem Lobe anführen und
unter den Wissenschaften ihr einen hohon Rang
geben. Aber man darf sie nicht ernstlich propa-
gieren. Denn der Historiker lernt Kunst, er-
I e b t sie nicht.
In der Kunst (nicht in der Kunsthistorie) ist
der E i n z i g e das wesentliche. Jedes bedeutende
Kunstwerk ist die Objektivierung eines einzigen
Erlebens, in ihin offenbart sich eine s e e 1 i ch e
Zuständlichkeit, ein T e m p e r a m e n t. Das
Temperament ist nicht etwa eine dargestellte
„Stimmung“ : der Abendfriede, oder das deutsche
Gemüt, oder das Romantische oder der Jubel.
Sondern alle Werke eines Schöpfers offenbaren
die Einheit eines Charakters. Diese Einheit ist
nicht der „Stil“. Der gehört zum Technischen am
Kunstwerk. Das Technische ist der sichtbare
Ausdruck, die sinnfältige Formung des G e g e n-
standes. Das Temperament ist nicht Werk,
(Rilke - Botticelli) sondern Gabe. Ein Tempera-
ment kann sich in verschiedenen Stilen, ein Stil
kann verschiedeneT emperamente offenbaren (Quat-
trocentisten - Botticelli). Der Stil mag in einer
Entwicklung und unter ihren Gesetzen stehen.
Fiir das Temperament ist er zufällig. Es ist nicht
jn die Entwicklung der Forinen einzuzwängen.
Die Entwickiungslehre der Kunstgeschichte
weiß von den Kleineren, deren Verdienst nur die
Vollendung der Technik ist (der Vollkommenste
unter ihnen ist Raffael). Sie muß dasTemperament,
also den großen Künstler ignorieren.
Ich gebe irgend ein Beispiel. V a n G o g h
war ein Zögling Mauves und der Holländer. Er
folgte Pissaro, er malte neoimpressionistisch,
zuletzt zeigte sich, daß er van Gogh war. Er
mußte nur die Stilformen zerbrechen, die ihm
von außen als Fesseln angelegt waren. Man
konnte vor einiger Zeit in Berlin die „Schlucht“
sehen, das Bild, wo die Formen in Flammen auf-
gehen, das Feuer die Abhänge hinabflutet und
unten im Tal kochend und brodelnd gegen den
Beschauer strudelt. Man sage: wo war das
Vorbild, wo ist die Entwicklung, in der van Gogh
steht? Gewiß, er hat von den Franzosen gelernt.
Aber er lernte, um es anders zu machen. Was
hat van Gogh also mit den Franzosen gemein?
Nichts als daß er die Franzosen iiberwand. Was
rechtfertigt, ihn in eine Entwicklung zu stellen?
Daß er sich über die Entwicklung hinwegsetze.
Das sind die Grenzen der Kunstgeschichte.
Nur wer sie überschreitet, kann sich dem Odium
des Kunsthistoriums entziehen.
* *
$
Ein paar Typen. Historisten, die das Stadium
der Gegenwart mit dem Stadium der Ver-
gangenheit konfundieren. Sie sehen im Neuen
immer Altes. Karl Scheffler, ein Kunstskribent
mit weiter Perspektive aui metaphysische Ver-
schwafelung, schreibt wörtlich: „zuerst ist der
Architekt Handwerker; denn (!) aus demStande
der Handwerker ist er hervorgegangen“. Wie
der Fabrikant dieses Schlusses schließe ich:
„Zuerst ist Kari Scheffler ein Göhr. Denn aus
dem Stande der Göhren ist er hervorgegangen.“
Sogar Meier-Gräfe, der die besten Bücher
über Kunst geschrieben hat, sagt: Nur auf dem
Wege geschichtlicher Forschung könne man „das
Wesen des Kunstwerks vertiefen und den lebenden
Künstlern Hinweise zu ihrer persönlichen Be-
lehrung geben“. Man kann aber vom Sein —
nur das Sein ist Objekt geschichtlicher Forschung
— nicht auf das Soilen schließen. Historie und
Wertung haben nichts miteinander zu schaffen.
Die Historistenherde wittcrt überall verruchte
Revolutionen. Sie erschleicht sich von Autoritäten
Maßstäbe und wertet damit blindlings ins Blaue
hinein. Die neue Kunst ist ja nicht einzuordnen.
nicht einzukategorisieren in das System, das man
sicli schon glücklich fiir die Meister der älteren
Kunst zurechtfabriziert hatte. Man weiß ja so
viel, nur grade über die neue Erscheinung weiß
man nichts. Der Historientreue muß aber eine
Beziehung zwischen sich und seiner Gelehrsamkeit
finden. Und da das nicht möglich ist, und da
er über die neue Erscheinung nichts weiß, und
da er dies sich und anderen verbergen muß,
wirft er ganz einfach seine Ignoranz der neuen
Kunst vor.
Es handelt sich darum, das E r I e b n i s der
Kunst, nicht ein Wissen um die Kunst zu ver-
mitteln.
Der Oberlehrer
Gewaltig hockt er auf dem Tisch und spricht
Von Theben und Athen, heut nachmittag.
Ein grauer Schnurrbart starrt durch sein Gesicht
Er riecht nach saurem Brot und nach Tobak.
Sein kahles Haupt umwettert der Gedanke
Von Theben heiliger Schaar, von Pindar spricht er
Der Primus reibt sich an der alten Banke
Die meisten machen willige Gesichter.
Er spricht von Theben heute nachmittag
Einige heben ihre kleinen Hände,
Einige kitzeln leise sich am Sack
Und gucken schläfrig auf die leeren Wände.
„Wer hat soeben auf den Tisch gehauen?“
Durch die betrübten Fenster schimmem Wolken.
Die Jungen sitzen staunend und verdauen. —
Der Lehrer wird jetzt in der Nase polken.
Jakob van Hoddls
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