Man kann aus der Namenliste der beiden
Broschüren bequem feststellen, wer von den Ma-
lern zur denkenden und wer zur m a 1 e n-
d e n Gruppe gehört.
P/rofessor von Stuck findet den Artikel von
Vinnen „ausgezeichnet, ich stimme Ihnen voll-
kommen bei und wüsste nicht, was ich Ihren
Worten noch hinzufügen sollte“. Der Ritter
von Stuck hat Recht. Seiner Zustimmung ist
nichts hinzuzufügen.
Thomas Theodor Heine begrüsstdieFlugschrift
des Herrn Vinnen mit „riesiger Freude“. Die
Kunst seine Malerei nicht. Der Simplizissimus
findet den Anschluss an die Fliegenden Blätter.
Herr Professor von Volkmann kann nur
„kurz und bündig“ erklären, dass er Herrn Vin-
nen „voll und ganz“ zustimmt.
Herr Professor Fritz Erler „weist auf den
E r n s t der Lage hin“. Er findet, dass die hei-
mische Produktion verkümmert. Er sollte nicht
so auf das eigene Beispiel hinweisen. Er erin-
nert an eine Ausstellung japanischer Maleir, „die
ihr heimisches Künstlerblut derma-
s s e n verleugneten, dass ihre Arbeiten toten
farblosen Larven glichen, aus denen der bunte
Schmetterling Volksseele längst entwichen.“
Er schimpft auf Julius Meier-Gräfe, alle mässi-
gen Maler tun das.
Herr Freiher von Ostini schliesst sich „be-
geistert“ Herrn Vinnen an, er schreibt von den
pathologisch s t e n Bildern aus van Goghs Ir-
renhauszeit, von den weggestellten Experimenten
aus dem Nachlass von Cezanne, von dem „drü-
ben“ längst nicht mehr ernst genommenen Ma-
tisse. Er beklagt das deutsche Geld, das „der
pariser Kunstgaunerei in den Rachen geworfen
wird“. „Er findet es verdammt leicht, wie van
Gogh, Signac und Cezanne zu malen. Aberver-
dammt schwer, mit Böcklinscher Tiefe in die
Natui zu sehen. Er findet es hoch' an der Zeit,
sich dagegen zu wehren, dass die Mittel, die
der deutschen Kunst auf die Strümpfe helfen
könnten, in die Taschen internationaler Kunst-
jobber fliessen.“ Die Kunst, die gehen und ste-
hen kann, kommt schliesslich auch ohne Strümp-
fe aus.
Herr Fritz Stahl b e k r ä f t i g t die Anschau-
ungen des Herrn Vinnen. Man hat nie daran
gezweifelt.
* * *
Und das deutsche Volk, um dessen Seele so
heftig gekämpft wird, sitzt indessen ruhig bei
Aschinger oder Kempinski, es fällt ihm garnicht
ein, sich aufzuregen. Wenn es schon mal eine
Mark für einen Ausstellungsbesuch ausgibt, so
lacht es sich für sein Eintrittsgeld voll. Und
da das Lachen sehr gesund ist, kommt es reich-
lich auf seine Kosten und zu neuem gesegneten
Appetit. Die deutsjchen Kritiker zahlen keine
Mark und leben von den faulen Witzen über
Kiinstler. Die Vinnen sind von ihr stets wür-
dig und ernsthaft behandelt worden. Warum
wird also protestiert? Die Herren Protestler sol-
len sich doch ja nicht einreden, dass das deut-
sche Volk überhaupt Bilder kauft, weder geträum-
te noch gemalte. Und das deutsche Volk hat
Recht. Denn die Gedanken und die Tiefe und
das Gemüt, das alles findet es in seiner Z e i-
t u n g. Warum soll es sich um die F a r b e
kümmern, da es doch nicht einmal die K u n s t-
m a 1 e r tun.
Trust
Zur Entwicklungsge -
schichte der modernen
Malerei
Von Wilhelm Worringer
Die Vinnensche Broschüre ist mir psycholo-
gisch wohl verständlich, und ich zögere nicht,
sie als eine symptomatische Erscheinung zu re-
spektieren, ja ich begrüsse sie sogar als ein zu
rechter Zeit ausgesprochenes Stichwort zur ern-
sten prinzipiellen Au^inandersetzung. Die Krist,
in der wir mit unseren Kunstvorstellungen und
Kunsterwartungen stehen, kann nicht vertuscht
’ werden: sie muss zur offenen und entschiede-
nen Aussprache führen.
Von diesem Gesichtspunkte aus muss ich es
allerdings bedauern, dass die prinzipiellen Fra-
gen in jener Tendenzschrift kaum ernsthait be-
handelt, sondern nur hier und da flüchtig ge-
streift werden, um dann gleich allgemeinen Re-
densarten und unbeweisbaren Gefühlspostulaten
Platz zu machen. So ist das Hauptargument,
mit dem die angreifende Partei auf das Publi-
kum einzuwirken sucht, nicht irgend eine sach-
lich disku'ierbare Widerlegung der neuen Kunst-
prinzipien, sondern die in allen Tonarten wie-
derholte skrupellose Verdächtigung jener Persön-
lichkeiten, die auf der anderen Seite stehen. De-
ren Ueberzeugungsehrlichkeit und Urteilsfähigkeit
wird mit all den billigen Mitteln einer oft bis
zurn Mitleid gehenden überlegenen Ironie bloss-
gestellt. Man macht sich damit derselben Irre-
führung des Publikums schuldig, die man den
Gegnern mit einer so gewaltigen moralischen
Entrüstung vorwirft. Denn es geht doch wohl
nicht an, dem breiten Publikum, das in dieser
Beziehung schon aus natürlicher Trägheit und
aus Selbsterhaltupgstrieb leichtgfäubig ist, diei
wilikommene Ueberzeugung beizubringen, es
handle sich bei der angegriffenen Bewegung nur
um ein sinnloses Spiel impotenter, sensations-
lüsterner Künstler, urteilsloser, der Modesugge-
stion unterlegener Kunstschreiber und abgefeim-
ter Kunsthändler, die unter verhaltenen Lach-
ausbrüchen den Profit aus dieser Komödie zie-
hen.
Ich bestreite iibrigens nicht, dass sich Ver-
treter dieser drei Kategorien auch in diese neue
Entwicklungsbewegung der Kunst eingeschlichen
haben. Das ist das unvermeidliche Schicksal je-
der Entwicklungsbewegung, und darum ist es
kaum zu entschuldigen, wenn man ein neues
Wollen nur mit der einen Tatsache zu diskre-
ditieren sucht, dass belanglose Mitläufer es lä-
cherlich machen.
Denn neben diesen unverantwortlichen Mit-
läufern stehen ernste suchende Künstler, die bei
allem sachlichen Selbstbewusstsein persönlich vol-
ler Bescheidenheit sind, stehen ernste Theoreti-
ker, die bei aller produktiven Parteinahme doch
das historische Bewusstsein und damit die kriti-
sche Besonnenheit wahren, stehen schliesslich
Kunsthändler, die bei aller selbstverständlichen
geschäftlichen Riicksichtnahme doch mit innerer
Ueberzeugung und innerem Verständnis eine Be-
wegung fördern, bei der das Risiko des Gewin-
nes ein viel grösseres ist als bei dem Vertrieb
der ganz unproblematischen und anerkannten
Publikumsware.
Ich habe hier nur das Recht, für die zwei-
te Kategorie einzutreten, deren Vertreter man zu
den eigentlichen Prügelknaben der verfahrenen
Situation zu machen sucht und die man dem-
entsprechend abkanzelt.
Wenn ich Vinnen recht verstehe, sind es
nicht die grossen Klassiker des Impressionismus,
wie Manet, Monet und Renoir, vor deren Ein-
flusv. er die deutsche Kunst bewahren will, son-
dern die sogenannten Jungpariser, die von Ce-
zanne, van Gogh und Matisse ausgehen, um
eine neue Form der künstlerischen Gestaltung
zu finden.
Was man uns nun vorwirft, ist, dass wir
diesen neuen Bestrebungen, die naturgemäss vor-
läufig noch Experimentalcharakter tragen, ein Ver-
stehenwollen entgegenbringen, das auch von dem
unverständlich und absurd Scheinenden und Ex-
tremen nicht zurückschreckt. Diesen Willen zum
Verständnis können wir verantworten. Mag für
einige Snobs das Crede quia absurclum entschei-
dend sein, wir andern haben das Bewusstsein,
dass es der unbeirrbare entwickelungsgeschicht-
liche Instinkt ist, der uns hier leitet. Darin liegt
das Entscheidende. Wo das unvorbereitete und
entwicklungsträge Publikum nur Ausgeburten sub-
jektiver Willkür und blöder Sensationsmache sieht
und sehen muss, empfinden wir das Entwick-
lungsgeschichtlich-Notwendige, sehen wir vor al-
lem eine Einheitlichkeit der Bewegung, die et-
was Elementares an sich hat und vor der alles
Subjektiv-Scheinende verschwindet. Ja, ich giau-
be nicht fehlzugehen, wenn ich die tiefste Wur-
zel dieses neuen kiinstlerischen Wollens gerade
in der Ueberwindung des Subjektiv-Willkürlichen
und nur Individuell-Bedingten sehe. Mit diesem
unverkennbaren Drang zum Objektiven, zur zwin-
genden Vereinfachung der Form, zu einer ele-
mentaren Vorurteilslosigkeit der künstlerischen
Wiedergabe, hängt jener Grundcharakter der
neuen Kunst zusammen, den man als sinnlose
Primitivitäts- und Kindlichkeitskomödie vor dem
erwachsenen Europa lächerlich machen zu können
glaubt.
Aber diese Wirkung wird nur bei denen
erreicht werden, die die primitive Kunst noch
nicht verstehen gelernt haben und in ihr nur
ein unentwickeltes Können sehen, über das man
mit der Ueberlegenheit des Erwachsenen lächelt.
Dieser Erwachsenenhochmut des euro-
päischen Kulturmenschen aber beginnt heute wan-
kend zu werden und der Einsicht in die ele-
mentare Grosvartigkeit primitiver Lebens- und
Kunstäusserung zu weichen. Aus derselben Not-
wendigkeit heraus, aus der wir den jungpariser
Synthetisten und Expressionisten ein williges Ver-
stehen entgegenbringen, ist in uns ein neues Or-
gan lebendig geworden für die primitive Kunst.
Wie selbstverständlich erscheint es uns heute,
dass der Stilcharakter dieser primitiven Kunst
nicht durch ein unentwickeltes Können, sondem
durch ein andergerichtetes Wollen bedingt ist,
durch ein Wollen, das auf grossen elementaren
Voraussetzungen beruht, wie wir mit unserem
heutigen wohltemperierten Lebengefühl es kaum
ausdenken konnen. Wir fühlen nur dunkel, dass
die groteske Unnatürlichkeit und die zwingende
Einfachheit dieser primitiven Kunst (zwingend
allerdings nur für die, die den Zwang einer
Formung nicht mit dem Zwang der Illusions-
wirkung identifizieren) von einem stärkeren Span-
nungsgehalt des künstlerischen Ausdruckswollens
herrühren, und wir lernen erkennen, dass es
nicht nur ein gradueller, sondern ein genereller
Unterschied ist, der zwischen unserem und dem
primitiven Kunstschaffen liegt. Ein genereller
Unterschied, der darin besteht, dass man den
Wirkungsertrag, den man von der Kunst erwar-
tete, nicht wie heute in der Auslösung sinn-
licher oder seelischer Luxusgefühle, sondem in
der Auslösung elementarer Nolwendigkeitsemp-
findungen sah'. Eine Beschwörung der Vieldeu-
Broschüren bequem feststellen, wer von den Ma-
lern zur denkenden und wer zur m a 1 e n-
d e n Gruppe gehört.
P/rofessor von Stuck findet den Artikel von
Vinnen „ausgezeichnet, ich stimme Ihnen voll-
kommen bei und wüsste nicht, was ich Ihren
Worten noch hinzufügen sollte“. Der Ritter
von Stuck hat Recht. Seiner Zustimmung ist
nichts hinzuzufügen.
Thomas Theodor Heine begrüsstdieFlugschrift
des Herrn Vinnen mit „riesiger Freude“. Die
Kunst seine Malerei nicht. Der Simplizissimus
findet den Anschluss an die Fliegenden Blätter.
Herr Professor von Volkmann kann nur
„kurz und bündig“ erklären, dass er Herrn Vin-
nen „voll und ganz“ zustimmt.
Herr Professor Fritz Erler „weist auf den
E r n s t der Lage hin“. Er findet, dass die hei-
mische Produktion verkümmert. Er sollte nicht
so auf das eigene Beispiel hinweisen. Er erin-
nert an eine Ausstellung japanischer Maleir, „die
ihr heimisches Künstlerblut derma-
s s e n verleugneten, dass ihre Arbeiten toten
farblosen Larven glichen, aus denen der bunte
Schmetterling Volksseele längst entwichen.“
Er schimpft auf Julius Meier-Gräfe, alle mässi-
gen Maler tun das.
Herr Freiher von Ostini schliesst sich „be-
geistert“ Herrn Vinnen an, er schreibt von den
pathologisch s t e n Bildern aus van Goghs Ir-
renhauszeit, von den weggestellten Experimenten
aus dem Nachlass von Cezanne, von dem „drü-
ben“ längst nicht mehr ernst genommenen Ma-
tisse. Er beklagt das deutsche Geld, das „der
pariser Kunstgaunerei in den Rachen geworfen
wird“. „Er findet es verdammt leicht, wie van
Gogh, Signac und Cezanne zu malen. Aberver-
dammt schwer, mit Böcklinscher Tiefe in die
Natui zu sehen. Er findet es hoch' an der Zeit,
sich dagegen zu wehren, dass die Mittel, die
der deutschen Kunst auf die Strümpfe helfen
könnten, in die Taschen internationaler Kunst-
jobber fliessen.“ Die Kunst, die gehen und ste-
hen kann, kommt schliesslich auch ohne Strümp-
fe aus.
Herr Fritz Stahl b e k r ä f t i g t die Anschau-
ungen des Herrn Vinnen. Man hat nie daran
gezweifelt.
* * *
Und das deutsche Volk, um dessen Seele so
heftig gekämpft wird, sitzt indessen ruhig bei
Aschinger oder Kempinski, es fällt ihm garnicht
ein, sich aufzuregen. Wenn es schon mal eine
Mark für einen Ausstellungsbesuch ausgibt, so
lacht es sich für sein Eintrittsgeld voll. Und
da das Lachen sehr gesund ist, kommt es reich-
lich auf seine Kosten und zu neuem gesegneten
Appetit. Die deutsjchen Kritiker zahlen keine
Mark und leben von den faulen Witzen über
Kiinstler. Die Vinnen sind von ihr stets wür-
dig und ernsthaft behandelt worden. Warum
wird also protestiert? Die Herren Protestler sol-
len sich doch ja nicht einreden, dass das deut-
sche Volk überhaupt Bilder kauft, weder geträum-
te noch gemalte. Und das deutsche Volk hat
Recht. Denn die Gedanken und die Tiefe und
das Gemüt, das alles findet es in seiner Z e i-
t u n g. Warum soll es sich um die F a r b e
kümmern, da es doch nicht einmal die K u n s t-
m a 1 e r tun.
Trust
Zur Entwicklungsge -
schichte der modernen
Malerei
Von Wilhelm Worringer
Die Vinnensche Broschüre ist mir psycholo-
gisch wohl verständlich, und ich zögere nicht,
sie als eine symptomatische Erscheinung zu re-
spektieren, ja ich begrüsse sie sogar als ein zu
rechter Zeit ausgesprochenes Stichwort zur ern-
sten prinzipiellen Au^inandersetzung. Die Krist,
in der wir mit unseren Kunstvorstellungen und
Kunsterwartungen stehen, kann nicht vertuscht
’ werden: sie muss zur offenen und entschiede-
nen Aussprache führen.
Von diesem Gesichtspunkte aus muss ich es
allerdings bedauern, dass die prinzipiellen Fra-
gen in jener Tendenzschrift kaum ernsthait be-
handelt, sondern nur hier und da flüchtig ge-
streift werden, um dann gleich allgemeinen Re-
densarten und unbeweisbaren Gefühlspostulaten
Platz zu machen. So ist das Hauptargument,
mit dem die angreifende Partei auf das Publi-
kum einzuwirken sucht, nicht irgend eine sach-
lich disku'ierbare Widerlegung der neuen Kunst-
prinzipien, sondern die in allen Tonarten wie-
derholte skrupellose Verdächtigung jener Persön-
lichkeiten, die auf der anderen Seite stehen. De-
ren Ueberzeugungsehrlichkeit und Urteilsfähigkeit
wird mit all den billigen Mitteln einer oft bis
zurn Mitleid gehenden überlegenen Ironie bloss-
gestellt. Man macht sich damit derselben Irre-
führung des Publikums schuldig, die man den
Gegnern mit einer so gewaltigen moralischen
Entrüstung vorwirft. Denn es geht doch wohl
nicht an, dem breiten Publikum, das in dieser
Beziehung schon aus natürlicher Trägheit und
aus Selbsterhaltupgstrieb leichtgfäubig ist, diei
wilikommene Ueberzeugung beizubringen, es
handle sich bei der angegriffenen Bewegung nur
um ein sinnloses Spiel impotenter, sensations-
lüsterner Künstler, urteilsloser, der Modesugge-
stion unterlegener Kunstschreiber und abgefeim-
ter Kunsthändler, die unter verhaltenen Lach-
ausbrüchen den Profit aus dieser Komödie zie-
hen.
Ich bestreite iibrigens nicht, dass sich Ver-
treter dieser drei Kategorien auch in diese neue
Entwicklungsbewegung der Kunst eingeschlichen
haben. Das ist das unvermeidliche Schicksal je-
der Entwicklungsbewegung, und darum ist es
kaum zu entschuldigen, wenn man ein neues
Wollen nur mit der einen Tatsache zu diskre-
ditieren sucht, dass belanglose Mitläufer es lä-
cherlich machen.
Denn neben diesen unverantwortlichen Mit-
läufern stehen ernste suchende Künstler, die bei
allem sachlichen Selbstbewusstsein persönlich vol-
ler Bescheidenheit sind, stehen ernste Theoreti-
ker, die bei aller produktiven Parteinahme doch
das historische Bewusstsein und damit die kriti-
sche Besonnenheit wahren, stehen schliesslich
Kunsthändler, die bei aller selbstverständlichen
geschäftlichen Riicksichtnahme doch mit innerer
Ueberzeugung und innerem Verständnis eine Be-
wegung fördern, bei der das Risiko des Gewin-
nes ein viel grösseres ist als bei dem Vertrieb
der ganz unproblematischen und anerkannten
Publikumsware.
Ich habe hier nur das Recht, für die zwei-
te Kategorie einzutreten, deren Vertreter man zu
den eigentlichen Prügelknaben der verfahrenen
Situation zu machen sucht und die man dem-
entsprechend abkanzelt.
Wenn ich Vinnen recht verstehe, sind es
nicht die grossen Klassiker des Impressionismus,
wie Manet, Monet und Renoir, vor deren Ein-
flusv. er die deutsche Kunst bewahren will, son-
dern die sogenannten Jungpariser, die von Ce-
zanne, van Gogh und Matisse ausgehen, um
eine neue Form der künstlerischen Gestaltung
zu finden.
Was man uns nun vorwirft, ist, dass wir
diesen neuen Bestrebungen, die naturgemäss vor-
läufig noch Experimentalcharakter tragen, ein Ver-
stehenwollen entgegenbringen, das auch von dem
unverständlich und absurd Scheinenden und Ex-
tremen nicht zurückschreckt. Diesen Willen zum
Verständnis können wir verantworten. Mag für
einige Snobs das Crede quia absurclum entschei-
dend sein, wir andern haben das Bewusstsein,
dass es der unbeirrbare entwickelungsgeschicht-
liche Instinkt ist, der uns hier leitet. Darin liegt
das Entscheidende. Wo das unvorbereitete und
entwicklungsträge Publikum nur Ausgeburten sub-
jektiver Willkür und blöder Sensationsmache sieht
und sehen muss, empfinden wir das Entwick-
lungsgeschichtlich-Notwendige, sehen wir vor al-
lem eine Einheitlichkeit der Bewegung, die et-
was Elementares an sich hat und vor der alles
Subjektiv-Scheinende verschwindet. Ja, ich giau-
be nicht fehlzugehen, wenn ich die tiefste Wur-
zel dieses neuen kiinstlerischen Wollens gerade
in der Ueberwindung des Subjektiv-Willkürlichen
und nur Individuell-Bedingten sehe. Mit diesem
unverkennbaren Drang zum Objektiven, zur zwin-
genden Vereinfachung der Form, zu einer ele-
mentaren Vorurteilslosigkeit der künstlerischen
Wiedergabe, hängt jener Grundcharakter der
neuen Kunst zusammen, den man als sinnlose
Primitivitäts- und Kindlichkeitskomödie vor dem
erwachsenen Europa lächerlich machen zu können
glaubt.
Aber diese Wirkung wird nur bei denen
erreicht werden, die die primitive Kunst noch
nicht verstehen gelernt haben und in ihr nur
ein unentwickeltes Können sehen, über das man
mit der Ueberlegenheit des Erwachsenen lächelt.
Dieser Erwachsenenhochmut des euro-
päischen Kulturmenschen aber beginnt heute wan-
kend zu werden und der Einsicht in die ele-
mentare Grosvartigkeit primitiver Lebens- und
Kunstäusserung zu weichen. Aus derselben Not-
wendigkeit heraus, aus der wir den jungpariser
Synthetisten und Expressionisten ein williges Ver-
stehen entgegenbringen, ist in uns ein neues Or-
gan lebendig geworden für die primitive Kunst.
Wie selbstverständlich erscheint es uns heute,
dass der Stilcharakter dieser primitiven Kunst
nicht durch ein unentwickeltes Können, sondem
durch ein andergerichtetes Wollen bedingt ist,
durch ein Wollen, das auf grossen elementaren
Voraussetzungen beruht, wie wir mit unserem
heutigen wohltemperierten Lebengefühl es kaum
ausdenken konnen. Wir fühlen nur dunkel, dass
die groteske Unnatürlichkeit und die zwingende
Einfachheit dieser primitiven Kunst (zwingend
allerdings nur für die, die den Zwang einer
Formung nicht mit dem Zwang der Illusions-
wirkung identifizieren) von einem stärkeren Span-
nungsgehalt des künstlerischen Ausdruckswollens
herrühren, und wir lernen erkennen, dass es
nicht nur ein gradueller, sondern ein genereller
Unterschied ist, der zwischen unserem und dem
primitiven Kunstschaffen liegt. Ein genereller
Unterschied, der darin besteht, dass man den
Wirkungsertrag, den man von der Kunst erwar-
tete, nicht wie heute in der Auslösung sinn-
licher oder seelischer Luxusgefühle, sondem in
der Auslösung elementarer Nolwendigkeitsemp-
findungen sah'. Eine Beschwörung der Vieldeu-