Quellen. Und ich sage immer zwei Worte, die
Ueberschrift meines versengten, „ungeschriebenen“
Liebesbriefs, der an Sascha adressiert war nach
Sankt Petersburg Zitadelle: Himmlischer Königs-
sohn
Ich habe nun kein Qeheimnis mehr, mein Herz
kann keines bewahren, es steht im Amt der Welt.
Meere kommen und spülen seine Heimlichkeiten
ans Land, es erwacht mit dem Morgengrauen und
stirbt am Sonnenuntergang. Aber immer ist meirt
Herz von Seide, ich kann es zuschließen, wie ein
Etui. Weißt du ein Geheimnis oder frag Kurtchen,
das meiner Diskretion wert wäre?
Gedichte
Von Paul Zech
Qegen Morgen
Die niederen Häuser iängs des Kanals
schwimmen wie schwarze Särge daher.
Schlanker Turrn äugt iiber das Brückenwehr
und reckt den Giraffenhals
Vom Damm kriecht gelblicher Nebel zu Tai
und wogt und wiihlt wie ein Meer,
schroff und novemberleer
wandert der Bäume endlose Zahl.
Durch die Straßen, fröstelnd und abgedacht,
schrill schon eines Dampfhorns Gebeli
und der Wind erwacht
und schwätzt sich von Haus zu Haus . . .
Die Fenster sind alle hell
und horchen hinaus.
Ofe Hingesunketjen
Da nun ein breiter Silberstrom von Sternen
beruhigend sich in die Nacht ergießt
und der vermummte Wächter der Kavernen
die schweren Gittertore fest verschließt:
gehn dic ueräusche wie ein Wind im Fernen
und alle Räder stehn wie aufgespießt;
kaum daß noch aus den unterirdischen Zisternen
das Wasser sprudelnd in die Becken schießt.
Nachtnebel löscht die bunte Lampenliige;
verdrossen stehn die dunkien Straßenzüge
und gähnen wie ein aufgerissner Schlund.
Und all die Süßgeschwächten in den Betten
eratmen schon ein Traumgefühl und ketten
des Blutes Unruh von geliebtem Mund.
Wlnteriiches Heidedorf
Ueberm reifbesternten Fahrweg schleifen
arme Kinder dürres Fichtenholz.
Wo ein Sonnenblitz das Eis zerschmolz,
gähnen schwarzgefieckte Gräserstreifen.
Kleine Gärten frieren grauverlassen
und der Wind umkreist das dunkle Dorf;
schwerer Rauch von Kien und Bröckeltorf
schwelt Ln breiten Wolken durch die Gassen.
Irre Wandrer mit schneeweißen Haaren
strecken sich auf wurmzerstochnem Stroh . .
Alle Raben krächzen beutefroh:
Glocke, laß dein dumpfes Läutwerk fahren.
' \
Der träumerische Schaffner
Und immer mai wieder das alte Lied. Der
Völkischen Lied contre les Europeens. Man hieit
die These schon für abgeleiert: daß komplexe Zu-
stände voraneilender Seelen sich nicht mittelst
Schilderung primitiver Seelenzustände darstellen
iassen; oder daß die Frage nach dem Sinn des
Seins im Hirn eines gerechten Kammmachers an-
ders aussehe als im Hirn eines Hirnlichen; oder
daß, außer auf Scholle Misthaufen Gbirg, auch in
Metropolen (in Metropolen voll wilderer Kreu-
zungen der Kulturströrne und mit nervöserer At-
mosphäre) „Heimaten“ liegen — von Menschen.
die ihre Qual und Lust, erhöht (geformt), in Dich-
tungen wiederzufinden, den Wunsch und das be-
rechtigte Irrteresse haben . . . Abgeieiert, glaubte
man ... Da naht Herr Jakob Schaffner, von
Basel her, und richtet (nicht ohne zuvor an einem
elsässiscben Roman die „innige Strenge des Ge-
fiihls“ sowie die „Treue des Ausdrucks und des
Lokaltones“ geriihmt zu haben; wobei kraft der
Bemerkung, daß hier „seit den iTagen des Se-
bastian Brant das erstemal ein Eisässer Dichter
wieder in der deutschen Literatur auftritt“, Rene
Schickele totgeschwiegen wird; dafür aber der
versöhnende Satz fälit: „Das Kathrinel, das Wi-
beie, eine Gestalt von ernsthafter Schwermut, ist
zugleich von einer mannhaft lächelnden Erkenntnis
umwoben“) .... richtet, sage ich, der Schwyzer
Schaffner an Robert Musil, ja gar an Heinrich
Mann, mild-giftig verwarnende Worte eines Groß-
onkels. An ihrer Zerebralität nimrnt er Aergernis.
„Es geht nicht anders“, bedauert er, „entweder
muß man sich zu wissenschaftlichen oder man
muß sich zur künstlerischen Darstellung entschlie-
ßeri“; als ob jemand, der das Besondre neuer,
geistiger, städtischer, junger Menschenart: die
Seelenseite des Problembeschnüffelns, den GefiihlS-
ton der Reflexion, das Denken als Erlebnis, ge-
staltet (etwa wie Musil im „Törless“ das Kant-
Erlebnis), darum die Probleme iösen, die Denkin-
halte sachlich erledigen wollte; als ob ein Kiinstler
„wissenschaftlich“ verführe, wenn er verzwicktere
Vorgänge (also die neueren, reizenderen, wichti-
geren) statt durch sentimentalen Schmuß durch
präzise Analytik bewäJtigt. Aber aüerdings: Herr
Schaffner ist gegen das Verzwickte; fiir ihn gibt's
verbotne Stoffe; er haßt das „Gedanken-Ge-
spensterwesen“ und weigert sich, als „außenstehen-
der Leser“ „Bescheid“ zu „wissen“. Er ist er-
haben über „zuviel Inteiiekt“, und seine „Mann-
heit“ weist es von sich. „iu die unmaßgebliche
Frage der Sechzehnjährigen“ hinabzusteigen; das
wäre (o dreckiger HochmutU!) „zu viel Ehre für
eine Episode“. Dennoch ruft er denen, deren
„Bewußtheit immer das erste Symptom von Neu-
rasthenie“ ist (man beachte die Rancune aller
Behäbig-Mediokren: das Enorme als das Kranke
auszuschrein, das Plus zum Minus zu fälschen!),
„Werdet wie die Kindlein!“ zu. Er möchte, daß die
Feineren sich auf sein Niveau zuriickschrauben.
Was ein durchtriebener Naivbock! Ihm „weiß“
dieser Heinrich Mann „zu viei“; „weiß zu genau“;
daher sind ihm dessen Novellen zwar „achtbar“,
„aber nicht erquicklich“ (— o altes Lied!). Weil
er sich persönlich sehr anstrengen muß, um die
Höhe der Mannischen Seelenlandschaft zu erkiirn-
men, wirft der Mann vor: „er forciert sich“ —
ihm so den eignen Talentdefekt unbedenklich in
den Charakter schiebend. „Man sieht fortwäh-
rend, wies gedreht ist“ — diesen schon stinken-
den Gemeinplatz gegen verlogne Stiliseurs unter-
steht sich der Halbälpler gegen Heinrich Mann zu
benutzen. Dann aber rät er ihm, in freundlicher
Mahnung: er solle „jetzt einmal versuchen, unter
seinen Palmen zu träumen“; denn „das Gltick ist
gem bei den Träumern“; „Boccaccios und (aha!)
Kellers Novellen sind erträumt, nicht errafft“.
Hört’s! So träumerisch krähn die Enkelsöhne des
beriihmten Stadtschreibers von Zürich . . . Herr
Jakob Schaffner ist ein schwyzer Dichter; bei
schöngeistigen Pastorenwitwen und jüngeren fü-
dischen Selbsthassern mächtig beliebt; der die Ge-
schicke mittelbegabter Handwerksherzen breiten
Gemütes und nicht ohne deutsch-ulkige Realien
fcesingt, sich als Nachfolger Homers und Goethes
fühlend. Hier begeht er das, wofür der Verfasser
des „Willens zur Macht“ die unverwüstliche For-
mei gegossen hat: er „nirnmt die Partei der Idi-
oten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus“
. . . Diese Keiler-Assel ist eine von vielen; man
darf nicht einfach sie ruhig sich austräumen lassen.
Sooft der Intellekt die Simplizität verlacht, zeiht
der Masochismus ihn eines Mangels an „Tiefe“;
aber die Simplizität darf alleweil die geniale
Geistigkeit ungestraft abkanzeln. Daß eines Schaff-
ners Entgieisung noch kein Eisenbahnunglück be-
deutet, befreit die verantwortliche Verwaltung
nicht von der Pflicht, den Träumer abzusetzen.
Kurt HlUer
Theater und Varietö
Die neue Oper
Am Zoologischen Garten hat man ein neues
Theater eröffnet. Trotzdem es den Architekten
Adolf Loos gibt, der etwas ganz Neues ge-
schaffen hätte, wurde wieder eine der üblichen
Firmen mit dem Bau „betraut“. Wie die Zeitungen
berichten, geniigt das Haus den strengsten Vor-
schriften der Bau- und Feuerpolizei. Ihnen dürfte
es aber auch allein genügen. So etwas von Ver-
stiegenheit der Treppen und Verschrobenheit des
Grundrisses ist in Berlin noch nicht dagewesen.
Riesige Portale und große Kuppelfenster führen auf
Korridore von berliner Hinterwohnungen. Die Bau-
rneister haben offenbar vergessen, zwischen der
Fassade und dem notwendigen „Zubehör“ das Haus
einzufügen. Irrt man über die Treppen, so gelangt
man vielleicht auch in den Theaterraum. Er ist auf
Freundlichkeit gestimmt, was man bekanntlich am
besten durch goidornamentierte Lyren erreicht.
Durch sehr dünne Armlehnen an den Stühlen ist
Bequetnlichkeit angedeutet. Der Vorhang zeigt ein
unersehen schönes Bild. Denn nicht Apotl macht
vor den Musen Musik, sondern ein verhältnismäßig
gut angezogener junger Mann der besseren Ge-
sellschaft spieit vor scinen Damen die Violine. Ich
vermute, daß die Idee hierzu von der Firma Hugo
Baruch u. Co. stammt, die auch die „kostümelle“
Ausstattung lieferte. Auch das Wort „kostümell“
dürfte eine Baruchiade sein. Ich sah die Oper Phile-
mon und Baucis von Charles Gounod. Sie ist von
einer unerfreulichen langen Weile. Im ersten Akt
ländlich (man bläst die Oboe) mit schenkfreudigen
Göttern. Im zweiten Akt bacchanalisch, die Musik
mit einem Temperament in der Richtung zum Admi-
ralspalast. Im dritten Akt Liebe und Weltanschau-
ung, durch Phrasen und Koloraturen ausgedrückt.
Herr Goutiod ist wirklich ein sehr trauriger Epi-
gone, dem man die ewige Ruhe gönnen soll. Nicht,
weil er den Faust veropert hat, sondern weil er
keine Gestaltungskraft und keine musikalische Be-
gabung besitzt. Die Kunst der Musik besteht doch
wohl nicht • darin, abgeleierte Formeln äiterer
Meister anders und gelegentlich auch riett zu in-
strumentieren. Der Text kann an Diirftigkeit des
Inhalts, die Uebersetzung an Clichereichtum nicht
einmal durch Herrn Lothar unterboten werden.
Man würde über die Angelegenheit an dieser
Stelle nicht zu schreiben brauchen, wenn nicht der
Direktor des Theaters Maximilian Moris
hieße. Moris war früher Regisseur der Komischen
Oper unter der Direktion von Hans Gregor. Nach
dieser Aufführung in der Kurfürsten-Oper, so heißt
das neue Theater, gewinnt man die Ueberzeugung,
daß Berlin durch den Abgang Gregors nichts ver-
loren hat. Moris ist der schöpferische Regisseur,
719
Ueberschrift meines versengten, „ungeschriebenen“
Liebesbriefs, der an Sascha adressiert war nach
Sankt Petersburg Zitadelle: Himmlischer Königs-
sohn
Ich habe nun kein Qeheimnis mehr, mein Herz
kann keines bewahren, es steht im Amt der Welt.
Meere kommen und spülen seine Heimlichkeiten
ans Land, es erwacht mit dem Morgengrauen und
stirbt am Sonnenuntergang. Aber immer ist meirt
Herz von Seide, ich kann es zuschließen, wie ein
Etui. Weißt du ein Geheimnis oder frag Kurtchen,
das meiner Diskretion wert wäre?
Gedichte
Von Paul Zech
Qegen Morgen
Die niederen Häuser iängs des Kanals
schwimmen wie schwarze Särge daher.
Schlanker Turrn äugt iiber das Brückenwehr
und reckt den Giraffenhals
Vom Damm kriecht gelblicher Nebel zu Tai
und wogt und wiihlt wie ein Meer,
schroff und novemberleer
wandert der Bäume endlose Zahl.
Durch die Straßen, fröstelnd und abgedacht,
schrill schon eines Dampfhorns Gebeli
und der Wind erwacht
und schwätzt sich von Haus zu Haus . . .
Die Fenster sind alle hell
und horchen hinaus.
Ofe Hingesunketjen
Da nun ein breiter Silberstrom von Sternen
beruhigend sich in die Nacht ergießt
und der vermummte Wächter der Kavernen
die schweren Gittertore fest verschließt:
gehn dic ueräusche wie ein Wind im Fernen
und alle Räder stehn wie aufgespießt;
kaum daß noch aus den unterirdischen Zisternen
das Wasser sprudelnd in die Becken schießt.
Nachtnebel löscht die bunte Lampenliige;
verdrossen stehn die dunkien Straßenzüge
und gähnen wie ein aufgerissner Schlund.
Und all die Süßgeschwächten in den Betten
eratmen schon ein Traumgefühl und ketten
des Blutes Unruh von geliebtem Mund.
Wlnteriiches Heidedorf
Ueberm reifbesternten Fahrweg schleifen
arme Kinder dürres Fichtenholz.
Wo ein Sonnenblitz das Eis zerschmolz,
gähnen schwarzgefieckte Gräserstreifen.
Kleine Gärten frieren grauverlassen
und der Wind umkreist das dunkle Dorf;
schwerer Rauch von Kien und Bröckeltorf
schwelt Ln breiten Wolken durch die Gassen.
Irre Wandrer mit schneeweißen Haaren
strecken sich auf wurmzerstochnem Stroh . .
Alle Raben krächzen beutefroh:
Glocke, laß dein dumpfes Läutwerk fahren.
' \
Der träumerische Schaffner
Und immer mai wieder das alte Lied. Der
Völkischen Lied contre les Europeens. Man hieit
die These schon für abgeleiert: daß komplexe Zu-
stände voraneilender Seelen sich nicht mittelst
Schilderung primitiver Seelenzustände darstellen
iassen; oder daß die Frage nach dem Sinn des
Seins im Hirn eines gerechten Kammmachers an-
ders aussehe als im Hirn eines Hirnlichen; oder
daß, außer auf Scholle Misthaufen Gbirg, auch in
Metropolen (in Metropolen voll wilderer Kreu-
zungen der Kulturströrne und mit nervöserer At-
mosphäre) „Heimaten“ liegen — von Menschen.
die ihre Qual und Lust, erhöht (geformt), in Dich-
tungen wiederzufinden, den Wunsch und das be-
rechtigte Irrteresse haben . . . Abgeieiert, glaubte
man ... Da naht Herr Jakob Schaffner, von
Basel her, und richtet (nicht ohne zuvor an einem
elsässiscben Roman die „innige Strenge des Ge-
fiihls“ sowie die „Treue des Ausdrucks und des
Lokaltones“ geriihmt zu haben; wobei kraft der
Bemerkung, daß hier „seit den iTagen des Se-
bastian Brant das erstemal ein Eisässer Dichter
wieder in der deutschen Literatur auftritt“, Rene
Schickele totgeschwiegen wird; dafür aber der
versöhnende Satz fälit: „Das Kathrinel, das Wi-
beie, eine Gestalt von ernsthafter Schwermut, ist
zugleich von einer mannhaft lächelnden Erkenntnis
umwoben“) .... richtet, sage ich, der Schwyzer
Schaffner an Robert Musil, ja gar an Heinrich
Mann, mild-giftig verwarnende Worte eines Groß-
onkels. An ihrer Zerebralität nimrnt er Aergernis.
„Es geht nicht anders“, bedauert er, „entweder
muß man sich zu wissenschaftlichen oder man
muß sich zur künstlerischen Darstellung entschlie-
ßeri“; als ob jemand, der das Besondre neuer,
geistiger, städtischer, junger Menschenart: die
Seelenseite des Problembeschnüffelns, den GefiihlS-
ton der Reflexion, das Denken als Erlebnis, ge-
staltet (etwa wie Musil im „Törless“ das Kant-
Erlebnis), darum die Probleme iösen, die Denkin-
halte sachlich erledigen wollte; als ob ein Kiinstler
„wissenschaftlich“ verführe, wenn er verzwicktere
Vorgänge (also die neueren, reizenderen, wichti-
geren) statt durch sentimentalen Schmuß durch
präzise Analytik bewäJtigt. Aber aüerdings: Herr
Schaffner ist gegen das Verzwickte; fiir ihn gibt's
verbotne Stoffe; er haßt das „Gedanken-Ge-
spensterwesen“ und weigert sich, als „außenstehen-
der Leser“ „Bescheid“ zu „wissen“. Er ist er-
haben über „zuviel Inteiiekt“, und seine „Mann-
heit“ weist es von sich. „iu die unmaßgebliche
Frage der Sechzehnjährigen“ hinabzusteigen; das
wäre (o dreckiger HochmutU!) „zu viel Ehre für
eine Episode“. Dennoch ruft er denen, deren
„Bewußtheit immer das erste Symptom von Neu-
rasthenie“ ist (man beachte die Rancune aller
Behäbig-Mediokren: das Enorme als das Kranke
auszuschrein, das Plus zum Minus zu fälschen!),
„Werdet wie die Kindlein!“ zu. Er möchte, daß die
Feineren sich auf sein Niveau zuriickschrauben.
Was ein durchtriebener Naivbock! Ihm „weiß“
dieser Heinrich Mann „zu viei“; „weiß zu genau“;
daher sind ihm dessen Novellen zwar „achtbar“,
„aber nicht erquicklich“ (— o altes Lied!). Weil
er sich persönlich sehr anstrengen muß, um die
Höhe der Mannischen Seelenlandschaft zu erkiirn-
men, wirft der Mann vor: „er forciert sich“ —
ihm so den eignen Talentdefekt unbedenklich in
den Charakter schiebend. „Man sieht fortwäh-
rend, wies gedreht ist“ — diesen schon stinken-
den Gemeinplatz gegen verlogne Stiliseurs unter-
steht sich der Halbälpler gegen Heinrich Mann zu
benutzen. Dann aber rät er ihm, in freundlicher
Mahnung: er solle „jetzt einmal versuchen, unter
seinen Palmen zu träumen“; denn „das Gltick ist
gem bei den Träumern“; „Boccaccios und (aha!)
Kellers Novellen sind erträumt, nicht errafft“.
Hört’s! So träumerisch krähn die Enkelsöhne des
beriihmten Stadtschreibers von Zürich . . . Herr
Jakob Schaffner ist ein schwyzer Dichter; bei
schöngeistigen Pastorenwitwen und jüngeren fü-
dischen Selbsthassern mächtig beliebt; der die Ge-
schicke mittelbegabter Handwerksherzen breiten
Gemütes und nicht ohne deutsch-ulkige Realien
fcesingt, sich als Nachfolger Homers und Goethes
fühlend. Hier begeht er das, wofür der Verfasser
des „Willens zur Macht“ die unverwüstliche For-
mei gegossen hat: er „nirnmt die Partei der Idi-
oten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus“
. . . Diese Keiler-Assel ist eine von vielen; man
darf nicht einfach sie ruhig sich austräumen lassen.
Sooft der Intellekt die Simplizität verlacht, zeiht
der Masochismus ihn eines Mangels an „Tiefe“;
aber die Simplizität darf alleweil die geniale
Geistigkeit ungestraft abkanzeln. Daß eines Schaff-
ners Entgieisung noch kein Eisenbahnunglück be-
deutet, befreit die verantwortliche Verwaltung
nicht von der Pflicht, den Träumer abzusetzen.
Kurt HlUer
Theater und Varietö
Die neue Oper
Am Zoologischen Garten hat man ein neues
Theater eröffnet. Trotzdem es den Architekten
Adolf Loos gibt, der etwas ganz Neues ge-
schaffen hätte, wurde wieder eine der üblichen
Firmen mit dem Bau „betraut“. Wie die Zeitungen
berichten, geniigt das Haus den strengsten Vor-
schriften der Bau- und Feuerpolizei. Ihnen dürfte
es aber auch allein genügen. So etwas von Ver-
stiegenheit der Treppen und Verschrobenheit des
Grundrisses ist in Berlin noch nicht dagewesen.
Riesige Portale und große Kuppelfenster führen auf
Korridore von berliner Hinterwohnungen. Die Bau-
rneister haben offenbar vergessen, zwischen der
Fassade und dem notwendigen „Zubehör“ das Haus
einzufügen. Irrt man über die Treppen, so gelangt
man vielleicht auch in den Theaterraum. Er ist auf
Freundlichkeit gestimmt, was man bekanntlich am
besten durch goidornamentierte Lyren erreicht.
Durch sehr dünne Armlehnen an den Stühlen ist
Bequetnlichkeit angedeutet. Der Vorhang zeigt ein
unersehen schönes Bild. Denn nicht Apotl macht
vor den Musen Musik, sondern ein verhältnismäßig
gut angezogener junger Mann der besseren Ge-
sellschaft spieit vor scinen Damen die Violine. Ich
vermute, daß die Idee hierzu von der Firma Hugo
Baruch u. Co. stammt, die auch die „kostümelle“
Ausstattung lieferte. Auch das Wort „kostümell“
dürfte eine Baruchiade sein. Ich sah die Oper Phile-
mon und Baucis von Charles Gounod. Sie ist von
einer unerfreulichen langen Weile. Im ersten Akt
ländlich (man bläst die Oboe) mit schenkfreudigen
Göttern. Im zweiten Akt bacchanalisch, die Musik
mit einem Temperament in der Richtung zum Admi-
ralspalast. Im dritten Akt Liebe und Weltanschau-
ung, durch Phrasen und Koloraturen ausgedrückt.
Herr Goutiod ist wirklich ein sehr trauriger Epi-
gone, dem man die ewige Ruhe gönnen soll. Nicht,
weil er den Faust veropert hat, sondern weil er
keine Gestaltungskraft und keine musikalische Be-
gabung besitzt. Die Kunst der Musik besteht doch
wohl nicht • darin, abgeleierte Formeln äiterer
Meister anders und gelegentlich auch riett zu in-
strumentieren. Der Text kann an Diirftigkeit des
Inhalts, die Uebersetzung an Clichereichtum nicht
einmal durch Herrn Lothar unterboten werden.
Man würde über die Angelegenheit an dieser
Stelle nicht zu schreiben brauchen, wenn nicht der
Direktor des Theaters Maximilian Moris
hieße. Moris war früher Regisseur der Komischen
Oper unter der Direktion von Hans Gregor. Nach
dieser Aufführung in der Kurfürsten-Oper, so heißt
das neue Theater, gewinnt man die Ueberzeugung,
daß Berlin durch den Abgang Gregors nichts ver-
loren hat. Moris ist der schöpferische Regisseur,
719